Wahnsinn und Wirkungsmacht – Der Extremismus-Diskurs
Immer häufiger ist in linken Texten, Redebeiträgen und Post auf allen möglichen Plattformen (auch hier auf knack.news) von „Rechtsextremismus“ zu lesen. Dabei war die Debatte in Sachsen schon einmal weiter. Daher eine Wiedervorlage von Beiträgen https://www.inventati.org/leipzig:
Zauberwort Zivilgesellschaft
(https://www.inventati.org/leipzig/?p=703)
Endet der „Aufstand der Anständigen“ mit der Wiederverstaatlichung des Kampfes gegen Rechts? Ein Sammelband diskutiert den Zustand der Zivilgesellschaft.
Der Zivilgesellschaft ist ein neues Buch gewidmet, das ihre linken KritikerInnen vorgelegt haben: 13 Jahre nach Beginn der Bundesprogramme gegen „Rechtsextremismus“ fragt der Sammelband „Der Sommer ist vorbei…“ nach der Entwicklung parastaatlicher Anti-Rechts-Initiativen seit dem „Aufstand der Anständigen“ im Jahr 2000.
Die im Buch wiederholt aufgestellte Diagnose einer „Verstaatlichung der Zivilgesellschaft“ bestätigt sich durch Tagespolitik: Eine gesonderte „Extremismusklausel“ wird es auf Bundesebene zwar nicht mehr geben. Doch der Tenor der Klausel wird künftig Bestandteil von Zuwendungsbescheiden an geförderte Träger sein. Sie müssen sicherstellen, „dass keine Steuergelder an extremistische Organisationen oder Personen gehen“. Im Zweifelsfall hilft der „Verfassungsschutz“(https://www.inventati.org/leipzig/?p=563), dessen Abschaffung ebenso wenig zu den Forderungen der Zivilgesellschaft gehört, wie sie sich gegen die fortwährenden „Versuche der Begrenzung, Kontrolle und Einhegung“ wehrt.
- Infos zum Buch
Friedrich Burschel/Uwe Schubert/Gerd Wiegel (Hg.) (2014): Der Sommer ist vorbei… Vom „Aufstand der Anständigen“ zur „Extremismus-Klausel“. Beiträge zu 13 Jahren „Bundesprogramme gegen Rechts“, Münster: edition assemblage. – 152 Seiten, 16 Euro. - Mehr Informationen beim Verlag (http://www.edition-assemblage.de/der-sommer-ist-vorbei/)
- Exklusiv: Das Kapitel „Wahnsinn und Wirkungsmacht“ von Doris Liebscher. Wie der Extremismus-Diskurs die Arbeit gegen Nazis torpediert. (im zweiten Teil hier im Beitrag, lohnt sich zu lesen!)
- Kauft das Buch im linken Buchhandel, wir empfehlen das „el libro“!
Zivilgesellschaft, die keine ist
Gerd Wiegel kommt daher in seinem fast programmatischen Beitrag zu dem Schluss, dass die Zivilgesellschaft ihrem Begriff nach schon aufgehört habe, Zivilgesellschaft zu sein, denn den Anspruch nach Selbständigkeit und Selbstorganisation hat sie fahren lassen. Wo sie noch auf Eigeninitiative optiert, ähnele sie umso mehr den „Forderungen des Neoliberalismus, kollektive Sicherungssysteme zugunsten der ‚Eigenverantwortung’ zu schleifen und das Ganze als Gewinn an Freiheit zu verkaufen.“ Umgekehrt sei es der fördermittelabhängigen „Projekte-Szene“ nicht gelungen, ein fortschrittliches Selbstbild durchzusetzen, geschweige denn zu formulieren. Das dazu nötige politische Selbstverständnis fehle nämlich vielen Projekten.
Die AutorInnen des Sammelbandes üben daran eine unterschiedlich weit reichende Kritik, ohne etwa im Falle von Beratungsangeboten für Opfer rechter Gewalt die „Bedeutung und Notwendigkeit dieser zumeist unspektakulären, oft mühsamen und lang andauernden Beratungs- und Unterstützungsarbeit“ (Heike Kleffner) in Abrede zu stellen. Nur ist nicht alles, was nützlich ist, auch politisch richtig, sondern oft durch Rückschritte wie einem „Verlust des diskursiven Einflusses“ erkauft – durchaus selbstverschuldet, weil die „politische Intervention in gesellschaftliche Verhältnisse“ zunehmend durch „strikt professionell begrenzte Sozialarbeit“ abgelöst würde.
Der Anti-Extremismus-Kampf frisst seine Kinder
Solche Diagnosen sind gar nicht neu, verlieren aber vor dem Hintergrund der Diskussionen um die „Extremismus-Klausel“ nichts an Aktualität. Die Herausgeber (Friedrich Burschel, Uwe Schubert, Gerd Wiegel) fragen demnach, ob die Bundesprogramme „dem Extremismus-Begriff erst zu seiner durchschlagenden Wirkmacht verholfen haben oder diese ihn im Diskurs über Nazis nur verfestigt haben“.
Und wie immer man es wendet: Der mit vielen guten Absichten ausgestatteten Projekte-Szene ist es schließlich auf die Füße gefallen, sich auf einen Anti-Extremismus-Kampf eingelassen zu haben, der nun seine Kinder frisst – sofern die nicht Kompromisse eingehen, „die sie in der Zeit davor mit guten Gründen abgelehnt“ hätten.
Es ist nun nicht die Ausnahme, sondern die Regel, dass die Zivilgesellschaft ihren linken Kritikern nicht antwortet. Dennoch wäre es erhellend gewesen, kritischen Reflexionen aus dieser Richtung mehr Platz einzuräumen. Der ist im Buch beschränkt auf ein Interview mit Bianca Klose, Leiterin der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus in Berlin (MBR). Wenn sie sagt, dass die zivilgesellschaftliche „Leidenschaft so weit geht, notfalls auch die ‚gebende Hand’ zu beißen“, dann ist das ermutigend. Aber nicht repräsentativ.
Die Behauptung, es gebe „mittlerweile in ganz Deutschland so etwas wie eine funktionierende, kontinuierlich arbeitende und mobilisierungsfähige zivilgesellschaftliche Struktur“, dann ist das optimistisch. Aber für viele Landstriche wie auch gewisse Teile der „Struktur“ schlicht unzutreffend.
Zum Verständnis wichtig gewesen wäre freilich der Hinweis, dass die MBR – gerade, was die Ablehnung der „Extremismus-Klausel“ angeht – in einer komfortablen Lage ist: Die Verweigerung der Unterschrift führte nicht zum Ende des Projekts, sondern zum Wechsel in einen klauselfreien Geldtopf. Ein vergleichbares Vorgehen wäre in Sachsen, wo es eine landeseigene Klausel weiterhin geben wird, nicht möglich.
Sozialkritischer Anker fehlt
Das große Manko des Buches ist, dass es für die diskutierten Themen viel zu schmal ausfällt, manches daher zu Ungunsten einer adäquaten Darstellung nur angeschnitten werden kann. Gern hätte man mehr erfahren über längst kassierte, kritische Zivilgesellschafts-Projekte wie AMAL, die aber nur ganz am Rande vorkommen. Katrin Reimers Behauptung, die Abschaffung des Grundrechts auf Asyl sei unter dem Eindruck der pogromartigen Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen zustande gekommen, stimmt bei näherer Betrachtung nicht, denn die nicht unwesentliche Initiative zum Gesetz zur Neuregelung des Asylverfahrens gab es vor Lichtenhagen.
Auch Reimers Annahme, etliche Verbote von Organisationen der extremen Rechten in den 1990er Jahren hätten nicht viel gebracht, ist zu einfach, um wahr zu sein. Schlicht falsch ist die Behauptung, dass für die Verbote lediglich die Gewaltbereitschaft jener Gruppierungen, nicht aber deren Ideologie eine Rolle gespielt habe.
Abgesehen davon ist Reimers Beitrag mit großem Gewinn zu lesen: Er verfolgt den Wechsel von einer täter- zu einer opferzentrierten (Jugend-) Arbeit und bemängelt das Fehlen eines „sozialkritischen Ankers“: „Selbst dort, wo, wie etwa angesichts der Mobilisierungsstrategien der NPD, eine Analyse von Prozessen der Ethnisierung der sozialen Frage offensichtlich notwendig erscheint, wird die kritische Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus nicht als Anlass der Thematisierung der sozialen Frage genutzt.“ Dieser Aspekt hätte mehr Buchseiten beanspruchen sollen.
Politische Interventionen auf Sparflamme
Denn das scheint tatsächlich der Eckpunkt einer Kontroverse zu sein, die auszutragen offen bleibt. Heike Kleffner etwa weiß von gelungenen Zivilgesellschafts-Interventionen im kommunalen Raum und wählt als Beispiel Schneeberg – obwohl dort die Intervention aus expliziten Antifa-Zusammenhängen kam. Schneeberg dürfte eher ein Beispiel für die Kritik Reimers sein, Politiken der Ethnisierung nicht zu thematisieren. Mehr noch: Nachdem die jüngste rassistische Welle in Sachsen bereits ein Jahr anhält, gibt es aus der „heimischen“ Zivilgesellschaft überhaupt nichts, was mit viel gutem Willen als Situationsanalyse durchgehen könnte.
Hier ist Uwe Schubert recht zu geben: „Politische Interventionen, die den nach wie vor evidenten Zusammenhang zwischen Neonazis, staatlichem Rassismus und den rassistischen Einstellungen der Mehrheitsbevölkerung thematisieren, sucht mensch vergebens.“
In folge eines Anpassungsprozesses seien die Projekte weitgehend mundtot gemacht worden und würden politische Stellungnahmen höchstens „in eigener Sache“ abgeben. Nur in Sachsen, da passiert nicht einmal mehr das.
Was hat das mit der DDR zu tun?
Norbert Madlochs abschließender Beitrag über „Nazis in Ostdeutschland vor und nach der Wende“ fällt aus der Systematik des Buches und ist leider in sich widersprüchlich, auch hier liegt das Problem in der Kürze: Dass ein verstärktes Aufkommen des „Rechtsextremismus“ in der DDR zeitlich zusammenfällt mit der „gesellschaftlichen Krise“ des Sozialismus stimmt zwar, es wäre aber nötig gewesen, den hier unterstellten Kausalzusammenhang wenigstens im Ansatz zu erklären.
Dafür genügt der Hinweis auf „völkisch-nationalistische Denkweisen“, die auch in der DDR-Bevölkerung nie verschwunden waren, ganz und gar nicht: Warum sind diese Denkweisen gerade zu Beginn der 1980er Jahre wieder auf den Plan getreten, und warum waren deren Träger vor allem Jugendliche und Heranwachsende?
Was die Abschätzung der Tragweite damaliger Entwicklungen angeht, ist es übrigens unverständlich, sich nach wie vor auf Zahlen der Staatssicherheit zu stützen, wo doch Harry Waibel vor zwei Jahren mit dem Buch „Rassisten in Deutschland“ eine Materialsammlung vorgelegt hat, die als verlässlichere empirische Grundlage zu bevorzugen wäre.
Grenzen ziehen!
Vor dem Hintergrund des Buch-Titels ist das aber auch nicht entscheidend. Ein entscheidender Dissens dagegen – neben der Frage nach dem Grad an Entpolitisierung der Zivilgesellschaft – ist wieder nur versteckt zu finden: Welche Praxis-Perspektiven ergeben sich, wie kann und soll man künftig mit der Zivilgesellschaft zusammenarbeiten?
Während Klose eine „funktionale Aufgaben- und Arbeitsteilung“ als gegeben voraussetzt, wirbt Henning Obens für eine besser austarierte Kooperation und Uwe Schubert für einen „entspannten Umgang“. Es ist nur nicht klar, woher angesichts der teils weitgehenden Kritik dieser Pragmatismus kommt.
Wenn Klose auffordert, „Grenzen der Zumutbarkeit zu benennen, jenseits derer man vielleicht auch nicht mehr bereit ist, weiterzuarbeiten“, dann sollte man sie beim Wort nehmen: Sind solche Grenzen nicht längst erreicht – oder sind die Trends zu Entpolitisierung und Verstaatlichung noch steigerungsfähig? Ist angesichts solcher Tendenzen wirklich noch eine Zusammenarbeit anzustreben, ganz gleich, wie gut sie „austariert“ ist?
Das Buch zieht solche Schlüsse nicht, liefert aber wertvolle Anhaltspunkte für die künftige Diskussion. Sie könnte sich um die Frage drehen, ob nicht die Zivilgesellschaft selbst der passende Ort für eine radikale Intervention sein könnte. Und ob in einem Moment, in dem das nicht mehr fruchtet, ein bewusster Bruch die richtige, die politische Antwort wäre.
Quelltext: Wahnsinn und Wirkungsmacht
(https://www.inventati.org/leipzig/?page_id=690)
Der Extremismus-Diskurs torpediert die Arbeit gegen Nazis, Ungleichheitsideologien und Diskriminierung:
Ein Plädoyer für Demokratie und gegen den Extremismus-Begriff
Von Doris Liebscher
Mit freundlicher Genehmigung dokumentieren wir hier ein Kapitel (Seiten 103 bis 118) aus dem Anfang 2014 erschienenen Buch Der Sommer ist vorbei… Vom “Aufstand der Anständigen” zur “Extremismus-Klausel”.
Zur besseren Lesbarkeit wurde hier auf die Wiedergabe der Fußnoten verzichtet.
Der Begriff “Extremismus” und die fatalen Folgen seiner Verwendung werden zu Recht mit dem Namen Kristina Schröders verbunden. Die Einführung der “Extremismus-Klausel” für Fördermittel aus den Bundesprogrammen “Toleranz fördern – Kompetenz stärken” und “Zusammenhalt durch Teilhabe” basiert maßgeblich auf ihrer Initiative, wie auch das Programm “Initiative Demokratie stärken” gegen “Linksextremismus und islamistischen Extremismus”.
Die Verkürzung komplexer gesellschaftlicher Problemlagen auf “extremistische Ränder”, die Gleichsetzung linker und rechter Aktionsformen und Gesellschaftsvisionen und die Kriminalisierung zivilgesellschaftlicher Interventionen gegen Nazis, Ungleichheitsideologien und Diskriminierungspraxen sind jedoch Ausdruck einer politischen Programmatik, für die Schröder nur exemplarisch steht.
Die Initiative zur Einführung einer “Extremismus-Klausel” für Fördergelder des Bundes ging jedoch bereits 2004 vom damaligen Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) aus, seit 2005 war sie meist unbemerkter Teil der Förderrichtlinien. Auch wenn die gegenwärtige Bundesregierung stärker als ihre Vorgängerinnen dazu bereit ist, den Extremismus-Ansatz auch in der Förderpolitik umzusetzen, hat der Ansatz selbst eine lange Tradition und seine erfolgreiche Verankerung in politischen, medialen und Alltagsdiskursen viele Verantwortliche.
Warum ist ein empirisch unhaltbarer, wissenschaftlich delegitimierter und zur Bekämpfung von Nazistrukturen und Ungleichheitsideologien ungeeigneter Ansatz so erfolgreich?
Dieser Beitrag nähert sich zunächst einer kurzen Darstellung des Extremismus-Ansatzes, seiner Funktionen und seinen Folgen, und zwar aus der Perspektive der Begriffsgeschichte in der Bundesrepublik Deutschland. Daran soll sodann gezeigt werden, dass Wahnsinn und Wirkungsmächtigkeit der Extremismus-Formel nur mit einer konsequenten Zurückweisung des Konzeptes in der politischen Beratungs-, Bildungs- und Kampagnenarbeit beizukommen ist.
Logik, Funktionen und Folgen der Extremismus-Formel
Mitte, Normalität und FDGO
Die sogenannte Extremismus-Klausel enthält zwei Teile, eine Positionierung gegen “Extremismus” und das Bekenntnis zur freiheitlich demokratischen Grundordnung (FDGO). Das ist paradox und folgerichtig zugleich. Beide Konzepte definieren sich nämlich ex negativo wechselseitig, sind zwei Seiten einer Medaille.
Verschiedene wissenschaftliche Gutachten zur Extremismusklausel, die die rechtliche Unbestimmtheit des Begriffs bemängeln, verwenden die Begriffe “verfassungsfeindlich” und “extremistisch” synonym oder schlagen eine “Klarstellung” dahingehend vor, dass mit extremistisch “verfassungsfeindliche Organisationen, die sich gegen die FDGO richten, gemeint sind”.
Die Definitionsmacht darüber, wer “verfassungsfeindlich” bzw. “gegen die FDGO” ist, haben in der Praxis der “Verfassungsschutz” und seine Extremismus-Expert_innen. Das “Bundesamt für Verfassungsschutz” nennt Aktivitäten extremistisch die “darauf abzielen, die Grundwerte der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu beseitigen”.
Laut Eckhard Jesse und Uwe Backes ist der Begriff eine “Sammelbezeichnung für unterschiedliche politische Gesinnungen und Bestrebungen […], die sich in der Ablehnung des demokratischen Verfassungsstaates und seiner fundamentalen Werte und Spielregeln einig wissen, sei es, dass das Prinzip menschlicher Fundamentalgleichheit negiert (Rechtsextremismus), sei es, dass der Gleichheitsgrundsatz auf alle Lebensbereiche ausgedehnt wird und die Idee der individuellen Freiheit überlagert (Kommunismus), sei es, dass jede Form von Staatlichkeit als ‘repressiv’ gilt (Anarchismus).”
Nach dieser Logik kann jede an Freiheit, Gleichheit und Hierarchieabbau orientierte Gesellschaftskritik, die nicht oder nicht ausschließlich auf die parlamentarische Demokratie, den bürgerlichen National-Staat oder ein kapitalistisches Ökonomiemodell setzt, als extremistisch gelten. Rechtsextrem, linksextrem, Ausländerextremismus, Ökoterrorismus, Islamismus, radikaler Feminismus, politischer Dogmatismus, Hooliganismus, marxistisch, anarchistisch: die Liste der “Extremismen” ist so lang wie die Begriffsdefinition konturenlos.
Inhalte und Differenzen der einzelnen als “extremistisch” klassifizierten Phänomene, Ideologien und Konzepte werden nicht bzw. nur sekundär analysiert. Wer sich positiv auf die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie bezieht und laut über eine egalitäre Gesellschaft nachdenkt, wird in /eine/ Schublade gesteckt, die beschriftet ist mit “Überhöhung des Gleichheitspostulats” und “Linksextremismus”.
Ob es sich um Anhänger_innen des orthodoxen Marxismus-Leninismus, Stalinismus oder autoritärer Realsozialismus wie der DDR handelt oder um linke Kritiker_innen dieser Modelle, ist dabei völlig egal.
Grafische Visualisierungen wie das Kreismodell oder das Hufeisen, dessen Enden sich annähern, suggerieren zudem, “Links-” und “Rechtsextremisten” bekämpften gemeinsam die demokratische Mitte und seien einander näher als z.B. “Rechter Rand” und “Mitte« es sich jemals sein könnten.
Das Konzept ist kein analytisches, sondern ein formalistisches und normatives, das sich um gesellschaftspolitische Inhalte nicht schert. Die “Extreme” gleichen sich formal in ihrer Geschiedenheit vom Normalbereich und in ihrer Ablehnung des Normalen.
Das Hufeisen ähnelt einer umgekehrten Gaußschen Normalverteilungskurve, die politische Normalitätsbereiche (gemäßigt, demokratisch) und Abweichungen (extrem) abbilden soll und diese doch erst konstruiert.
Das prägt sich ein, das bietet einfache Erklärungen für komplexe gesellschaftliche Zusammenhänge, das entlastet von unangenehmen Fragen an die eigene Privilegierung und Verstrickung, das delegiert Verantwortung an “die Ränder”.
Die ” demokratische Mitte” definiert und vergewissert sich ihrer moralischen Legitimität erst in Abgrenzung zu ihrem vermeintlich “Anderen”, den sogenannten linken, rechten und ausländischen/islamistischen Extremen, von denen sie sich bedroht sieht. Sie inszeniert sich als resistent oder “wehrhaft” gegenüber regressiven, undemokratischen Entwicklungen und muss so über die eigenen Ungleichwertigkeitsvorstellungen nicht
reden.
Das zeigt auch die Aufnahme des “Islamismus” in den Kreis der Extremismen. Der Begriff hat seit einigen Jahren die offen rassistische Kategorie des “politischen Ausländerextremismus” ersetzt, ohne freilich seine rassistischen Implikationen zu verlieren. Als extremistischer Islamismus wird die Gegner_innenschaft zu “westlichen demokratischen Staats- und Gesellschaftsformen” definiert.
Die Probleme fundamentalistisch islamistischer Bestrebungen, z.B. Antisemitismus, Homophobie und Sexismus, finden sich freilich genauso in christlich fundamentalistischen Strömungen, wie auch bei solchen Mehrheitsdeutschen, die sich selbst als säkular verstehen.
Doch die sind nicht die eigentliche Zielgruppe des neuen Bundesprogramms “gegen Linksextremismus und islamistischen Extremismus”. Die diskursive und programmatische Verortung des Problems bei den “Muslimen” geht einher mit deren Konstruktion als antisemitischen, frauenfeindlichen Anderen und der Konstruktion der Eigengruppe des zivilisierten, emanzipierten, toleranten westlich-christlichen Subjekts.
Pathologisierung, Moralisierung, Repression: Wie man das Naziproblem nicht in den Griff bekommt
Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit diskriminierenden Einstellungen, Wissensbeständen und Diskursen in der Gesellschaft findet nicht statt. Solange Nazis nicht als Anhänger_innen einer nationalsozialistischen Weltanschauung ernst genommen, sondern als gesellschaftliche Randerscheinung gedeutet werden, muss jede Arbeit, die ihre Verankerung in der Gesellschaft thematisiert, an den Widerständen scheitern, die die selbsternannten Mitglieder der “Mitte” einer Charakterisierung ihrer Ansichten und Handlungen als “extrem” entgegensetzen.
Doch wie erklären diese den Widerspruch zwischen der Mitte-Rand-Konstruktion und den rassistischen, antisemitischen oder homophoben Äußerungen und Handlungen in der eigenen Lebenswirklichkeit? Sie werden als Import von “Außen” abgewiegelt und – ganz im Sinne des Schemas von Norm und Normabweichung – pathologisiert.
Die Protagonist_innen gelten als dumme Jungs (seit Beate Zschäpe sind nun auch die Mädchen in den Blick geraten), verwirrt, gefährlich oder krank. “Rechtsextremismus” wird als Droge beschrieben die “das gesunde Maß” überschreitet, er verführt, missbraucht, “vergiftet unsere Jugend«” bzw. unsere Demokratie. Dagegen helfen nur die starke Hand von Vater Staat oder die heilenden Hände von Mutter Sozialarbeit.
Deshalb werden zum einen repressive, ordnungsrechtliche Lösungen wie Verbote präferiert. Zum anderen floss ein nicht unerheblicher Teil der Fördermittel in die Arbeit mit Aussteiger_innen oder rechten Jugendlichen, sei es zunächst in der Variante des AgAG-Programms oder vermittelt über Gelder für offene Jugendarbeit, die faktisch Freizeitangeboten für rechte Jugendliche gleichkommen. Opferberatungsangebote und Antidiskriminierungsbüros haben dagegen einen ungleich schwereren Stand.
In das oberflächliche Schema der Normabweichung passt, dass “Extremismus” meist als Problem von Jugendlichen, von individuellen Gewalthandlungen und als Verstoß gegen Ruhe, Ordnung und Gesetzestreue verhandelt wird. Dabei wird weder zwischen Gewalt gegenüber Menschen und Sachen noch bezüglich strukturellen Macht- und Gewaltkonstellationen differenziert. Autos anzünden, Farbeier werfen und Menschen umbringen, Angriffe auf People of Color oder linke Wohnprojekte, Notwehrhandlungen gegen solche Angriffe, Sitzblockaden gegen hochgerüstete Polizeieinheiten, Hakenkreuze an einem Dönerimbiss oder “Nazis raus”-Sprühereien an einem Geschäft, das Nazimusik vertreibt: alles “Extremismus”.
Auch auf der Einstellungsebene wird nicht unterschieden zwischen einer Utopie, die von der Gleichwertigkeit aller Menschen ausgeht und die gleiche Teilhabe aller an politischen, kulturellen und materiellen Ressourcen anstrebt, und einer Ideologie, die der naturgegebenen Hierarchisierung und Ausgrenzung anhand von Kategorisierungen wie Geschlecht, “Rasse” oder Leistungsfähigkeit das Wort redet. Genauso bleiben die vielfältigen Formen der Diskriminierung unterhalb der Ebene körperlicher Gewalt unbearbeitet.
Die offene oder subtile Ausgrenzung von Menschen, die als dem eigenen Kollektiv nicht zugehörig angesehen werden, wird mit dem Wort Alltagsdiskriminierung problematisierbar. Dieses Problem ist viel schwerer von einem Umfeld abzugrenzen, das zwar seinen Vorurteilen nicht gewalttätig Gehör verschaffen würde, aber die zur Gewalt führenden Unterscheidungen genauso trifft wie die Nazis.
Der Extremismus-Ansatz basiert nicht nur auf einem verkürzten Verständnis von sozialen Herrschaftsverhältnissen wie Rassismus oder Heterosexismus/Heteronormativität, er reproduziert sie auch. Rassismus, um im Beispiel zu bleiben, ist danach die individuelle feindselige Abwertung und Behandlung von Fremden. Rassismus gilt ausschließlich als ein Problem von Nazis oder “Fremdenhassern”. Das ist schlimm, hat aber mit uns nichts zu tun.
“Wollen Sie mir etwa Rassismus unterstellen? Ich bin doch kein Nazi!” Eine Auseinandersetzung mit tradierten rassistischen Bildern und rassistischer Sprache, mit Alltagsdiskriminierung und strukturellen Rassismen, die über Staatsangehörigkeit, ausländerrechtliche Regelungen, globale Reichtumsverteilung weiße Privilegien stützen, unterbleibt. Auch das spiegelt sich in den Förderrichtlinien wider, die auf die Bekämpfung
von “Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit” statt von Rassismus und Diskriminierung setzen.
Die Extremismus-Formel führt schließlich zu einer Moralisierung und Entpolitisierung der Politik. Opponent_innen werden nicht als Gegner_innen betrachtet, mit denen eine politische Auseinandersetzung zu führen ist, sondern als Feinde, die bekämpft werden müssen.
Moralische Kategorien (z.B. freiheitlich demokratische Grundordnung = Gut vs. Extremismus = Böse) ersetzen politische Antagonismen (z.B. repräsentative Demokratie vs. Führerstaat; gleiche Teilhabe für alle vs. rassistische Ungleichheit). Das moralische Urteil ersetzt eine politische Analyse und verhindert gerade eine lebendige antagonistische Sphäre der öffentlichen Auseinandersetzung.
Das verweist auf das problematische Demokratieverständnis der Apologet_innen der Formel. Ihre Leitmotive heißen nicht Partizipation und streitbare Einmischung, sondern Konsens, Ruhe, Ordnung und Gehorsam gegenüber staatlicher Autorität.
Die Rezepte setzen sich aus Bekenntnissen zur Verfassung, z.B. in Form der Extremismus-Klausel, staatliche Überwachung durch den “Verfassungsschutz” und staatlich institutionalisierte Führung und Leitung zusammen.
So wird Druck auf Kritiker_innen ausgeübt, die ihre Position nicht dem vermeintlichen Gemeinwohl (Kampf “gegen Extremismus für Demokratie”) unterordnen wollen, sondern dieses Gemeinwohl inhaltlich zur Diskussion stellen, die Unabhängige Beratungsangebote oder selbstverwaltete partizipative Jugend- oder Stadtteilangebote fordern, die sich explizit von Nazis abgrenzen und nicht mit einem leeren Toleranzbegriff, der gesellschaftliche Machtverhältnisse einfach ausblendet, operieren wollen.
Die Forderung nach dem Antiextremismus-Konsens ist eine repressive. Im Kontext der realen Machtverhältnisse heißt Repression: Wer sich nicht gegen “Extremismus” / zur FDGO bekennt, bekommt keine Fördermittel, wer weiter offiziell mit der örtlichen Antifa kooperiert, dem/der werden die Mittel gestrichen oder unter Umständen die Gemeinnützigkeit aberkannt.
NGOs, die vom Staatstropf abhängig sind, würden widrigenfalls ihre Existenz als Projektträger aufs Spiel setzen. Der politisch nachvollziehbare Akt der individuellen Verweigerung erscheint angesichts der Belange ihrer Klient_innen und Mitarbeitenden unverantwortlich und erhöht so den durch die Extremismus-Formel aufgebauten Druck: Jenseits der materiellen Abhängigkeit vom Staatstropf droht der Ausschluss aus dem Bereich des politisch Sagbaren und die Verweisung in den Bereich des “Extremismus”.
Jürgen Seifert bezeichnete die fragwürdigen “Verfassungsschutz”berichte der 16 Landesbehörden und des Bundesamtes für “Verfassungsschutz” schon 1979 “hoheitliche Verrufserklärung”. Dissidente oder auch nur als dissident angenommene Organisationen, die dort aufgeführt sind, werden aus Kooperationsmodellen, z.B. Bündnissen, ausgeschlossen und gelten nicht mehr als ernst zu nehmende Gesprächspartner_innen. Diese Gefahr ist mindestens genauso wirkungsmächtig wie der Fördermittelentzug.
Zu einem positiven Verstehen und aktiven Erleben politischer Partizipations-, Diskussions- und Entscheidungsprozesse trägt das formelhafte Bekenntnis nicht bei. Formale Bekenntnisse gegenüber staatlichen Kontrollinstanzen sind für das Ziel der Demokratiestärkung schlicht nicht geeignet.
Die geforderte Unterordnung unter autoritäre Vorgaben befördert sogar antidemokratische Einstellungsmuster. Darauf weisen z.B. Decker/Brähler in ihren Untersuchungen zu “Autoritarismus und rechtsextreme Einstellung” hin: “Gehorsam, Autorität, also Werte der Unterwerfung, sind den meisten Rechtsextremen wichtig, genauso wie die aggressive Verfolgung von Abweichung. Auffällig ist allerdings die Akzeptanz, die diese Position in der breiten Bevölkerung hat.”
Traditionslinien
Wehrhafte Demokratie und FDGO
Nach der Logik der Extremismus-Formel gilt es den demokratischen Verfassungsstaat gegen politische Extreme zu verteidigen. Begründet wird das mit dem Konzept der “wertgebundenen und wehrhaften Demokratie” als Reaktion auf das “Trauma von Weimar”.
Nun ist das Ziel, nach den Erfahrungen des Nationalsozialismus menschenrechtliche Mindeststandards und demokratische Grundfreiheiten zu formulieren und absichern zu wollen, absolut richtig. Fraglich ist die Wahl der konkreten Mittel. Wertgebundene Demokratie meint die normative Festlegung unabänderlicher Verfassungsprinzipien.
Wehrhaft soll die Demokratie durch die Möglichkeit der präventiven Einschränkung von Freiheitsrechten werden. Mit Verweis auf die FDGO kann z.B. das Grundrecht auf Wahrung des Brief-, Post-, und Fernmeldegeheimnisses eingeschränkt werden, wird die u.U. geheimdienstliche Beobachtung durch “Verfassungsschutz”-Behörden gerechtfertigt, können Parteien und Vereinigungen verboten und seit Einführung der Extremismus-Klausel Fördergelder verweigert werden.
Durch die Verpflichtung auf die FDGO sind also im demokratischen Prozess selbst bereits Verkürzungen seiner zentralen Freiheiten enthalten. Seit Inkrafttreten des Grundgesetzes wurden diese Einschränkungen von anfangs drei auf heute sieben Grundgesetzartikel ausgeweitet.
Kritische Jurist_innen, die vor der Einschränkung der Demokratie im Namen der Demokratie warnten, mahnten schon in den 1970er Jahren: “Der Machtzuwachs für die Administration wird mit dem Feindbild gerechtfertigt, das die FDGO-Formel nährt. (…) Am Ende könnte der staatlich gesteuerte Numerus clausus der politischen Idee mit der Superbehörde ‘Verfassungsschutz’ als zentrale Vergabestelle für Denklizenzen stehen.”
Eine Definition der FDGO steht nicht im Grundgesetz. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) etablierte sie in den Urteilen zum Verbot der Sozialistischen Reichspartei von 1952 und zum Verbot der KPD 1956. Danach ist die FDGO “eine Ordnung, die unter Ausschluss jeglicher Gewalt und Willkürherrschaft eine rechtsstaatliche Herrschaftsordnung auf der Grundlage der Selbstbestimmung des Volkes nach dem Willen der jeweiligen Mehrheit und der Freiheit und Gleichheit darstellt.
Zu den grundlegenden Prinzipien dieser Ordnung sind mindestens zu rechnen: die Achtung vor den im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechten, vor allem vor dem Recht der Persönlichkeit auf Leben und freie Entfaltung, die Volkssouveränität, die Gewaltenteilung, die Verantwortlichkeit der Regierung, die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, die Unabhängigkeit der Gerichte, das Mehrparteienprinzip und die Chancengleichheit für alle politischen Parteien mit dem Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition.”
Die beiden Verbotsurteile zeigen, dass das Recht und seine Anwendung nie weltanschauungsneutral, sondern immer auch politisch motiviert sind. Im Fall der SRP begründete das Bundesverfassungsgericht das Parteiverbot mit deren offenem Bekenntnis zu “Rasse”- und Führerstaat und der Wesensverwandtschaft zur NSDAP. Im Gegensatz zur SRP, die noch 1951 bei den Niedersächsischen Landtagswahlen 11 Prozent, in einigen Gemeinden sogar über ein Viertel der Stimmen errungen hatte, war die KPD 1956 zum Zeitpunkt ihres Verbotes nahezu bedeutungslos und bekannte sich zur freiheitlichen Demokratie.
Das BVerfG konstatierte nichtsdestotrotz, die Partei strebe als Fernziel “die Errichtung einer sozialistisch-kommunistischen Revolution und der Diktatur des Proletariats an”, das ergäbe sich schon daraus, dass die KPD die Sowjetunion preise, wo “die Diktatur des Proletariats bereits verwirklicht” sei.
Materielle Tathandlungen im Sinne der Vorbereitung eines revolutionären Umsturzes oder illegaler politischer Mittel spielten in der Urteilsbegründung keine Rolle. Das Gericht erkannte sogar an, dass von der “Splitterpartei” KPD keinerlei Gefahr ausgehe.
Die “aktiv kämpferische Haltung” leitete das Gericht allein aus der inhaltlichen Bewertung von Parteiprogramm und Parteitagsreden ab. Dazu genügte es schon, dass die bürgerliche Demokratie als “Klassenideologie” charakterisiert wurde. Verfassungsfeindlich sei die KPD wegen der “Untergrabung der inneren natürlichen Autorität und damit der Legitimation der FDGO”, der “Schmähung und Verächtlichmachung der Verfassungsordnung der Bundesrepublik”. Aufgabe der Parteien im demokratischen System sei es dagegen, “an der Festigung ihres Ansehens (der FDGO) im Volke mitzuarbeiten”.
Das Urteil hatte weitreichende Folgen, z.B. die Berufsverbote gegen vermeintliche Kommunist_innen, Forderungen nach einem Verbot der Grünen wegen parlamentarischer Illoyalität in den 1980ern und die Legitimation der geheimdienstlichen Beobachtung von Parteien und Vereinigungen unter dem Vorwurf des Kommunismus.
In der Folge des Urteils wurde der Präventionsgedanke noch ausgedehnt. Auch gegen Mitglieder und Anhänger_innen von legalen Parteien und Vereinigungen konnten z.B. Berufsverbote wegen Mitgliedschaft in “noch nicht verbotenen Parteien” verhängt werden.
Die Definitionsmacht verlagerte sich zunehmend vom Bundesverfassungsgericht auf die Ebene der Exekutive. Heute bestimmen die Innenministerien/der “Verfassungsschutz”, wer verfassungsfeindlich respektive “extremistisch” ist.
2010 kam das Bundesverwaltungsgericht unter Berufung auf zentrale Passagen des KPD-Verbotsurteils und Berichte des “Verfassungsschutzes” zu dem Ergebnis, die Beobachtung des Abgeordneten der LINKS-Partei Bodo Ramelow durch den “Verfassungsschutz” sei zum Schutz der FDGO rechtmäßig.
Begründet wurde das u.a. mit dem “extremistischen” Charakter der “Linksjugend solid« (Jugendorganisation der Partei Die Linke), die das Gericht vor allem auf eine Veröffentlichung stützte, in der die Gruppe “den Parlamentarismus als ‘Kasperletheater zur Legitimation kapitalistischer Verhältnisse’ verunglimpft”.
Sie wolle das Parlament lediglich für ihre Zwecke instrumentalisieren, indem sie es als “Bühne (…) für den Kampf um eine gerechtere Welt” nutze, der “schwerpunktmäßig außerhalb der Parlamente”
stattfinden solle.
Der rechtliche FDGO-Begriff ist bis heute interpretationsoffen. Er bleibt weitgehend formalen Organisationsprinzipien, der konstitutionellen Komponente des Staates, verhaftet. Durch die grundgesetzliche Festlegung auf eine repräsentative parlamentarische Demokratie geraten radikaldemokratische etatismuskritische (also staatskritische) Politikmodelle schnell in ein verfassungsfeindliches Licht.
Hannah Arendt, die der rein repräsentativen Demokratie kritisch gegenüberstand und Rätesysteme bzw. Formen direkter Demokratie forderte, sähe sich heute wahrscheinlich dem Vorwurf des “Extremismus” ausgesetzt.
Demokratiemodelle die den “Gedanken einer Herrschaft von Menschen über andere Menschen ablehnen”, gelten nach herrschender Rechtsauffassung als “leerer Traum”, “irreal” und “Gefahr” für die FDGO, “das Volk” bedürfe demgegenüber “besonderer Organe der Leitung und Willensbildung”. Einschränkungen der “Volkssouveränität” innerhalb des gelobten Systems werden von den Apologet_innen der repräsentativen Demokratie dagegen nicht problematisiert.
Dazu zählt z.B. die grundgesetzliche Beschränkung des aktiven und passiven Wahlrechts auf deutsche Staatsbürger_innen über 18 Jahre. Im Zusammenhang mit einem immer noch auf Abstammung fokussierten Staatsangehörigkeitsrecht sind Millionen Menschen in Deutschland von jeder demokratischen Mitbestimmung ausgeschlossen.
Die inhaltlich-demokratische Komponente (Menschenrechte) der FDGO ist weitgehend unbestimmt. Ein explizit antifaschistisches Bekenntnis ist z.B. nicht Teil der FDGO. Entgegen der weit verbreiteten Auffassung, “die Grundrechte gehören zum Kern der FDGO” zählt auch nicht jede Bestimmung dazu.
Das in Art. 14 GG geschützte Eigentum gehört z.B. nach herrschender Rechtsauffassung nicht zum Kernbestand der Verfassung. Die Forderung nach Abschaffung des Privateigentums wäre danach keine Infragestellung der FDGO.
Auch Art. 16 a GG z.B. darf kritisch zur Disposition gestellt werden, und zwar in antirassistischer Absicht (Kritik an der faktischen Abschaffung des Asylrechts), aber auch in rassistischer Intention (Forderung der Abschaffung des Asylrechts).
Bereits diese Beispiele zeigen, dass nicht abschließend feststeht, was freiheitlich, gleich und demokratisch bedeuten soll. Es handelt sich erstens um interpretationsoffene Begriffe, die zweitens auch von Richter_innen und Rechtslehre anhand sich verändernder gesellschaftlicher Wertvorstellungen und politischer Anschauungen gefüllt werden.
Die unpräzisen Formulierungen räumen den Staats- und “Verfassungsschutz”behörden weitgehende Entscheidungsspielräume ein. Angesichts dessen ist es alles andere als selbstverständlich, pauschale Bekenntnisse zur FDGO bzw. zu “wesentlichen Bestandteilen unseres Grundgesetzes” zu fordern, zu unterstellen oder abzulegen.
Jenseits der und über die FDGO hinaus gibt es eine lange Tradition ganz unterschiedlicher Konzeptionen von Freiheit, Gleichheit, Demokratie und Gesellschaft, die eine kritische Auseinandersetzung mit dem Konzept der FDGO geradezu herausfordern.
Totalitarismus-Doktrin und Extremismus-Formel
Die Ex-negativo-Abgrenzung zum totalitären Staat zeichnete die FDGO seit ihrer Entstehung aus. Die FDGO sei “ganz spezifisch vom Gegensatz zum totalitären Staat geprägt, also von der Vorstellung einer Grundordnung her, wie sie /nicht/ sein soll”, heißt es in einem bekannten juristischen Grundgesetz-Kommentar. Ihr Begriff ergäbe sich durch Abzug dessen, “was wir auf Grund unserer geschichtlichen Erfahrung mit totalitären Unrechtsregimen als politische Ordnung unbedingt nicht wollen”.
Sie ist mehr als eine Antwort auf den Nationalsozialismus, nämlich der in Rechtsform gegossene Totalitarismus- Diskurs der Nachkriegszeit. Das “Wir” der FDGO wurde von Anfang an in Abgrenzung zu Nazi-Deutschland /und/ zur Sowjetunion/DDR bestimmt als “Entgegnung zum totalitären Staat des Faschismus und Kommunismus, zur volksdemokratischen oder militärischen Diktatur”.
Auch der damals erst kurz zurückliegende Nationalsozialismus wird in Grundgesetzkommentierungen aus den 1950ern als “fremder totalitärer Anschauungsunterricht” bezeichnet, was allein angesichts der personellen Kontinuitäten in Rechtswissenschaft, “Staatsschutz” und Justiz ungeheuerlich ist.
Deutlich wird hier eine zentrale Funktion der Totalitarismustheorie nach 1945. Sie ermöglichte eine scheinbare Entnazifizierung ohne Auseinandersetzung mit der eigenen Verantwortung im NS und den eigenen verinnerlichten nationalsozialistischen Ideologiefragmenten. Die neuen Bundesbürger_innen imaginierten sich selbst als Opfer der “Hitler-Diktatur” und konnten deren totalitäres Erbe auf der anderen Seite des eisernen Vorhangs in der “gegenwärtigen Bedrohung des Stalinismus” ausmachen.
In dieses Bild reiht sich die Analyse des Nationalsozialismus im BVerfG-Urteil zum SRP-Verbot ein: Die Staatsbürger_innen, die ihrer autoritären Führung zujubelten und die systematische Vernichtung von Millionen von Menschen ohne nennenswerten Widerstand hinnahmen, tauchen in der Entscheidung des BVerfG nur als durch Hitler und die NSDAP verführte und beherrschte Opfer auf.
Die totalitarismustheoretische Interpretation der FDGO ist bis heute wirkungsmächtig, die Extremismus-Formel ist ihre modernisierte Variante. Kritik an der bestehenden Gesellschaftsordnung oder Vorschläge, die über sie hinausweisen, werden mit Verweis auf “die totalitären Unrechtsregime” in den Bereich der Spinnerei oder der Verfassungsfeindlichkeit verbannt.
Der bürgerliche Staat und die kapitalistische Gesellschaftsordnung gelten demgegenüber als “Reich der Freiheit«” und der positive Bezug darauf als “weltanschauungsneutral”. Extrem, totalitär und ideologisch sind immer “die anderen”.
Damit werden die Ursachen des Naziproblems nicht erfasst. So wie die Weimarer Republik eben nicht von links und rechts zerstört wurde, sondern aus der parlamentarischen Mitte und dann durch ein Bündnis aus gewählten Faschisten und Konservativen, wirken auch heute menschenfeindliche, diskriminierende und antidemokratische Einstellungen und Handlungsweisen nicht an gesellschaftlichen Rändern, sondern überall.
Die Konsequenz aus Nationalsozialismus (und Stalinismus) muss daher eine Auseinandersetzung mit diesen Einstellungen sein und ein kritischer Bezug auf (National)Staatlichkeit überhaupt.
Gemeinsam gegen (Rechts-)Extremismus: Die Verantwortung der Zivilgesellschaft
“Verfassungsschutz”-Ämter und deren “Extremismus-Expert_innen”, CDU-, CSU-, FDP- und SPD-Regierungen in Bund, Ländern und Kommunen propagieren und praktizieren das Extremismus-Modell nicht erst, seit es Kristina Schröder und die Bundesprogramme gibt.
Auch linke Zivilgesellschaft und kritische Wissenschaft haben mit der Übernahme des “Rechtsextremismus”-Begriffs dazu beigetragen, dass sich die Logik der Extremismus-Formel reproduziert und etabliert hat und herrschaftskritische linksradikale Gruppen und Antifaschist_innen mit Stalinist_innen, Islamist_innen, Holocaustleugner_innen und Nazis in einen Topf geworfen werden.
Angesichts von Geschichte und hegemonialer Verwendung des Begriffs ist Voraussetzung für eine erfolgreiche Diskursverschiebung die konsequente Verweigerung jeglicher affirmativer Bezugnahme auf die Kategorie “Extremismus”.
Warum nicht von Nazis reden, wenn es um manifeste nationalsozialistische Einstellungsmuster oder Programmatiken geht.
Warum nicht Rassismus, Antisemitismus, Heteronormativität, Sexismus und andere Ungleichwertigkeitsideologien und -praktiken konkret benennen und adressieren, statt mit schematischen Kategorien zu arbeiten, die gesellschaftliche Komplexität, z.B. antisemitische Ressentiments in der LINKEN und der CDU, wie auch politische Veränderungen, z.B. die “Pro-Deutschland”-Parteien oder die “Alternative für Deutschland” (AfD), nicht erfassen können?
Die eigene inhaltliche Positionsbestimmung macht auch ein unkritisches Bekenntnis zur FDGO bzw. zu “den Zielen des Grundgesetzes” schwerer, das im Zuge der Extremismus-Debatte nicht wenige zivilgesellschaftliche Akteure in vorauseilendem Gehorsam abgegeben haben.
Ein Bekenntnis zur FDGO, deren inhaltliche Bestimmung in hohem Maße unklar ist und die wesentlich auf einem totalitarismustheoretischen Schema beruht, ist ebenso wenig die richtige Lehre aus Nationalsozialismus und Stalinismus, wie die Extremismus-Formel ein adäquates Mittel zur Bekämpfung von Neonazismus und autoritären Staatsvorstellungen ist.
Es reicht nicht “die Absätze 2 und 3 der so genannten ‘Demokratieerklärung’ in den Zuwendungsbescheiden ersatzlos zu streichen” und am repressiven FDGO-Konsens mitzustricken. So wird Druck auf Kritiker_innen ausgeübt, die ihre Position nicht dem vermeintlichen Gemeinwohl (Kampf “gegen Extremismus für Demokratie”) unterordnen wollen, sondern dieses Gemeinwohl inhaltlich zur Diskussion stellen.
Mit den Worten der “Aktiven des Alternativen Kultur- und Bildungszentrums”(AKuBiZ):
“Wir fragen uns, warum die nominierten Initiativen nicht unterschreiben sollten, dass sie sich den Menschenrechten verpflichtet fühlen und dass sie humanistische Grundsätze teilen. Stattdessen wurden wir als antirassistische Initiative aufgefordert, die faktische Abschaffung des Grundrechts auf Asyl (Art. 16a GG) gutzuheißen, indem wir uns den Zielen des Grundgesetzes kritiklos verpflichten.”
Wer sich den Kampf gegen autoritär-totalitäre Tendenzen auf die Fahnen schreibt, darf nicht mit Bekenntniszwang zum Staat operieren. Politischer Streit bedeutet inhaltliche Auseinandersetzung. Er ist niemals “weltanschauungsneutral”.
Ein antidiskriminatorisches Gesellschaftsverständnis bedeutet, sich klar gegen partizipationsfeindliche Haltungen zu positionieren, die Herrschaft legitimieren statt abbauen wollen.
Solche Positionen schränken die Teilhabe von Menschen ein, sprechen ihnen Gleichheit und Freiheit ab und sind gesellschaftlich traditionell weit verbreitet und fest verankert. Von Ausgrenzung und Kriminalisierung betroffene Menschen müssen deshalb aktiv gestärkt und geschützt werden.
Vor diesem inhaltlichen Hintergrund ist auch der Protest gegen oder die Blockade von Nazi-Demonstrationen zu bewerten, genauso wie ein begründetes Verbot rassistischer Hetze oder entsprechender Wörter.
Es geht nicht um eine Auseinandersetzung zwischen “Rechtsextremist_innen” (böse Nazis, “braune Rattenfänger”) und “Linksextremist_innen” (böse, gegen Ordnungsrecht verstoßende Gegendemonstrant_innen, “politisch-korrekte Gutmenschen”), sondern um die Frage, ob menschenfeindliche, diskriminierende Positionen, die anderen das Teilhabe- oder Lebensrecht absprechen, im öffentlichen Raum Geltung haben sollen.
Eine solche Entscheidung ist politisch, nicht “extremistisch”. Sie wird nicht von oben verordnet und per Bekenntnis abgenickt, sondern in gesellschaftlichen Bündnissen und Räumen diskutiert und inhaltlich begründet.
Wenn wir unter “lebendiger Demokratie” mehr verstehen, als eine Floskel für politische Preisreden oder einen Textbaustein für den nächsten Förderantrag, kommt es auf den offenen politischen Streit über unterschiedliche Demokratieverständnisse und über unsere gesellschaftspolitischen Visionen an. Auf Augenhöhe.