Rechtsfreie Räume und rechte Raumnahme
Dem autoritären, extrem-rechten Milieu gewährt Sachsen großen Bewegungsspielraum
Mitte Juni wurde – trotz großer Kritik an seinem restriktiven Charakter – das neue sächsische Versammlungsgesetz verabschiedet. Innenminister Armin Schuster (CDU) lobte die Reform und verwies auf die Expertise der ihm unterstellten Behörden:
»Wir haben in Sachsen das lebendigste Versammlungsgeschehen in ganz Deutschland. Entsprechend verfügen unsere Versammlungsbehörden und die Polizei über die meiste Erfahrung und höchste Routine.«
Was Innenminister Schuster hier als »lebendiges Versammlungsgeschehen« bezeichnet, waren vor allem massive Proteste des autoritären und rechtsextremen Milieus in den letzten Jahren. Und die behördliche »Routine« bestand in der Regel darin, der rechten Raumnahme tatenlos zuzuschauen, wie eine rückblickende Betrachtung der Corona-Proteste im Freistaat zeigt.
Eine rechte Protestbewegung
In Sachsen hatte sich direkt nach Beginn der Pandemie im Frühjahr 2020 eine neue Protestbewegung herausgebildet: der »stille Protest« an der B96, die »Spaziergänge« und Montagsdemonstrationen. Richteten sich diese Proteste anfangs noch vorrangig gegen die Pandemie-Politik und stellten die Gefährlichkeit, meist auch die Existenz von Covid-19 in Frage, kamen im Laufe der Zeit weitere Themenfelder hinzu, wie der Ukrainekrieg und die Migrationspolitik.
Im Winter 2021/22 gingen landesweit wöchentlich Zehntausende, in Höchstphasen bis zu 70.000 Menschen auf die Straße, obwohl von November 2021 bis Januar 2022 nur Versammlungen mit zehn Personen erlaubt waren. Die Proteste hatten von Beginn an einen offen antidemokratischen Charakter, sowohl wegen der konsequenten Missachtung sämtlicher Corona-Schutzmaßnahmen, vor allem aber wegen den dort vertretenen Inhalten:
Reichsfahnen und Verschwörungserzählungen dominierten das Bild, ein autoritäres, sozialdarwinistisches und oftmals völkisches Gesellschaftsverständnis wurde propagiert, hinzu kam populistisches Freund-Feind-Denken sowie Geschichtsrevisionismus und Relativierung des Nationalsozialismus. Auf Schildern wurden vielfältige Gewaltphantasien ausgedrückt, Politiker und Politikerinnen, Wissenschaftler, Wissenschaftlerinnen und Medienschaffende wurden in den Knast oder an den Galgen gewünscht.
Vielerorts kam es bei den »Spaziergängen«, die in der Regel unangemeldet waren, zu Gewalt. Die Corona-Protestbewegung knüpfte von ihrer Form, den Akteuren sowie inhaltlich an die rechten Mobilisierungen der Jahre 2013–16 gegen die Unterbringung von Geflüchteten an.
Diese Verbindung lässt sich sogar geografisch aufzeigen: Die ersten Corona-Proteste fanden an Orten statt, an denen auch die rassistischen Proteste zuvor am größten gewesen waren (so in Chemnitz, Bautzen und im Erzgebirge). Und von Beginn an stellten Rechtsextreme einen wichtigen Teil der Protestbewegung. Die beiden Protestwellen (gegen Geflüchtete und gegen die Pandemie-Politik) sollten daher als Ausdruck einer rechten Protestbewegung betrachtet werden.
Nachsicht bei Gewalteskalation
Ein Höhepunkt der Corona-Protestbewegung war die Großdemonstration am 7. November 2020 in Leipzig. Damals versammelten sich 40.000 Protestierende, und damit weit mehr als die erlaubten 16.000 Teilnehmenden, auf dem Augustusplatz. Als die Versammlung von Behördenseite am Nachmittag wegen zahlreicher Rechtsverstöße für beendet erklärt wurde, eskalierte im Anschluss die Situation, als sich trotz des Verbotes mehrere Tausend Teilnehmende auf den Weg über den Leipziger Ring machten, angeführt von mehreren hundert rechten Hooligans und Neonazis. Es kam zu massiven Ausschreitungen, Polizeiketten wurden durchbrochen und Einsatzkräfte mit Pfefferspray, Flaschen und Pyrotechnik angegriffen.
Journalisten und vermeintliche Linke, aber auch Menschen, die bloß eine Maske trugen, wurden bedroht und attackiert. Für mehrere Stunden hatte die Protestbewegung unter »Wir sind frei – Corona ist vorbei«-Rufen die Innenstadt übernommen und sie zu einem rechtsfreien, und von Rechten besetzten Raum gemacht. Die Gewalteskalation und das zurückhaltende Vorgehen der Polizei sorgten bundesweit für Entsetzen.
Von »Staatsversagen« und »Kontrollverlust« war die Rede. Viele kritisierten, Polizei und Staat seien vor den Querdenkern und Neonazis zurückgewichen. Trotzdem setzte sich der nachsichtige Umgang auch in der juristischen Aufarbeitung fort.
Wie eine Anfrage der Linkspartei im Herbst letzten Jahres ergab, wurden letztlich nur 51 Verfahren eingeleitet – inklusive derjenigen, die sich auf den Gegenprotest bezogen. Vier Verfahren waren im September 2023 noch nicht abgeschlossen, die restlichen mündeten in zwei Fällen in Freisprüchen und zur Hälfte (26) in Einstellungen. In zehn Verfahren wurden eine Geldstrafe verhängt. Es wurde nur eine Freiheitsstrafe (acht Monate auf Bewährung) ausgesprochen, wegen des Werfens von Pyrotechnik in Richtung der Polizei.
Ebenso wie die geringe Anzahl der Verfahren überrascht die politische Einordnung der Straftaten. So wurden nur fünf Verfahren der Politisch Motivierten Kriminalität (PMK) Rechts, dafür aber sieben der PMK Links zugeordnet. Alle restlichen Straftaten wurden als »nicht zuzuordnen« erfasst.
Macht man sich bewusst, dass es sich bei den eskalierten Großdemonstration vom November 2020 in Leipzig um die größten rechtsextremen Ausschreitungen in Sachsen seit Chemnitz im Sommer 2018 handelt, fällt die Bilanz der juristischen Konsequenzen erstaunlich schwach aus.
Rechtes Ermächtigungsgefühl
Dies ist umso problematischer, da das »Staatsversagen« und der von den Teilnehmenden als Sieg wahrgenommene Verlauf der Demonstration große Symbolkraft hatte. Dies galt vor allem für die rechtsextreme Szene, deren aktive und gewalttätige Teilnahme maßgeblich für die »erfolgreiche« Durchführung verantwortlich war.
Hier sei daran erinnert, dass die extreme Rechte im Osten Deutschlands bis heute ihre politische Identität und ihr Selbstbewusstsein aus den Pogrom-Jahren Anfang der Neunziger Jahre zieht, als sie vielerorts in rassistischen Aufständen den Staat zum Rückzug zwang, beziehungsweise er ihnen durch sein (Nicht-)Handeln dieses Gefühl der Ermächtigung gab.
Der Begriff »Generation Hoyerswerda« bezieht sich auf jene Kontinuität, die sich auch in den Corona-Protesten zeigte: »Jene, die in den frühen 1990er Jahren rechtsradikal sozialisiert wurden, sind fast alle wieder da. Allerorten sind auf den Demos die früheren Führungsleute der rechtsextremen Szene zu sehen.
Sie sind heute Mitte vierzig, Anfang fünfzig – und merken, dass ihre Zeit gekommen ist«, so die Beobachtung des Rechtsextremismusexperten David Begrich. Ihr Gefühl der Stärke wird durch das Ausbleiben juristischer Konsequenzen noch verstärkt werden.
Dies lässt sich allgemein für den Umgang des Freistaates mit der Corona-Protestbewegung sagen. Eine Durchsicht der Antworten des Innenministeriums auf Anfragen im sächsischen Landtag sowie der Pressemeldungen zum Protestgeschehen zeigt, dass der allergrößte Teil der nicht angemeldeten Versammlungen weder be- noch verhindert wurde oder irgendwelche Konsequenzen nach sich zog.
Eine weitere Auffälligkeit war, dass oftmals unterschieden wurde zwischen einer »extremistischen« Minderheit, die versuchen würde, die Proteste zu vereinnahmen, und einer »nicht-extremistischen« Mehrheit.
Eine fragwürdige Beurteilung, die der sächsische Verfassungsschutz bereits bezüglich der rassistischen Proteste ab 2013 vorgenommen hatte. Damals hatte er die Unterscheidung »asylfeindlich« (extremistisch) und »asylkritisch« (nicht-extremistisch) eingeführt, und damit den rassistischen Einstellungen der bürgerlichen Teilnehmenden die demokratische Absolution erteilt.
Der antidemokratische Charakter vieler auch von der »nicht-extremistischen« Mehrheit vertretenen Inhalte wird so unsichtbar gemacht, letztlich werden jene Einstellungen normalisiert. Bei der Corona-Protestbewegung kommt hinzu, dass sich ab dem Frühjahr 2021 die neugegründete Partei »Freie Sachsen« zum maßgeblichen Akteur entwickelt hatte und somit die Protestierenden Aufrufen einer rechtsextremen Partei folgten.
Der politische Umgang seitens des Freistaates war trotzdem von Toleranz geprägt, und dem Bemühen, die rechten Proteste nicht zu verurteilen und stattdessen in den Dialog zu treten. Das sorgte für deutliche Kritik. Die Sächsische Zeitung bezeichnete den damaligen Innenminister Roland Wöller (CDU) im Winter 2021 aufgrund seiner Untätigkeit als »das größte Sicherheitsrisiko im Freistaat«.
Antidemokratische soziale Bewegung
In Sachsen hat sich eine antidemokratische soziale Bewegung etabliert, die in der Lage ist, zu bestimmten Anlässen in kürzester Zeit mehrere zehntausend Menschen zu mobilisieren und die zudem gewillt ist, ihren Protest notfalls mit Gewalt durchzusetzen. Angesichts der – auch von der sächsischen CDU forcierten – Diskussionen über Migration und Asyl bahnt sich die nächste rechte Protestwelle schon an.
Diese wird von der Erfahrung der letzten Jahre geprägt sein, dass der Staat die rechten Protestierenden auch bei Verstößen und Gewaltausbrüchen gewähren lässt. Das daraus erwachsende Selbstbewusstsein lässt sich sowohl in den Sozialen Medien als auch auf den Straßen beobachten, und stellt eine Gefahr für alle dar, die nicht in ihr Weltbild passen – und damit letztendlich für die Demokratie an sich.
Der Blick auf das »lebendige Versammlungsgeschehen«, aber auch auf das polizeiliche und juristische Vorgehen beim Tag X, wo sämtliche linken Proteste erst verboten und dann mit einem enormen Aufwand und rechtsstaatlich sehr fragwürdigen Mitteln verhindert wurden, zeigt zudem, dass es weniger eine Frage der Gesetze, als des politischen Willens ist, wie mit Protesten im Freistaat umgegangen wird.
Der Autor hat im jüngsten Policy Paper (2024-1) des Leipziger Else-Frenkel-Brunswik-Institut für Demokratieforschung eine Studie zu der Corona-Protestbewegung und dem (Nicht-)Handeln des Freistaates Sachsen veröffentlicht, die hier Online abrufbar ist.
https://efbi.de/files/efbi/pdfs/Policy%20Paper/2024_EFBI_Policy%20Paper_2024-1_InRa.pdf