Warum Antifa und linksautoritäre Gruppen nicht zusammenpassen (3): Demokratie & Gewalt

Artikelserie: Warum Antifa und linksautoritäre Gruppen nicht zusammenpassen
Teil 3: Demokratie & Gewalt
Autoritäre Linke, Demokratie & Gewalt, oder:
Der Umgang mit anderen Meinungen
Autoritäre linke Gruppen beziehen sich primär auf den russischen Revolutionär Lenin, raten ihrem jugendlichen Nachwuchs die Lektüre seiner Schriften an. Ein beliebtes Einsteiger*innenwerk ist die 1918 erschienene Broschüre „Staat und Revolution“. Beim „Antifa“-Fußballturnier des Roten Aufbaus Burg im Juli lag sie etwa auf einem Infotisch aus.
In dem Werk beklagt sich Lenin wortgewaltig über den Verrat, den insbesondere sozialdemokratische, aber auch andere Strömungen der Linken an Marx und Engels begangen hätten. Um diesen Verrat nachzuweisen, fährt Lenin in der Schrift Zitate der beiden Denker auf, insbesondere mit Blick auf das Verhältnis zum Staat und dem taktischen Umgang mit ihm in einer revolutionären Situation.
Auf diese Weise inszeniert er sich als Wahrer einer vermeintlich reinen Lehre, die allein deshalb, weil sie rein sei, richtig und erfolgversprechend sein soll.
Dafür, dass andere Linke oder Sozialdemokrat*innen andere Auffassungen haben, hat Lenin indes nicht wirklich eine Theorie. Bestenfalls wird ihnen in der vor Polemik triefenden Schrift unterstellt, die reine Lehre „vergessen“ zu haben. Eigentlich aber handelt es sich, folgt man den Ausführungen, um Verschweigen, bewusste Fehlinterpretation, Lügen und Verrat – nicht darum, dass sich diese Strömungen auch aus anderen Quellen und Denker*innen speisen und dabei auf mal mehr, mal weniger kluge Ideen gekommen sind. Opfer dieses Verrats indes sei die Arbeiter*innenklasse. Das Manöver, das Lenin vor über 100 Jahren aufführte, zieht bis heute:
Wer sich durch die Broschüre gelesen hat, kann sich in dem Gefühl wähnen, privilegierten Zugriff auf eine von der vermeintlich dummen Mehrheit der Linken verratene Lehre zu haben. Lenin und autoritäre Linke nach ihm bieten so eine Opfererzählung an.
Anhänger*innen der autoritären Linken schlagen sich auf die Seite dieser Opfergruppe und steigen in den Kreis einer geistigen „Elite“ auf. Es ist eine ungemeine Aufwertung des Selbstwertgefühls, gerade für Jugendliche, die in Kapitalismus und Patriarchat zumeist nicht viel zu lachen haben. Sie geht einher mit einer Identität, aus der heraus jede Meinungsabweichung, jede soziale Irritation erklärbar wird: Die anderen sind Verräter*innen.
Nun ist es nicht ganz aus der Luft gegriffen, von Verrat zu sprechen, wenn man zum Beispiel die brutale Niederschlagung der Revolution in Deutschland durch die Sozialdemokratie und die Ermordung von Luxemburg und Liebknecht bedenkt.
Allein: Luxemburg hatte Lenin und die bolschewistische Revolution in den Jahren zuvor ebenfalls offen und scharf kritisiert. War also auch Luxemburg eine Verräterin? Ihr berühmtes Diktum, Freiheit sei immer die Freiheit des Andersdenkenden, war gerade gegen Lenin und den Umgang der Bolschewiki mit Opposition gerichtet. Dieses heute berühmte Zitat wurde in der Einflusssphäre der Sowjetunion bis zum Ende des Realsozialismus systematisch verschwiegen. Währenddessen wurde der Revolutionärin jährlich bei der Luxemburg-Liebknecht-Demonstration in Berlin durch die SED-Parteielite „gedacht“ – sie wurde instrumentalisiert.
Autoritäre Linke mobilisieren bis heute zu diesem Ritual, das Loyalitätsgefühle zu einer längst verblassten Zeit und ihren Autoritäten herstellen soll. Tradition indes, und zwar blutige, hatte aber eben auch die Jagd auf Verräter*innen in den realsozialistischen Diktaturen. Und hat es bis heute in autoritär-linken Kreisen.
In „Staat und Revolution“ betont Lenin gegenüber sozialdemokratischer Abweichung von der Linie der Bolschewiki, dass sich die Lehren von Marx und Engels ja gerade aus der von den ihnen selbst gemachten Erfahrung mit Revolutionen (Revolution von 1848, Pariser Kommune) gespeist haben. Das Scheitern dieser Revolutionen hatte die Denker zu einer Veränderung in ihrer Lehre inspiriert. Jetzt sollte der bürgerliche Staat samt Befehlsgewalt über seinen Apparat (Armee, Polizei, Bürokratie) in der Revolution nicht mehr erobert, sondern sofort zerschlagen werden, zitiert Lenin.
Der Staat war einfach zu gefährlich für die Revolution, hatte zu viel Eigendynamik und Beharrungskraft. Bekanntlich ließ sich die Sozialdemokratie, insbesondere in Deutschland, nicht von Lenins berechtigten Zurufen beeindrucken, setzte fatalerweise auf das Bündnis mit den Kräften des Alten. Und nutzte ihn zur Zerschlagung der kommunistischen Aufständler*innen.
Klar, dass da in der Sowjetunion alles ganz anders lief. Oder? Mitnichten. Auch in der Sowjetunion – und zwar nach Erscheinen von Lenins Broschüre – wurde der staatliche Machtapparat nicht zerschlagen. Die Bolschewiki erhielten und restaurierten ihn und setzten seinen Gewaltapparat zum Zweck der Verteidigung der Revolution gegen die „Weißen“ ein, konterrevolutionäre Truppen. So blieb nicht zuletzt auch das Heer an Bürokrat*innen erhalten, deren Gefolgschaft sich schließlich Stalin sichern konnte.
Mit der Bürokratie als Machtbasis setzte sich „der Stählerne“ nach Lenins Tod durch – und an die Spitze der Sowjetunion. Das angekündigte, allmähliche Absterben des Staates war abgeblasen. Aus der Diktatur des Proletariats – die laut Lenin für die Arbeiter*innen Demokratie, für die Bourgeoisie aber Diktatur sein sollte – wurde wenig überraschend eine reine Diktatur mit Führerkult.
Ganz ohne Demokratie, ohne das Recht auf Gründung von Parteien, wie es Lenin noch versprochen hatte. Statt den Kapitalismus abzuschaffen, trat der Staat nun über Jahrzehnte als oberster Kapitalist, Ausbeuter und Unterdrücker der Massen auf.
Nimmt man Lenin ernst und folgt Marx und Engels darin, dass aus Revolutionen und ihren Fehlern im Umgang mit dem Staat zu lernen ist, bleibt eigentlich nur, sich von der Glorifizierung der Sowjetunion so fern wie möglich zu halten. Und von denen, die genau das tun. Die „Proletarische Jugend Magdeburg“ aber gab zum Beispiel auf ihrem kürzlich gelöschten Instagram-Account die Losung aus:
„Das Verhalten zum Sowjetstaat ist der Prüfstein dafür, ob jemand ein wirklicher Revolutionär ist oder nicht“. Hier wird sich offen zu Stalin und zur stalinistischen Gewalt bekannt. Ein Post zeigte eine Reihe der Köpfe von Marx, Engels, Lenin, Stalin und Mao, dazu die Parole „Hammer und Sichel über Deutschland“.
Wer in linken Kreisen die Verwendung von Hammer & Sichel als Symbol unfassbarer Massengewalt kritisiert, handelt sich allerdings von autoritären Linken gleich den Vorwurf ein, „Antikommunismus“ zu betreiben.
Es ist ein beliebtes Manöver, das auf der Idee beruht, dass es neben Stalinist*innen und Leninist*innen keine Kommunist*innen geben könne – und damit identisch mit der Idee, mit der Stalin Millionen Menschen verfolgen, deportieren und ermorden ließ. Sie waren dann ja „Antikommunist*innen“. Das Portal „Klassenbildung“ bewirbt eine Schrift von Stalin als „wohl grundlegendsten Text des Marxismus-Leninismus zum Thema Nationale Frage“.
Young Struggle Leipzig veranstaltete 2023 einen Lesekreis mit Stalin-Werken. Zum keineswegs von Lenin, sondern nach dessen Tod von Stalin als Staatsideologie ausgerufenen „Marxismus-Leninismus“ bekennt sich auch das „Jugend Kollektiv Salzwedel“ in seiner Gründungserklärung vom 20. August.
Die „Kommunistische Organisation“ bewirbt einen Artikel vom 22. Februar mit einem Portrait von Lenin und Stalin. Zwei Monate zuvor beklagte sie sich über die Veranstaltungsreihe „Good bye Stalin?!“ der Rosa Luxemburg Stiftung Leipzig.
Die „Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands“, die MLPD, ging in den 80er-Jahren aus dem autoritär-linken „Kommunistischen Arbeiterbund Deutschlands“ hervor – und bezieht sich offen positiv auf Stalin. In seiner Broschüre „Einführung Leninismus“ aus 2024 bekennt sich der Rote Aufbau, der in Burg eine Gruppe unterhält, unter der Überschrift „Diktatur des Proletariats“ dazu, dass das „Instrument der Klassenherrschaft“ – also der staatliche Gewaltapparat – von ihnen „gebraucht“ werden solle.
Das Netzwerk „Young Struggle“, auch mit seinen Filialen in Magdeburg und Dessau, präsentiert sich gern als örtliche Jugendgruppe, stellt aber tatsächlich die europaweit agierende Jugendorganisation der türkischen „Marksist Leninist Komünist Parti“ dar. „Marxismus-Leninismus“ – ein verdecktes, aber eindeutiges Stalin-Bekenntnis.
Dass dieses Gedankengut auf Gewalt hinausläuft, zeigte sich in der Geschichte der Sowjetunion jedoch schon vor Stalins Machtübernahme. Auch von Lenin sind entsprechende Befehle dokumentiert. Am 9. August 1918 telegraphierte er:
„In Nischni Nowgorod wird allem Anschein nach ein weißgardistischer Aufstand vorbereitet. Man muß alle Kräfte spannen, eine Trojka von Diktatoren zusammenstellen, den Massenterror sofort einführen, Hunderte von Prostituierten, die Soldaten zum Suff verführen, ehemalige Offiziere u. a. erschießen und abtransportieren“. Am selben Tag heißt es in einem in die Stadt Pensa gerichteten Telegramm: „Mindestens einhundert bekannte Kulaken, Reiche, Blutsauger, sind zu erhängen (öffentlich, damit die Leute es sehen).“
Und: „Der gnadenlose Massenterror gegen Kulaken, Popen und Weißgardisten ist durchzuführen; zwielichtige Elemente sind in ein Konzentrationslager außerhalb der Stadt einzusperren.“ Am 22. August ordnete er an, „die Verschwörer und Schwankenden zu erschießen, ohne um Erlaubnis zu bitten“.
Schon unter Lenin wurden die zaristischen Gefängnis- und Terrorsysteme in „sozialistische“ umgewandelt, woraus schließlich die berüchtigten GULAGs entstanden. Von 1930 bis 1953 – Stalins Tod – waren in diesen Lagern mindestens 18 Millionen Menschen inhaftiert. Mehr als 2,7 Millionen Menschen starben in den Lagern.
Hinzu kam die Deportation und Zwangsansiedlung von Millionen von Menschen, etwa deutschlandstämmigen Sowjetbürger*innen, nach Sibirien, die systematische Ermordung von „Verräter*innen“ oder der systematisch entfesselte Hunger, der unter anderem zum Zweck der Niederdrückung der ukrainischen Nationalbewegung in der Ukraine eingesetzt wurde. Zurückhaltende Schätzungen von der Ukrainischen Akademie der Wissenschaften aus 2008 gehen hierbei von 3,5 Millionen Toten aus.
Aber auch autoritäre Linke in der Bundesrepublik haben immer wieder auf das Mittel der Gewalt gegen Linke zur Durchsetzung ihrer Deutungshoheit gesetzt. Im Jahr 2010 machte der „kommunistische“ Rapper MaKss Damage aus Gütersloh (NRW) von sich Reden, weil er Tracks mit extremen Gewaltandrohungen gegen als „Antideutsche“ markierte Abweichler*innen veröffentlichte.
Beworben war eine Platte mit „100 % mehr Sexismus pur, 100 % mehr Gewalt und Zerstörungswut, 200 % mehr Antisemitismus“. In Gütersloh wurde kurz darauf ein Tourwagen der als Feind markierten Elektropunkband Egotronic niedergebrannt.
Nachdem MaKss Damage eine Weile an von autoritär-linken Gruppen dominierten Orten auftreten konnte, erschien 2011 „plötzlich“ ein Video eines Interviews mit dem Kölner Neonazi Axel Reitz. Darin bekannte MaKss Damage seine folgerichtige Hinwendung zum Neonazi.
Es ist ein biographischer Wandel zwischen autoritärer Linker und Neonaziszene, wie er immer wieder beobachtet werden kann. Auch der „Führer“ der deutschen Neonaziszene der 80er-Jahre, Michael Kühnen, war zuvor kurzzeitig Mitglied der autoritären Linken gewesen.
Für den November 2023 hatte die Antifaschis¬tischen Linke Eisenach eine Demonstration in der thüringischen Nazi-Hochburg geplant. Zum Netzwerk von Young Struggle gehörende Gruppen, und zwar auch die aus Dessau, mischten in der Demoplanung mit, verheimlichten dabei aber ihre Zugehörigkeit zu YS. Kurz vor der Demo begann Young Struggle dann unabgesprochen damit, groß nach Eisenach zu mobilisieren – auch dann noch, als die Organisator*innen explizit darum baten, nicht zu kommen.
Schließlich hatte Young Struggle Deutschland kurz zuvor das Massaker der Hamas in Israel mit 1.200 Toten als Widerstandsakt gerechtfertigt. Young Struggle bestand darauf, eine Teilnahme im autoritären Block zu erzwingen. Im Netz hagelte es Gewaltdrohungen und Rassismusvorwürfe. Die Eisenacher Antifas sahen sich schließlich dazu gezwungen, ihre Demo abzusagen.
Diesen Schritt musste die Antifa in Salzwedel zum Glück nicht gehen, als Young Struggle aus Dessau und Magdeburg, Zora Magdeburg sowie das erstmalig auftretende „Jugendkollektiv Salzwedel“ unabgesprochen zu einem Block auf ihrer Demo am 5. Juli aufriefen.
Einige Wochen zuvor hatten fünf Nazis das Autonome Zentrum in Salzwedel angegriffen. Obwohl die Demo unter dem Motto „Gegen den Rechtsruck: Antifa!“ stand, wurde behauptet, man mobilisiere zu einer Demo „Klassenkampf statt Vaterland“. Die tatsächlichen Ausrichter*innen wurden nicht einmal erwähnt. Die Kleinstadt-Antifa veröffentlichte daraufhin einen auch mit dem JKS und dem autoritär-linken Block geschlossenen Demokonsens gegen eine Vereinnahmung. Also alles entschärft?
Gegen den Konsens entfachten wiederum andere autoritär-linke Akteure wie das „Red Media Kollektiv“ (hervorgegangen aus „Zusammen Kämpfen Magdeburg“) und weitere reichweitenstarke autoritäre Linke einen Shitstorm bei der Antifa Salzwedel. Plötzlich erklärte „Zora“ den Konsens öffentlich für „unvereinbar“ und als „Angriff“.
Und: „Dennoch werden wir Salzwedel nicht einfach den Faschisten und Zionisten überlassen!“ Es folgte ein Aufruf zu einer Gegenkundgebung. Gemäß der Linie aus dem Statement zum Hamas-Überfall hieß es in den den Text abschließenden Parolen: „Krieg dem Faschismus! Krieg dem Zionismus!“
Ein weiteres prominentes Beispiel für den Umgang mit „Verräter*innen“ ist die von 2015 bis 2019 bestehende, maoistisch inspirierte Berliner Gruppe „Jugendwiderstand“. Über Jahre ging der JW in Berlin gegen andere Linke körperlich gewalttätig vor, sprühte in Neukölln außerdem regelmäßig Todesdrohungen. Auch ihr Zerwürfnis mit der ebenfalls autoritär-linken „Sozialistischen Linken“ aus Hamburg trug die Gruppe durch körperliche Übergriffe aus, ehe sie sich aufgrund der starken Isolierung selbst auflöste.
2004 griffen 30 Mitglieder der „Revolutionären Kommunisten“ bzw. ihres Umfelds in Berlin eine Gruppe von fünf Antifas an, weil sie die als „Zionisten“ ausmachten. Eines der Opfer trat man am Boden zusammen, inklusive vieler Tritte gegen den Kopf. Dem nächsten rammte man nach Schlägen und Tritten noch ein Messer in den Oberschenkel – verfehlte zum Glück die Arterie. Solche Angriffe können nämlich auch schnell mit Verbluten enden.
In Halle kommt es seit geraumer Zeit zu Konflikten rund um Gruppen patriarchaler, gewalttätiger Jugendlicher, die sich am Bebelplatz aufhalten und schonmal eine feministische Demo angreifen. Als einige Linke eine randalierende Gruppe am 14. Juli wegen ihres Verhaltens konfrontierte, beantwortete die das mit Gewalt.
Die Internationale Jugend Halle (Saale) aber berichtete: „Zionistischer Angriff auf Antifaschist:innen in Halle!“, und zwar gleich von 20 „Zionisten“. Der Grund: Die fraglichen Jungmänner äußern sich auch immer wieder gegen Israel – anscheinend ausreichend, um aus patriarchalen Gewalttätern angegriffene „Antifaschist:innen“ zu machen. Und so aufs Neue das eigene Vorgehen und die eigene Gewalt durch eine Opferpose und verdrehte Tatsachen zu rechtfertigen.
Vernunft und Liebe, 12. September 2025