Leipziger Polizeikessel am Tag X – Wir haben Sachsens Verfassungsschutz verklagt – und gewonnen

Hunderte Menschen sind nun in der Datenbank der Geheimdienste gespeichert, weil sie im Juni 2023 nach einer Demonstration von der Polizei eingekesselt wurden. Das musste der Verfassungsschutz nach langer Gegenwehr einräumen.

Am Abend des 3. Juni 2023 kesselte die Polizei 1.324 Personen ein, nachdem es aus einer Demonstration heraus zu Angriffen auf Beamt*innen gekommen war. Es war der wohl größte Polizeikessel in der Geschichte der Bundesrepublik. Unter den Eingeschlossenen waren etliche friedliche Teilnehmer*innen, unbeteiligte Anwohner*innen, dutzende Jugendliche und zwei Kinder. Für viele von Ihnen hat der Polizeikessel langfristige Folgen.

Bis zu elf Stunden mussten die Eingeschlossenen bis in den frühen Morgen ausharren. Sie kritisierten danach menschenunwürdige Bedingungen, fehlende Toilettenmöglichkeiten, mangelhafte Versorgung mit Essen und Trinken und berichteten von Unterkühlungen. Interne Dokumente der Polizei belegen einen teils chaotischen Einsatz.

Damit nicht genug: Die personenbezogenen Daten aller Eingekesselten, die in Sachsen wohnen, sind für die nächsten fünf Jahre bei deutschen Verfassungsschutzbehörden gespeichert. Das musste uns der Sächsische Verfassungsschutz nach monatelangem Widerstand bestätigen. Auf eine entsprechende Presseanfrage von uns hatte die Behörde die Auskunft verweigert. Deswegen haben wir den Verfassungsschutz im April 2024 verklagt.
Hunderte Menschen beim Verfassungsschutz gespeichert

Erstmals ist dadurch klar, dass Sachsens Verfassungsschutz die personenbezogenen Daten von 589 Eingekesselten im gemeinsamen Nachrichtendienstlichen Informationssystem (NADIS) der deutschen Geheimdienste eingetragen hat.

Den Umstand, dass der sächsische Verfassungsschutz nicht alle rund 1.300 Personen eingetragen hat, die an dem Tag von der Polizei eingekesselt wurden, begründet Sachsens Verfassungsschutz damit, nur für Personen zuständig zu sein, die ihren „gewöhnlichen Aufenthaltsort“ in Sachsen haben. Konkret bedeutet das: Alle Eingekesselten, die in Sachsen wohnen, sind nun beim Verfassungsschutz erfasst. Die Daten werden laut Auskunft des Verfassungsschutzes zunächst für fünf Jahre in der Datenbank gespeichert, auf die alle 16 Landesgeheimdienste und der Bundesverfassungsschutz zugreifen können.

Dass all diese Menschen jetzt unterschiedslos beim Verfassungsschutz gespeichert sind, sei ein Skandal, sagt Stefan Brink, ehemaliger Landesbeauftragter für Datenschutz und Informationsfreiheit Baden-Württemberg. „Hier wurde eine offensichtlich unverhältnismäßige polizeiliche Maßnahme als Grundlage für das umfassende Weitergeben und Sammeln von Daten genutzt“, führt der Jurist aus. Bei einer so großen Menge an eingekesselten Menschen, sei die Wahrscheinlichkeit erheblich, dass Unbeteiligte darunter sind. Auch liege es nahe, dass Minderjährige betroffen sind. Dem müsse vor einer Weiterleitung der Daten an den Verfassungsschutz Rechnung getragen werden. Tatsächlich waren unter den Eingeschlossenen mehr als hundert Minderjährige. Auch sie sind von der Datenerfassung betroffen.

„Gefahr für die Versammlungsfreiheit“

Alle erfassten Personen hätten „die linksextremistische Gewalt der autonomen Szene“ unterstützt, indem sie sich „nicht sofort und nachhaltig“ von der Menge distanziert hätten, erklärt der sächsische Verfassungsschutz. „Wer eine solche Unterstützung leistet, muss es sich gefallen lassen, dass seine Daten zur Erforschung der Frage gespeichert werden, ob hier eine aktive sowie ziel- und zweckgerichtete Unterstützung der autonomen Szene und damit des Linksextremismus vorliegt“, rechtfertigt der Geheimdienst sein Vorgehen.

„Die pauschale Behauptung, alle Personen, die sich auf einer Versammlung befinden, unterstützten damit ,die autonome Szene’, ist haltlos und zeigt nur, wie wichtig demokratische Kontrolle und Transparenz über die Inlandsgeheimdienste sind“, kritisiert Lukas Theune, der Geschäftsführer des Republikanischen Anwältinnen- und Anwälte-Vereins (RAV). Die Datensammelwut der Behörden verletze die Versammlungsfreiheit. „Wer geht noch auf eine Demo, wenn sie oder er danach damit rechnen muss, bundesweit in Geheimdienstdatenbanken zu landen?“, warnt Theune.
Daten stammen von Leipziger Staatsanwaltschaft

Die Daten hat der Verfassungsschutz von der Leipziger Staatsanwaltschaft erhalten. Diese hatte gegen alle 1.322 strafmündigen Personen aus dem Kessel Ermittlungen aufgenommen. Der Vorwurf: besonders schwerer Landfriedensbruch. Die Tatsache, dass und wegen welchen Vorwurfs gegen die Betroffenen ermittelt wird, sei von der Staatsanwaltschaft an den Verfassungsschutz weitergeleitet worden, erklärt der Geheimdienst die Datenspeicherung.

„Dass die Staatsanwaltschaft einfach ohne weitere Prüfung und pauschal die Daten aller an den Verfassungsschutz weiterleitet, ist nicht in Ordnung“, kritisiert Datenschützer Stefan Brink dieses Vorgehen. Hier werde ein Schritt übergangen, nämlich die Überprüfung, ob tatsächlich von einer Straffälligkeit aller Eingekesselten ausgegangen werden könne. „Das hier ist kein Szenario, bei dem das bloße Einleiten von Ermittlungen ausreicht, um so einen gravierende und folgenreiche Maßnahme wie die Weitermeldung an den Verfassungsschutz zu rechtfertigen“, sagt Brink.
Umgang mit Daten weiterer Eingekesselter noch unklar

Dem Gericht gegenüber argumentierte der Verfassungsschutz, dass es die gesamte Arbeit der Sicherheitsbehörden und sogar das Staatswohl gefährden würde, wenn er unsere Anfrage beantworten müsse. „Durch eine Reihe geschickter ja / nein Fragen könnten sukzessive umfangreiche Erkenntnisse über die Arbeitsweise und die Arbeitsschwerpunkte des LfV Sachsen ausgeforscht werden“, warf uns die Behörde vor. Wir hatten gefragt, ob es stimmt, dass alle Eingekesselten gespeichert wurden und falls dies nicht zutrifft, wie viele Personen denn dann gespeichert wurden.

Das Sächsische Oberverwaltungsgericht entschied nun, dass sich der Geheimdienst der Pressefreiheit beugen muss und wies ihn an, unsere zwei kurzen Fragen zu beantworten. Damit hob das Gericht ein erstinstanzliches Urteil des Verwaltungsgerichts Dresden auf.

Offen ist derzeit noch, ob auch die restlichen Eingekesselten, die nicht in Sachsen gemeldet sind, durch die anderen Verfassungsschutzbehörden in die Datenbank eingetragen wurden. Entsprechende Anfragen laufen derzeit noch. Unklar bleibt also zumindest fürs Erste auch, ob wir noch weitere Verfassungsschutzämter verklagen müssen, um Klarheit über diesen Punkt zu schaffen.

https://fragdenstaat.de/artikel/exklusiv/2024/09/wir-haben-sachsens-verfassungsschutz-verklagt-und-gewonnen/

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Landesamt für Verfassungsschutz muss pauschale Datenspeicherung hunderter am „Tag X“ eingekesselter Menschen einräumen – Datensätze löschen!

Das Portal „FragDenStaat“ hat das sächsische Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) erfolgreich verklagt. Die Initiative für Informationsfreiheit deckte auf: Die personenbezogenen Daten aller am 3. Juni 2023 („Tag X“) in Leipzig Eingekesselten, die in Sachsen wohnen, sind für die nächsten fünf Jahre bei deutschen Verfassungsschutzbehörden gespeichert. Das LfV wollte diese Information nicht herausgeben und wurde nun vom Sächsischen Oberverwaltungsgericht dazu gezwungen, die entsprechende Presseanfrage zu beantworten. Mein Statement:

„Dies ist eine juristische Ohrfeige für den Inlandsgeheimdienst – und ein neuer Fingerzeig, dass Behördeninformationen kritisch geprüft werden müssen und nicht einfach übernommen werden sollten. Durch unsere kontinuierlichen Nachfragen ist klar: Von den mehr als 1.300 Menschen, die bis zu elf Stunden lang von der Polizei eingekesselt waren, haben die Wenigsten eine Straftat begangen. Die meisten waren unbeteiligt, manche offenbar nur zufällig vor Ort. Auch 106 Minderjährige sind unter den Betroffenen (Drucksache 7/ 13967).

Die Behauptung des LfV, ,alle‘ hätten vorher ,die linksextremistische Gewalt der autonomen Szene‘ unterstützt, ist falsch. Bisher gibt es keinerlei Anklagen oder Gerichtstermine gegen die des schweren Landfriedensbruchs Beschuldigten. Ich habe ersthafte Zweifel daran, dass das LfV ihnen irgendetwas nachweisen kann. Die Speicherung der Personendaten, die von der Leipziger Staatsanwaltschaft erhoben und an den Verfassungsschutz weitergegeben wurden, ist daher eine Vorverurteilung – und ein Skandal.

Die Speicherung in der Verfassungsschutz-Datenbank ist keine Lappalie, sondern sie hat für die Betroffenen ernsthafte Konsequenzen. So kann sie wegen des neuen sächsischen Versammlungsgesetzes dazu führen, dass diese Personen als Ordnerin oder Ordner für Versammlungen abgelehnt werden. Etliche Speicherungen beim Landesamt dürften unzulässig sein. Wir fordern daher die Löschung der Datensätze.“