Leipziger Kessel an Tag X: Staatsanwaltschaft hat Ermittlungen gegen fast 900 Beschuldigte eingestellt

Seit fast zwei Jahren ermittelt die Staatsanwaltschaft Leipzig zu einem angeblichen Landfriedensbruch am „Tag X“ in Leipzig. Mehr als 1.300 Menschen befanden sich wegen des Vorwurfs stundenlang in einem Polizeikessel. Jetzt wurde bekannt: Die Staatsanwaltschaft hat in den vergangenen Monaten kontinuierlich mehrere hundert Verfahren eingestellt.
Mehr als tausend Menschen hatten sich am 3. Juni 2023 am Alexis-Schumann-Platz in der Leipziger Südvorstadt versammelt, um am sogenannten Tag X gegen die Verurteilung von Lina E. und weiteren Antifaschisten zu protestieren. Der Aufzug durfte nicht starten; es kam zu Angriffen auf die Polizei. Mehr als 1.000 Menschen wurden daraufhin stundenlang festgehalten, einige von ihnen fast die komplette Nacht. Der Vorwurf: Landfriedensbruch.
Von Anfang an war klar, dass sich zahlreiche Menschen – darunter viele Minderjährige – im Polizeikessel aufhielten, obwohl sie nicht an den Angriffen beteiligt waren. Insgesamt 1.324 Personen warten seitdem auf die Entscheidung der Staatsanwaltschaft Leipzig, ob gegen sie Anklage wegen Landfriedensbruch erhoben wird. In hunderten Fällen ist jetzt klar: Das wird nicht passieren.
Nagel: Fast 900 Verfahren eingestellt
Aus einer Antwort auf eine Anfrage der Landtagsabgeordneten Juliane Nagel (Linke) geht hervor, dass die Ermittlungen eingestellt wurden, weil diese nicht „genügenden Anlass zur Erhebung der öffentlichen Klage“ geboten hätten – so die Formulierung im entsprechenden Paragrafen der Strafprozessordnung. Nach Zählung von Nagel wurden die Ermittlungen gegen fast 900 Beschuldigte eingestellt – das entspricht ungefähr zwei Drittel aller Fälle.
Die ersten Einstellungen erfolgten im November 2024, also knapp anderthalb Jahre nach „Tag X“. Seitdem wurden bis Mitte April 2025 viele weitere Verfahren eingestellt. Stichtag für die Datenabfrage in der Antwort des sächsischen Innenministeriums war bereits Anfang Mai – ob im laufenden Monat weitere Verfahren eingestellt wurden, ist deshalb unklar.
Dass bislang zwei Drittel der Verfahren eingestellt wurden, bedeutet auch: Polizei und Staatsanwaltschaft ermitteln immer noch gegen mehr als 400 Personen. „Ich gehe davon aus, dass es auch hier zu reihenweise weiteren Einstellungen kommen wird“, sagt Nagel.
Dürftige Bilanz
Sie zählt 19 Fälle, in denen bislang Anklage erhoben wurde. Das sei eine „äußerst dürftige Bilanz“ und zeige, „dass die Polizei damals recht wahllos und mit unverhältnismäßiger Härte gegen eine große Zahl unbeteiligter Personen vorgegangen ist“.
Insgesamt laufen oder liefen im Zusammenhang mit „Tag X“ mehr als 1.500 Ermittlungsverfahren. Diese betreffen beispielsweise auch Demonstrationen und Ausschreitungen, die in den Tagen vor dem 3. Juni 2023 stattgefunden haben.
Das Vorgehen von Polizei und Ordnungsbehörden rund um „Tag X“ wurde im Anschluss vielfach kritisiert, auch außerhalb des linken Spektrums. Neben der mittlerweile als „Leipziger Kessel“ bekannten Großmaßnahme am 3. Juni wurde besonders über die umfangreichen Demonstrationsverbote diskutiert.
„Am 3. Juni 2023 wurden Grundrechte, Freiheit und Rechtsstaat verraten – von einem Staat, der zunehmend autoritär agiert und sich als Teil einer autoritären Formierung zeigt“, heißt es in einem aktuellen Demoaufruf von „Leipzig nimmt Platz“. Das Netzwerk möchte am 3. Juni 2025 ab 18 Uhr vor dem Neuen Rathaus einen „Trauerzug“ veranstalten.
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Zwei Jahre nach dem „Tag X“ in Leipzig: Kessel war nicht verhältnismäßig, die Versammlungsfreiheit wurde mit Füßen getreten
Zwei Jahre nach dem sogenannten „Tag X“ in Leipzig ist ein Großteil der Ermittlungsverfahren wegen des Vorwurfs des schweren Landfriedensbruchs eingestellt. Das ist die Antwort auf eine Kleine Anfrage (Drucksache 8/593). Die Polizei hatte am 3. Juni 2023 nach der Auflösung einer angemeldeten antifaschistischen Versammlung in der Südvorstadt und einer gewaltsamen Eskalation durch wenige Personen insgesamt 1.324 Menschen bis zu elf Stunden lang in einem umstrittenen „Kessel“ festgehalten, dabei mangelhaft versorgt und anschließend mit Verfahren überzogen. Mein Statement:
„Der pauschale Vorwurf, sich an Ausschreitungen beteiligt zu haben, hat sich in den meisten Fällen in Luft aufgelöst: Laut der Zahlen des Innenministeriums wurden bislang 861 und damit fast zwei Drittel aller Verfahren eingestellt – meist, weil „Tatbestand, Rechtswidrigkeit oder Schuld nicht nachweisbar“ waren. Weitere 445 Verfahren werden noch von der Polizei bearbeitet oder liegen der Staatsanwaltschaft zur Entscheidung vor. Ich gehe davon aus, dass es zu reihenweise Einstellungen kommen wird.
Juristisch gesehen ist die Bilanz der Leipziger Staatsanwaltschaft und der eigens eingerichteten „Ermittlungsgruppe LEX“ der Polizeidirektion äußerst dürftig. In lediglich 19 Fällen – weniger als anderthalb Prozent aller Verfahren – reichte es zu einer Anklage. Das bestätigt meine Auffassung und die Wahrnehmung etlicher Menschen und Medien vor Ort, dass die Polizei recht wahllos und mit unverhältnismäßiger Härte gegen eine große Zahl unbeteiligter Personen vorgegangen ist – darunter Minderjährige und Kinder.
Zudem stellte das Vorgehen einen schwerwiegenden Eingriff in die Versammlungsfreiheit dar. Anlass der Proteste war das Urteil im ersten „Antifa Ost“-Prozess. Mehrere Demonstrationen waren schon im Vorfeld verboten worden – wegen anonymer Aufrufe im Internet zur Gewalt. Eine Große Anfrage der Linksfraktion (Drucksache 7/14904) hatte ergeben, dass es weder eine befürchtete europaweite Mobilisierung, noch ein schlüssiges Einsatzkonzept der Polizei gab. Mehrfach musste diese ihre Zahlenangaben korrigieren. Ihre Berichte über im Kessel gefundene Teleskopschlagstöcke erwiesen sich als falsch.
Allerdings: Recherchen der Plattform „FragDenStaat“ zufolge wurden Hunderte der Eingekesselten in Verfassungsschutz-Datenbanken für mindestens fünf Jahre als „Linksextremisten“ gespeichert. Angesichts der massenhaften Verfahrenseinstellungen gibt es für diese Kriminalisierung nicht den geringsten Grund. Ich erwarte daher die unverzügliche Löschung der Daten.“
PM 02. Juni 2025
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Antonie Rietzschel und Matthias Puppe
02.06.2025
Polizeikessel „Tag X“ in Leipzig: Staatsanwaltschaft stellt über 800 Verfahren ein
Seit Jahren ermitteln Polizei und Staatsanwaltschaft zu dem, was sich am Heinrich-Schütz-Platz abspielte. Die Bilanz ist ernüchternd. Für Dienstag sind Proteste angekündigt.
Es war ein Einsatz, der deutschlandweit für Schlagzeilen sorgte: Nach Auflösung einer Demonstration umschloss die Polizei am 3. Juni 2023 den Heinrich-Schütz-Platz im Leipziger Süden und damit 1324 Menschen. Zahlreiche Handys wurden beschlagnahmt, mehr als 1000 Ermittlungsverfahren eingeleitet, vor allem wegen Landfriedensbruch.
Jetzt, zwei Jahre später, hat die Staatsanwaltschaft Leipzig insgesamt 869 dieser Verfahren eingestellt. In den meisten Fällen gab es nicht genug Hinweise auf eine Straftat. Rund 440 Ermittlungsverfahren sind nicht abgeschlossen, zur Anklage kam es bisher in 23 Fällen. Die Zahlen ergeben sich aus Antworten des Innenministeriums auf eine Kleine Anfrage der Linken-Abgeordneten Juliane Nagel.
Gegen die Polizei flog Pyrotechnik
Es ist eine ernüchternde Bilanz, die erneut die Frage aufwirft: War das, was sich damals auf dem Heinrich-Schütz-Platz abspielte, verhältnismäßig?
Wenige Tage nach dem Urteil gegen die linksextreme Gruppe um Lina E. hatten mehrere Gruppen zum „Tag X“ mobilisiert, einige drohten mit Gewalt. Eine entsprechende Demonstration wurde verboten – erlaubt war dagegen der Protest gegen die Einschränkung des Versammlungsrechts. Etwa 1500 Menschen versammelten sich daraufhin im Leipziger Süden. Die anfänglich friedliche Stimmung schlug an manchen Stellen um: Vereinzelte Gruppen versuchten auszubrechen, auf vorrückende Beamte flogen Steine und Pyrotechnik.
Die LVZ war selbst an dem Tag vor Ort, erlebte eine dynamische Lage. Nach den Auseinandersetzungen, der Auflösung der Versammlung, wichen viele Demonstranten auf den Heinrich-Schütz-Platz aus. Was dort passierte, darüber gehen die Ansichten auseinander: Aus Sicht der Polizei sei es für friedfertige Demonstranten möglich gewesen, sich zu entfernen. Betroffene schildern dagegen, sie hätten keine Chance gehabt: „Wir standen Schulter an Schulter.“ Schließlich war der kleine Park komplett umstellt.
Proteste zum Jahrestag geplant
Die Polizei verschätzte sich massiv bei der Personenanzahl auf dem Heinrich-Schütz-Platz, die Umschließung dauerte bis tief in die Nacht. Polizeipräsident René Demmler räumte anschließend Fehler ein, etwa bei der Kommunikation und der Versorgung, den Polizeikessel an sich verteidigte er: Die „rechtlichen Anforderungen“ seien erfüllt gewesen. Kritik gibt es dagegen bis heute von Aktivisten: Für den 3. Juni hat das Bündnis „Leipzig nimmt Platz“ einen „Trauerzug“ angemeldet. Treffpunkt ist das Neue Rathaus.
Davon, dass die Behörden überzogen handelten, sind auch andere überzeugt: Das Landeskriminalamt hatte personenbezogene Daten fast aller sich im Kessel befindlichen Personen an das Landesamt für Verfassungsschutz weiter geleitet. Viele kamen aus anderen Bundesländern, also Bayern und Berlin – 589 stammten aus dem Freistaat. Die Sicherheitsbehörden stuften sie als linksextrem ein, ihre Daten wurden im NADIS hinterlegt, einer Datenbank, auf die Landesämter und Bundesverfassungsschutz Zugriff haben.
Grundsätzlich ist die Weitergabe solcher Daten möglich, Staatsrechtler zweifeln jedoch, ob die Voraussetzungen ausreichend erfüllt waren. Wurden die Einträge nach Einstellung der Ermittlungsverfahren gelöscht? Eine entsprechende Anfrage beim Landesamt ist noch offen.
Klarheit gibt es dagegen im Verfahren gegen einen 25-Jährigen – ihm hatte die Staatsanwaltschaft Leipzig unter anderem versuchten Mord vorgeworfen. Er soll einen Brandsatz Richtung Polizei geworfen haben.
Das Landgericht hatte die Anklage wegen fehlender Indizien gekippt, das Oberlandesgericht verwarf eine Beschwerde der Staatsanwaltschaft. Der Beschuldigte ist nun ebenfalls wegen Landfriedensbruch angeklagt. Gegen ihn soll vor dem Amtsgericht verhandelt werden.