Teile der Leipziger Linkspartei kooperieren mit einer Gruppe, die den 7. Oktober als „Widerstand“ feiert

Mehr als 1.000 Menschen wurden am 7. Oktober 2023 von Hamas-Terroristen getötet, vergewaltigt und entführt. In Leipzig demonstriert seitdem regelmäßig eine Gruppe, die Gräueltaten als „Lüge“ bezeichnet. Eine Arbeitsgemeinschaft der Leipziger Linkspartei ruft trotzdem zu gemeinsamen Demos auf. Das möchten die sächsischen Landesvorsitzenden künftig unterbinden.
Als sich die Delegierten auf dem Bundesparteitag der Linken im Mai mehrheitlich zur „Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus“ bekannten, gab es ordentlich Aufregung. „Die Linke zeigt, wo sie steht – und das ist nicht an der Seite der Jüdinnen und Juden in Deutschland“, äußerte sich beispielsweise Josef Schuster, der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland.
Noch auf dem Parteitag in Chemnitz, wenige Minuten vor der Abstimmung, hatte der Bundesvorsitzende Jan van Aken versucht, eine Mehrheit für den Antrag zu verhindern: „Ich bin dagegen, dass wir mit einem Parteitagsbeschluss eine wissenschaftliche Debatte beenden“, sagte er am Saalmikrofon zu seinen Genoss*innen.
Die „Jerusalemer Erklärung“ ist umstritten, weil sie den Antisemitismusbegriff enger fasst als die von der Bundesregierung unterstützte Arbeitsdefinition der „Internationalen Allianz zum Holocaustgedenken“ (IHRA). Jan van Aken sieht auch die IHRA-Definition kritisch. Problem sei unter anderem, dass diese „eine kritische Auseinandersetzung mit dem Staat Israel und somit seiner Regierung nahezu verunmöglicht“, so der Parteivorsitzende.
Wie van Aken zu dieser Einschätzung kommt, ist unklar. Die fünf Zeilen lange IHRA-Definition an sich erwähnt Israel gar nicht. Und im Begleittext zur Definition heißt es: „Kritik an Israel, die mit der an anderen Ländern vergleichbar ist, kann nicht als antisemitisch betrachtet werden.“
Landesparteitag in Sachsen stellt sich gegen den Bundesparteitag
Vor allem in Sachsen stieß das Bekenntnis zur „Jerusalemer Erklärung“ auf breiten Widerspruch. Nur einen Monat nach dem Bundesparteitag fand hier ein Landesparteitag statt. Die Anwesenden stimmten mehrheitlich dafür, den umstrittenen Antisemitismus-Beschluss als unvernünftig und als „Fehler“ zu bezeichnen.
„Wir lehnen es grundsätzlich ab, als Partei eine Definition von Antisemitismus festzulegen“, heißt es im entsprechenden Antrag.
Dieser Antrag beschäftigte sich nicht nur mit den Antisemitismus-Definitionen, sondern legte auch fest, mit welchen Personen und Vereinigungen eine Zusammenarbeit ausgeschlossen ist. Das sind jene, die „einen eliminatorischen Antisemitismus unter dem Deckmantel des Antizionismus vertreten und die Gewalttaten des 7. Oktober 2023 oder das verbrecherische Agieren der Hamas und anderer islamistischer Organisationen verherrlichen, verharmlosen oder leugnen.“
Was eigentlich für klare Orientierung sorgen sollte, stellt die Partei in Sachsen vor ein Problem. Denn in Leipzig gibt es eine solche Zusammenarbeit – zumindest aus Sicht mancher Parteimitglieder, darunter jene in der Landesarbeitsgemeinschaft „Shalom“.
Es handelt sich dabei um einen Zusammenschluss von Parteimitgliedern und Nichtmitgliedern, die sich nach eigenen Angaben „für den Schutz jüdischen Lebens, die Bekämpfung von Antisemitismus und Antizionismus, die Förderung der Erinnerungskultur sowie die Solidarität mit Israel als Schutzraum jüdischen Lebens politisch einsetzen“.
Anfang August veröffentlichte diese AG zusammen mit ähnlichen Arbeitsgemeinschaften aus anderen Bundesländern eine Forderung: Die Bundespartei müsse sich klar positionieren, wenn in Berlin – so der Vorwurf – Mitglieder der Linkspartei eine Veranstaltung mit Hamas-Anhängern organisieren.
„Gleiches gilt auch in anderen Bundesländern, wenn zum Beispiel Stadt-AGs in Leipzig offen mit den Antisemiten von Handala und Co kooperieren“, heißt es weiter. „Antisemitismus unter dem Deckmantel vermeintlicher Palästinasolidarität darf in einer linken Partei weder Platz noch Anschluss haben.“
AG Palästinasolidarität kooperiert in Leipzig mit Handala
Palästinasolidarität ist dabei das passende Stichwort, denn es ist die gleichnamige Arbeitsgemeinschaft in Leipzig, die mit der Gruppe Handala zusammenarbeitet. In den vergangenen Wochen haben beide mehrmals zu gemeinsamen Demonstrationen aufgerufen. Sie gehören auch zu einem Bündnis, das am kommenden Wochenende vom Hauptbahnhof zum Flughafen laufen möchte, um gegen Waffenlieferungen nach Israel zu protestieren.
Doch was ist die AG Palästinasolidarität überhaupt? Und was ist Handala? Und dürfen beziehungsweise sollten beide wirklich nicht kooperieren?
In vielen Punkten sind sich die beiden Gruppen einig. Sie fordern ein Rückkehrrecht für alle Palästinenser*innen, die seit 1948 aus Israel geflüchtet sind oder vertrieben wurden. Den aktuellen Militäreinsatz in Gaza bezeichnen sie als „Genozid“, ähnlich wie viele Menschenrechtsorganisationen. Unter Historiker*innen und Völkerrechtsforscher*innen ist der Begriff umstritten; der Internationale Gerichtshof prüft den Genozidvorwurf noch.
Handala und die AG Palästinasolidarität fordern zudem gleiche Rechte für alle Menschen zwischen Jordanfluss und Mittelmeer – also das Gebiet, das Israel, den Gazastreifen und das Westjordanland umfasst.
In Bezug auf Israel beziehungsweise Zionismus ist bei beiden von einer „Siedlerkolonie“ die Rede. Auch dieser Begriff ist in der Forschung umstritten, wie beispielsweise ein Artikel in der sozialwissenschaftlichen Zeitschrift „Prokla“ zeigt.
Während die AG Palästinasolidarität eher allgemein bleibt, wenn sie schreibt, dass „Widerstand“ gegen Israel „legitim“ sei, wird Handala diesbezüglich sehr viel konkreter. Seit dem 7. Oktober 2023 hat die Gruppe nicht nur mehrmals angedeutet, mit der Hamas und anderen Mördern zu sympathisieren, sondern auch explizit die Ereignisse am 7. Oktober gerechtfertigt und geleugnet.
Handala feiert Anschläge und leugnet Gräueltaten
Kurz nach dem Hamas-Massaker veröffentlichte Handala auf Instagram eine Zeichnung, die einen fliegenden Gleitschirm mit einem Kind zeigte. Darunter war „from the sea to the river“ zu lesen; eine leicht abgewandelte Parole der palästinensischen Freiheitsbewegung. Offenbar spielte Handala mit der Zeichnung darauf an, dass Hamas-Terroristen am 7. Oktober auch mit Gleitschirmen in Israel eingedrungen waren.
Im Mai 2025 folgte ein Beitrag, der offensichtlich das tödliche Attentat auf zwei Mitarbeiter*innen der israelischen Botschaft in den USA thematisierte. Handala veröffentlichte kurz nach der Tat ein Foto von Herschel Grynszpan mit der Aufschrift „Grynszpan lebt!“.
Herschel Grynszpan, ein Jude, hatte im November 1938 in der deutschen Botschaft in Paris einen Mitarbeiter erschossen. Handala vergleicht also Israel mit dem nationalsozialistischen Deutschland beziehungsweise setzt den Widerstand gegen Israel in eine Linie mit dem Widerstand gegen die Nazis. Zumindest laut IHRA-Definition ist das ein Beispiel für Antisemitismus.
Problematisch sind aber nicht nur Beiträge in den sozialen Medien, die möglicherweise spontan und ohne Absprachen mit anderen Gruppenmitgliedern entstanden sein könnten – und teilweise wieder gelöscht wurden.
Auf seiner Homepage hat Handala mehrere Texte veröffentlicht, bei denen es sich offenbar um Redebeiträge von Demonstrationen handelt. Im jüngsten Text von Februar 2025 bezeichnet Handala die Ereignisse am 7. Oktober konsequent als „Widerstand“. Demnach sei es auch „Widerstand“ gewesen, hunderte Menschen aus Israel zu entführen, „um diese dann gegen unsere gefangenen Geiseln auszutauschen“. Gemeint sind Palästinenser*innen in israelischen Gefängnissen.
Fehler habe es aber auch gegeben: Der „Widerstand“ habe falsch eingeschätzt, wie Israel auf den 7. Oktober reagieren würde. Kritik am Massenmord an Zivilist*innen gibt es hingegen nicht. Stattdessen behauptet Handala, dass es eine „Lüge“ sei, von „Gräueltaten“ zu sprechen.
Teile der Linkspartei schließen Zusammenarbeit mit Handala aus
„Das sind Auslöschungsphantasien bezüglich des Staates Israel“, urteilt die linke Landtagsabgeordnete und Stadträtin Juliane Nagel. Sie kritisiert schon länger die Aktionen und Positionen von Handala. Es gehe radikal gegen Israel – und gegen Linke in Leipzig, auch gegen sie selbst. Mitglieder von Handala hätten beispielsweise im Juli 2024 den Wahlkampfauftakt der Linkspartei in Leipzig gestört.
Der Konflikt zwischen Handala und Nagel geht auf einen Vorfall im Oktober 2022 zurück. Damals hatte ein Bündnis für Umverteilung und sozialen Ausgleich demonstriert. Mitorganisatorin Nagel störte sich an einem Schild, auf dem das Gebiet zwischen Jordan und Mittelmeer komplett in palästinensischen Farben dargestellt wurde – auch deshalb, weil es nicht zum Thema der Veranstaltung passte. Letztlich entfernte sie das Schild von der Demo.
Das Dokumentationsprojekt „chronik.LE“ hat auf seiner Homepage einen weiteren Vorfall im Zusammenhang mit Handala dokumentiert. Ein „führender Aktivist der Gruppe“ soll im Januar dieses Jahres auf Instagram ein Bild veröffentlicht haben, auf dem unter anderem „Glory to Hamas“ zu lesen war.
„Es ist gut, dass es die AG Palästinasolidarität gibt“, sagt die Linken-Politikerin Nagel. Doch eine Zusammenarbeit mit Handala sei unvereinbar mit dem Beschluss vom Landesparteitag.
Der sächsische Landesvorstand der Linkspartei teilt diese Einschätzung. Auf Anfrage der Leipziger Zeitung (LZ) heißt es: „Die Gruppe Handala, welche bundesweit aktiv ist und in Leipzig einen besonders radikalen Ableger hat, erfüllt die Charakterisierung aus dem Landesparteitagsbeschluss. Eine Zusammenarbeit mit dieser Gruppe widerspricht eindeutig den Beschlusslagen von Landes- und Bundespartei.“
Weiter antwortet der Vorstand: „Die von Ihnen zitierten Äußerungen und Postings verharmlosen und glorifizieren die terroristische Hamas, legitimieren Gewalt gegen Zivilistinnen sowie Zivilisten und implizieren eine Gleichsetzung von Israel mit der NSDAP-Diktatur.“
Stadtverband unterstützt Flughafen-Demo mit 250 Euro
In der vergangenen Woche hat der Leipziger Stadtvorstand einem Antrag der AG Palästinasolidarität zugestimmt, den Protestmarsch zum Flughafen mit 250 Euro zu unterstützen. „Unserer Auffassung nach haben solche Kooperationen angesichts unserer Beschlusslage in Zukunft zwingend zu unterbleiben“, heißt es dazu vom Landesvorstand, dem aktuell Anja Eichhorn und der Leipziger Marco Böhme vorsitzen.
Die sächsische Linken-Spitze betont, dass Protest gegen israelische Kriegsverbrechen und das Leid in Gaza legitim sei. Im September soll es gemeinsam mit zivilgesellschaftlichen Akteur*innen und NGOs eine Demonstration in Berlin geben. Eichhorn und Böhme wollen zuvor auf der kommenden Landesvorstandssitzung am 30. August beantragen, eine Zusammenarbeit mit Handala explizit auszuschließen.
Dass auf Landesebene geklärt werden müsse, ob Handala vom Unvereinbarkeitsbeschluss betroffen ist, sagen auch Nina Treu und Johannes Schmidt, die beiden Vorsitzenden des Leipziger Stadtverbandes. Der Stadtvorstand in Leipzig habe noch keine eigene Position zu der Gruppe.
„Handala ist die einzige Organisation in Leipzig, in der sich Palästinenser*innen selbst organisieren“, so die beiden Vorsitzenden. „Da Die Linke selbstbestimmte Kämpfe von Betroffenen unterstützt, kooperiert die AG Palästinasolidarität mit Handala.“
Treu und Schmidt verweisen damit auf eine Leerstelle, die auch Nagel bedauert: Demonstrationen in Leipzig, die den Krieg in Gaza thematisieren, sind extrem polarisiert. Auf der einen Seite findet man Gruppen, die Hamas-Verbrechen leugnen oder verschweigen, und auf der anderen Seite stehen Gruppen, die dem Leiden der palästinensischen Bevölkerung wenig Beachtung schenken oder dieses als notwendig darstellen.
Wer gegen israelische Kriegsverbrechen und den Hamas-Terror sowie für einen Waffenstillstand und die Freilassung aller Geiseln demonstrieren möchte, bestenfalls an der Seite von israelischen und palästinensischen Menschen, findet in Leipzig nur schwer irgendwo Anschluss.
Unterstützung für Flughafen-Demo auch von Klimagruppen und feministischen Initiativen
Den von Handala mitorganisierten Protestmarsch zum Flughafen unterstützen auch die beiden Klimagruppen „Ende Gelände Leipzig“ und „Fridays for Future Leipzig“. Letztere stellte auf LZ-Anfrage klar, dass man die Handala-Äußerungen zum 7. Oktober und zu Anschlägen auf jüdische Menschen nicht teile. „Wir finden jede Verharmlosung der Terrororganisation Hamas nicht nur geschmacklos, sondern auch unvertretbar.“
Gleichzeitig sei das kein ausreichender Grund, eine Demonstration zu ignorieren, die „einerseits von unzähligen anderen Akteur*innen organisiert und unterstützt wird und andererseits auch ein – unserer Meinung nach – wichtiges Thema anspricht“.
Die Klimaaktivist*innen wurden nach eigenen Angaben angefragt, ob sie die Demo unterstützen möchten, und hätten dann in der Gruppe darüber diskutiert. „In dem Fall von ‚March to Airport‘ überwiegt für uns die Dringlichkeit und die Forderung der Demo, deutsche Waffen nicht mehr nach Israel zu liefern.“
Fridays for Future betont, dass das Friedensthema auch ein Klimathema sei: „Treibhausgase entstehen bei der Beschaffung von Rohstoffen für Waffen, bei der Herstellung von diesen, bei dem Transport und dem Abwurf. Außerdem muss alles, was diese Waffen zerstören, irgendwann wieder aufgebaut werden. Auch dafür werden wieder Unmengen Tonnen an C02 in die Luft gelangen.“ Primär gehe es bei der Teilnahme aber darum, Menschenrechte in Gaza zu verteidigen.
Ende Gelände Leipzig antwortete nicht auf eine LZ-Anfrage. Das gilt auch für die feministische Initiative „Catcalls of Leipzig“, die in den vergangenen Jahren wiederholt Handala-Demonstrationen beworben hat.
In diesem Fall wirkt die Unterstützung besonders widersprüchlich. „Catcalls of Leipzig“ engagiert sich mit Kreideaktionen gegen sexuelle Belästigungen und Übergriffe im öffentlichen Raum. Das passt eigentlich nicht zu einer Gruppe wie Handala, die behauptet, dass es Vergewaltigungen nur durch die „zionistische Besatzungsmacht“ gegeben habe, aber nicht durch den „palästinensischen Widerstand“.
Im vergangenen Jahr hatte die UN-Sonderbeauftragte für sexualisierte Gewalt in Konflikten einen Bericht für den 7. Oktober angefertigt. Demzufolge gebe es „berechtigten Grund“, von Vergewaltigungen an mindestens drei Orten auszugehen. Grundlage für die Einschätzung waren dutzende Interviews mit Zeug*innen sowie umfangreiches Bild- und Videomaterial. Auch die eher Palästina-freundliche, israelische Tageszeitung „Ha’aretz“ legte einen ausführlichen Bericht vor.
Dissens in Leipzig
Treu und Schmidt begründen die Unterstützung des Stadtvorstandes für die Flughafen-Demo so: „Es geht dabei um Widerstand gegen Waffenlieferungen in Kriegsgebiete – ein Kernanliegen von Die Linke.“
Stadträtin Nagel findet diese Unterstützung falsch. „Es widerspricht den programmatischen Grundlagen unserer Partei und einer linken Position, die sich einer friedlichen Lösung für alle Seiten in Nahost verschrieben hat.“ Das Leipziger „Linxxnet“, zu dem unter anderem sie und Marco Böhme gehören, veröffentlichte am Mittwoch einen entsprechenden Text auf seiner Homepage.
Die AG Palästinasolidarität hat keine eigene Antwort auf die LZ-Anfrage formuliert. Sie habe aber die Antworten der Stadtvorsitzenden „wohlwollend zur Kenntnis genommen“, teilten Treu und Schmidt mit. Handala ließ die LZ-Anfrage unbeantwortet.