Zwei Jahre später und ein bisschen schlauer

Ein Großteil der Ermittlungen zum Tag X ist inzwischen eingestellt – die Aufarbeitung geht weiter
Der ehemalige Staatsanwalt Felix L. (Name von der Redaktion geändert) rutscht auf dem Zeugenstuhl im Amtsgericht genervt hin und her. Drei Stunden dauert seine Befragung inzwischen. Eigentlich soll er als Zeuge aussagen, weil die Staatsanwaltschaft Chemnitz den ehemaligen Grünen-Stadtrat Jürgen Kasek wegen Verleumdung angeklagt hat: Kasek soll L., der an Tag X als Staatsanwalt vermummt im Einsatz war und inzwischen als Richter außerhalb Leipzigs arbeitet, als »Agent Provocateur« dargestellt haben, also als jemanden, der bewusst Straftaten provozierte.
»Normalerweise dauern solche Befragungen zehn Minuten, hier geht das drei Stunden«, beschwert sich L. Schon mehrfach ist es da zu Wortgefechten zwischen Kaseks Anwältin und ihm gekommen. Zwei Jahre nach Tag X beschäftigen die Ausschreitungen noch immer die Justiz – und angesichts der Ermittlungsergebnisse der Staatsanwaltschaft stellen sich weiterhin Fragen zur Verhältnismäßigkeit des Polizeieinsatzes.
80 Seiten lang ist das Dokument, das Einblick in die Ermittlungsbilanz der Staatsanwaltschaft gibt. In einer Tabelle listet das sächsische Innenministerium als Antwort auf eine kleine Anfrage von Juliane Nagel (Linke) alle 1537 Ermittlungsverfahren auf, die die Staatsanwaltschaft Leipzig am 2., 3. oder 4. Juni 2023 einleitete. Ein Großteil, insgesamt 1322 Verfahren, betrifft die Umschließung von Demonstrierenden im sogenannten Leipziger Kessel am 3. Juni, dem sogenannten Tag X.
Gegen alle Eingekesselten ermittelte die Staatsanwaltschaft wegen des Anfangsverdachts des schweren Landfriedensbruchs. Die Bilanz muss für die Ermittler ernüchternd sein: Über 900 Verfahren rund um Tag X mussten sie bis Ende Mai einstellen, in den überwiegenden Fällen, weil »Tatbestand, Rechtswidrigkeit oder Schuld nicht nachweisbar« gewesen seien. Über 500 Fälle bearbeiten Polizei und Staatsanwaltschaft noch. In 31 Fällen kam es bisher zur Anklage, sechs Geldstrafen verhängten die Gerichte.
Polizei räumte nach Tag X Fehler ein
Am 3. Juni 2023 hatten linke Gruppen anlässlich des Urteils gegen Lina E. und drei weitere Angeklagte wegen Bildung beziehungsweise Unterstützung einer kriminellen Vereinigung, in Leipzig zu Protesten aufgerufen. Die Stadt Leipzig hatte daraufhin aufgrund der befürchteten Ausschreitungen eine Allgemeinverfügung erlassen, die alle Versammlungen im Zusammenhang mit der Urteilsverkündung untersagte. Eine Demonstration, die Jürgen Kasek anmeldete – gegen die Einschränkung des Versammlungsrechts – durfte jedoch stattfinden.
Aufgrund ihrer Gefahrenprognose ließ die Polizei den Demozug allerdings nicht loslaufen, zu dem 1500 Menschen kamen – deutlich mehr als angemeldet. Am Abend eskalierte die Situation, Teilnehmende der Demonstration warfen Steine, Flaschen und Pyrotechnik auf die Beamten. Die Ermittlungsbehörden gingen zu diesem Zeitpunkt von 200 gewaltsuchenden und 300 gewaltbereiten Menschen unter den Demonstrierenden aus. Daraufhin kesselte die Polizei den Großteil der Personen am Heinrich-Schütz-Platz in der Südvorstadt ein.
Die Polizei habe »nur die gekesselt, die Gewalt verübt haben« oder durch ihr Auftreten die Gewalttätigen unterstützt hätten, erzählt der ehemalige Staatsanwalt Felix L. am Montag vor Gericht – und erntet dafür einige verdutzte Blicke. Von dieser Darstellung war Leipzigs Polizeipräsident René Demmler bereits einige Wochen nach Tag X abgekommen. Demmler räumte Fehler ein: Die Polizei war während des Einsatzes davon ausgegangen, nur 300 bis 400 Menschen eingekesselt zu haben.
Tatsächlich waren es 1324. Diese große Diskrepanz sei der Einsatzleitung aufgefallen, als die Polizei die Identitätsfeststellungen der Eingekesselten durchführte, berichtet L. vor Gericht. Bis 5 Uhr morgens hatte das gedauert. Für die Kritik am Einsatz zeigt L. allerdings kein Verständnis. »Ich hatte im Nachhinein das Gefühl, dass wir das angesichts der Anzahl der Menschen recht schnell gemacht haben«, sagt er.
Drei Ermittlungen gegen Polizisten laufe noch – 27 sind eingestellt
Direkt nach Tag X hatten Betroffene die Zustände im Kessel stark kritisiert. Der Zugang zu einem mobilen WC, das außerhalb des Kessels platziert war, war nur zeitweise möglich. Demmler räumte ein, dass Demosanitäter bei der Versorgung der Eingekesselten behindert wurden, weil die Einsatzkräfte nicht gewusst hätten, dass ihre Hilfe erlaubt war. Das Portal Frag-den-Staat veröffentlichte Anfang 2024 Polizeiprotokolle vom Einsatz und legte damit Widersprüche zu den öffentlichen Aussagen von Innenministerium, Staatsanwaltschaft und Polizei offen. Frag-den-Staat hatte außerdem öffentlich gemacht, dass die Daten aller 1322 Strafmündigen im Polizeikessel beim Verfassungsschutz gespeichert wurden.
Unter den Eingekesselten hatten sich 104 Jugendliche und zwei Kinder befunden. Ein 16-Jähriger berichtete dem kreuzer im Nachgang, dass er von einem Polizisten bewusstlos geschlagen worden sei. Auf kreuzer-Anfrage schrieb Oberstaatsanwalt Ricardo Schulz nun, dass insgesamt 30 Beschwerden und Anzeigen wegen verschiedener Vorwürfe gegen Polizeibeamte wie »Körperverletzung im Amt, Beleidigung und Nötigung« eingegangen seien. 27 davon seien inzwischen eingestellt worden, vor allem, »weil keine hinreichenden Anhaltspunkte vorlagen, welche den Anfangsverdacht strafbaren Handelns hätten begründen können.« In drei Verfahren dauerten die Ermittlungen an.
Der vermummte Staatsanwalt
Der ehemalige Staatsanwalt Felix L. selbst war an Tag X am Rande des Kessels im Einsatz, um die Polizei bei ihren Maßnahmen zu unterstützen, erzählt er vor Gericht. Dass er sich dabei vermummte, sorgte für Kritik, ebenso wie der Einsatz von vermummten Tatbeobachtern in Zivil, die Verdächtige bis in den Kessel verfolgten. Die Versammlung durfte nämlich auch deshalb nicht loslaufen, weil sich laut Polizei unter den Teilnehmenden zu viele vermummt hätten. »Im Nachgang kann man das diskutieren«, sagt L. zu seiner Vermummung, »aber in dem Moment habe ich mich einfach sicherer gefühlt.«
Jürgen Kasek hatte auf Twitter (heute X) Bezug auf das Bild genommen, dass den Staatsanwalt und eine Kriminalbeamtin vermummt im Gespräch mit der Einsatzleitung zeigte: »Mitten im schwarzen Block dabei, der für die Eskalation sorgte ein Staatsanwalt« (sic). Die Staatsanwaltschaft sieht dahin eine bewusst wahrheitswidrige Aussage, Kasek eine »Meinung in pointiert zugespitzter Art und Weise«.
Schon vor einem Monat fällte das Amtsgericht Grimma in diesem Zusammenhang ein Urteil gegen einen Grimmaer Sozialarbeiter Tobias Burdukat. Dieser hatte ein Bild des ehemaligen Staatsanwalts gepostet mit dem Kommentar: »Hier auch mal ohne Maske – falls er euch in den leeren Straßen mal über den Weg läuft.« Die Generalstaatsanwaltschaft sah darin eine abstrakte Gefahr möglicher Angriffe, auf deren Grundlage sie auch die Wohnung von Burdukat von der Polizei durchsuchen ließ. L. erzählt am Montag, dass er in den Monaten nach Veröffentlichung seiner Person unter Polizeischutz gestanden habe, mental stark belastet gewesen sei. Das Amtsgericht Grimma verurteilte Burdukat zu einer Geldstrafe. Der kündigte an, in Berufung zu gehen.
Rechtswidrige Durchsuchung bei Journalisten in Halle
Die Durchsuchung bei Burdukat war nicht die einzige im Nachgang von Tag X. Im Zusammenhang mit den Ermittlungen ordnete die Staatsanwaltschaft Leipzig mehrere Wohnungsdurchsungen in der Stadt an. Ende 2023 durchsuchte die Polizei in Halle die Wohnung eines Journalisten, der Fotos eines Brandsatzes gemacht hatte, den eine Person in Richtung von Polizisten geworfen haben soll. Der Deutsche Journalistenverband kritisierte das Vorgehen der Staatsanwaltschaft scharf. Das sächsische Justizministerium verteidigte die Maßnahme hingegen. Letztes Jahr erklärte das Landgericht Leipzig die Dursuchung letztlich für rechtswidrig.
Eine Klatsche musste die Staatsanwaltschaft Leipzig zudem vor dem Landgericht Leipzig einstecken. Letzten September wies das Gericht die Anklagepunkte des versuchten Mordes und der Körperverletzung gegen einen 25-Jährigen ab, der zwei Brandsätze auf Polizeibeamte geworfen haben soll. Das Gericht hob bereits einige Monate vorher den Haftbefehl auf, nachdem der Beschuldigte sich gestellt und ein halbes Jahr in Untersuchungshaft gesessen hatte.
Aus Sicht des Landgerichts sei eine Identifizierung des Täters auf dem Videomaterial nicht möglich. Der Beschuldigte muss sich nur noch wegen des Vorwurfs des Landfriedensbruchs verantworten. Die Staatsanwaltschaft hat Beschwerde gegen die Entscheidung beim Oberlandesgericht eingelegt.
Im Verleumdungsprozess gegen Jürgen Kasek wurde am Montag unterdessen noch kein Urteil gesprochen. Der Prozess wird in zwei Wochen fortgesetzt.
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MDR 02. Juni 2025
Zwei Jahre nach „Tag X“ in Leipzig: Rund zwei Drittel der Ermittlungsverfahren eingestellt
Zwei Jahre nach den massiven Polizeieinsätzen bei den „Tag X“-Protesten in Leipzig zeigt sich: Die juristischen Folgen für viele der damals Festgesetzten bleiben gering. Eine parlamentarische Anfrage legt nun offen, wie viele Verfahren eingestellt wurden – und wirft Fragen zum Vorgehen von Polizei und Verfassungsschutz auf.
Zwei Jahre nach den Ausschreitungen rund um die antifaschistische Demonstration am sogenannten „Tag X“ hat die sächsische Justiz den überwiegenden Teil der eingeleiteten Ermittlungsverfahren eingestellt. Wie aus einer Antwort des sächsischen Innenministeriums auf eine Kleine Anfrage der Linken hervorgeht, wurden inzwischen 861 der insgesamt mehr als 1.500 Verfahren eingestellt. In den meisten Fällen seien „Tatbestand, Rechtswidrigkeit oder Schuld nicht nachweisbar“, hieß es.
Nur wenige Anklagen
Während noch 445 Verfahren von der Polizei bearbeitet werden oder der Staatsanwaltschaft zur Entscheidung vorliegen, mündeten laut der Linken-Abgeordneten Juliane Nagel bislang lediglich 19 Fälle in eine Anklage – vorwiegend wegen schweren Landfriedensbruchs. „Der pauschale Vorwurf, sich an Ausschreitungen beteiligt zu haben, hat sich in den meisten Fällen in Luft aufgelöst“, so Nagel. Die Bilanz der Leipziger Staatsanwaltschaft und der Ermittlungsgruppe sei „dürftig“.
Datenspeicherung beim Verfassungsschutz
Nagel kritisierte außerdem, dass Hunderte der zeitweise eingekesselten Personen für mindestens fünf Jahre als „Linksextremisten“ in Datenbanken des Bundesverfassungsschutzes gespeichert wurden. Dabei berief sie sich auf Recherchen der Transparenzplattform „Frag den Staat“. Angesichts der massenhaften Verfahrenseinstellungen, so Nagel, gebe es dafür „nicht den geringsten Grund“. Die Abgeordnete fordert die unverzügliche Löschung der entsprechenden Datensätze.
Der umstrittene Polizeikessel
Auslöser der Massenermittlungen war ein Polizeieinsatz am Abend des 3. Juni 2023. Damals hatten in Leipzig hunderte Menschen gegen die Verurteilung der Linksextremistin Lina E. protestiert. Lina E. wurde im Mai 2023 wegen linksextremistischer Gewalttaten zu fünf Jahren und drei Monaten Haft verurteilt. Sie soll mit einer Gruppe gezielt Rechtsextreme angegriffen haben. Nach der Auflösung der Demonstration in der Südvorstadt hatte die Polizei einen großflächigen Kessel eingerichtet. Bis zu elf Stunden lang wurden 1.324 Personen, darunter Minderjährige und Kinder, festgehalten – nach Angaben der Einsatzkräfte wegen Gewaltausbrüchen einzelner Demonstrierender.