Gericht stoppt Anklage wegen versuchtem Mord im Fall »Benni«

Leipziger Staatsanwaltschaft hat gegen Beschluss Beschwerde eingelegt

Wieder eine Überraschung im Fall »Benni«: Das Landgericht Leipzig hat die meisten Anklagepunkte gegen den 25-jährigen Aktivisten, der nach den »Tag X«-Protesten am 3. Juni 2023 ein halbes Jahr in Untersuchungshaft saß, fallen gelassen. Der einzige verbleibende Vorwurf lautet auf Landfriedensbruch wegen seiner angeblichen Beteiligung an einer gewalttätigen Demonstration.

Die Staatsanwaltschaft wollte Benni auch wegen versuchten Mordes und 18-fach versuchter Körperverletzung anklagen, da er vermummt und dunkel gekleidet zwei Brandsätze auf Polizist*innen geworfen haben soll.

Am »Tag X« hatten Tausende in Leipzig gegen die Urteile des sogenannten Antifa-Ost-Prozesses protestiert, bei dem Lina E. und drei weitere Antifaschisten in Dresden vor Gericht standen. Es soll dabei zu gewalttätigen Angriffen auf Beamt*innen gekommen sein. Über 1000 Demonstrierende, darunter auch »Benni«, wurden stundenlang in einem Polizeikessel festgehalten.

Der Beschluss zur Ablehnung der meisten Anklagepunkte gegen »Benni« wurde bereits im August gefasst, bekannt wurde er erst jetzt durch eine Mitteilung einer Unterstützungsgruppe. Die Kammer habe »nach Aktenlage keine ausreichend sichere Möglichkeit gesehen, dass der Angeschuldigte als die Person identifiziert werden könnte, die die Brandsätze geworfen haben soll«, bestätigte ein Sprecher des Landgerichts dem »nd«.

Das Hauptverfahren gegen »Benni« wegen Landfriedensbruchs soll nach aktuellem Stand nur vor dem Amtsgericht Leipzig stattfinden. Die Staatsanwaltschaft Leipzig legte gegen diese Entscheidung aber eine sofortige Beschwerde ein. Darüber muss nun das Oberlandesgericht Dresden entscheiden. Die Akte befindet sich laut Staatsanwaltschaft derzeit auf dem Weg dorthin.

Die Unterstützungsgruppe hält die Ermittlungen und die Anklage für politisch motiviert. Die Beschwerde beim Oberlandesgericht sieht sie als Versuch, »Benni« weiter unter Druck zu setzen und die linke Szene zu verunsichern.

Auch an den vorgelegten Beweisen gibt es Kritik. Diese seien sogar aus Sicht des Landgerichts widersprüchlich und ungenau, schreibt die Gruppe. Tatbeobachter*innen hätten verschiedene Beschreibungen zur selben Person abgegeben – manche sahen eine Jeans, andere eine dunkle Hose. Andere als auffällig beschriebene Merkmale der Kleidung wurden von anderen Zeug*innen gar nicht erwähnt.

Zudem werden die sogenannten Gangbildanalysen von »Benni« in Zweifel gezogen. Das Gericht soll diese wegen Unterschieden von bis zu 13 Zentimetern bei den gemessenen Körpermaßen als »sehr eingeschränkt nachvollziehbar« bewertet haben.

Eine Polizistin, die als »Super-Recognizerin« Bildmaterial vom »Tag X« sichtete, behauptete, den Beschuldigten anhand von Augenbrauen, Beinstellung und Statur identifizieren zu können. Auch das Landgericht habe moniert, dass es keine Nachweise gibt, dass die Beamtin tatsächlich zur kleinen Gruppe der Personen mit dieser Fähigkeit gehört. Auch sei die »Super-Erkennung« wissenschaftlich nicht belegt.

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Matthias Puppe LVZ
10.09.2024

Überaschende Wende – Demo am „Tag X“ in Leipzig: Landgericht kippt Anklage gegen Hauptverdächtigen

Bereits im Juni war der 25-Jährige aus der Haft entlassen lassen, weil sich Zweifel an der Identifizierung auftaten. Nun hat das Landgericht Leipzig die Anklage abgewiesen.

Das Landgericht Leipzig hat eine Anklage gegen den Hauptverdächtigen der Ausschreitung am sogenannten „Tag X“ aus Mangel an Beweisen abgewiesen. Dem 25-Jährigen waren versuchter Mord in zwei Fällen, das Herbeiführen von Sprengstoffexplosionen und das Führen verbotener Gegenstände vorgeworfen worden. Laut der Entscheidung des Landgerichts reichten die vorgelegten Indizien nicht aus, lediglich der Vorwurf Landfriedensbruch könne verhandelt werden, erklärte Gerichtssprecher Hans Jagenlauf gegenüber der LVZ. In diesem Fall sei jedoch das Amtsgericht zuständig.

„Gegen diese Entscheidung hat die Staatsanwaltschaft Leipzig sofortige Beschwerde eingelegt“, erklärte Sprecherin Vanessa Fink am Dienstag. Darüber müsse nun das Oberlandesgericht Dresden befinden. Wann dies passieren wird, ist noch unklar. Laut der Staatsanwaltschaft gebe es bezüglich der Vorwürfe bislang auch keine Ermittlungen gegen andere Personen.

25-Jähriger hatte sich selbst gestellt – und ist wieder auf freiem Fuß

Bereits Ende Juni – eine Woche nach der Anklageerhebung – war der 25-jährige Beschuldigte überraschend aus der Haft freigelassen worden, weil die Richter am Landgericht keinen dringenden Tatverdacht erkennen konnten. In den von der Staatsanwaltschaft vorgelegten Beweisen sei eine Person nur vermummt zu erkennen gewesen und bewege sich rasch, hieß es damals in der Begründung. Insofern sei die Identität des Beschuldigten nicht zweifelsfrei zu klären.

Der 25-Jährige hatte sich Anfang 2024 nach Fahndung von Polizei und Staatsanwaltschaft selbst gestellt und war aufgrund der Schwere der Vorwürfe bis Ende Juni in Untersuchungshaft. Laut der Darstellung der Ermittler soll er am 3. Juni 2023 nach Auflösung einer Kundgebung am Leipziger Alexis-Schumann-Platz einen sogenannten Molotowcocktail in Richtung der Polizei geworfen haben. Sicher ist, dass er später zu den mehr als 1000 Menschen gehörte, die in der Folge der Ausschreitungen über Stunden eingekesselt worden waren.

Gegen die Eingekesselten wurden Ermittlungsverfahren wegen Landfriedensbruch eingeleitet. Dieser verbliebende Vorwurf soll nun am Amtsgericht verhandelt werden.

Soli-Gruppe: Behörden nutzen konstruierte und politisch ausgelegte Beweise

Nach Inhaftierung des 25-Jährigen hatte sich eine Unterstützergruppe aus Freuden und Familienmitgliedern gebildet. Am Dienstag hieß es in einer Mitteilung der Gruppe: „Die Staatsanwaltschaft hatte Benni mit konstruierten und vor allem politisch ausgelegten (vermeintlichen) Beweismitteln als Tatverdächtigen ausgemacht.“ Trotz Zweifeln an der Argumentation der ermittelnden Soko LinX habe sich die Staatsanwaltschaft lange Zeit mit der Anklage gelassen, während der 25-Jährige im Gefängnis saß. Laut Informationen der Gruppe, habe das Landgericht Leipzig jetzt auf 40 Seiten begründet, warum die Indizienkette brüchig ist.

Zweifeln an der Identifizierung des Beschuldigten habe demnach nicht nur die einheitliche Kleidung vieler Demoteilnehmer genährt. Es habe auch Kritik an der Gangbildanalyse der Ermittler, an der Zuweisung von Gegenständen, die bei einer Hausdurchsuchung gefunden wurden sowie an Aussagen einer „Super-Recognizerin“ der Polizei gegeben, die den 25-Jährigen bei der Tat erkannt haben will.

Ausschreitung nach aufgelöster Kundgebung

Am 30. Juni 2023 waren in Leipzig Proteste gegen die Verurteilung der Leipziger Studentin Lina E. und anderer Personen wegen der Bildung einer kriminellen Vereinigung angekündigt worden. Die Ordnungsbehörde der Stadt Leipzig untersagten eine bundesweit beworbene Demonstration zum sogenannten „Tag X“, am Nachmittag wurde dann ein Protest gegen die Entscheidung der Kommune angezeigt, zu dem sich mehrere Tausend Menschen in der Südvorstadt zusammenfanden.

Die Polizei ließ diese Demonstration nicht gewähren und den Alexis-Schumann-Platz mit einer großen Anzahl von Kräften sowie technischem Gerät umstellen. Der Versammlungsleiter löste die Kundgebung auf, mehrere vermummte Personen versuchten daraufhin, zum Teil gewaltsam aus der Umstellung zu gelangen. Steine, Pyrotechnik und Brandsätze wurden geworfen, mehr als 1000 Menschen daraufhin eingekesselt und über mehrere Stunden hinweg festgehalten. Unter den Eingekesselten waren auch Minderjährige. Im Nachgang der Ereignisse räumte Leipzigs Polizeipräsident René Demmler Fehler bei der Versorgung der Personen ein.

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Matthias Monroy 03.01.2023

Superwiedererkenner bei der Polizei

Mehrere Bundesländer bauen Einheiten zur analogen Gesichtserkennung auf, nun folgt die Bundespolizei

Die Bundespolizei will den Einsatz von sogenannten Super-Recognisern ausweiten und dazu entsprechende Einheiten aufbauen. Nach einem Testverfahren seien 113 Beamte mit der besonderen Fähigkeit gefunden und für die neue Tätigkeit ausgewählt worden, erklärte eine Sprecherin des Präsidiums in Potsdam kürzlich der dpa. Die Superwiedererkenner sollen nun bei der Fahndung und Observierung eingesetzt werden. Damit ist die kuriose und vergleichsweise neue Fahndungsmethode der Polizei auch auf Bundesebene angekommen.

Super-Recogniser sind Personen, die sich besonders gut Gesichter merken und diese in Menschenmengen wiedererkennen können. Bis zu zwei Prozent aller Menschen sollen über die angeborene Fähigkeit verfügen. Entdeckt hat dies der britische Wissenschaftler Josh Davis bei einer Untersuchung innerhalb der Metropolitan Police. Dort fiel auf, dass immer die gleichen Beamten besonders viele Verdächtige auf Bild- und Videomaterial identifizieren konnten. Anschließend half der britische Forscher den Landespolizeien in Deutschland bei der Suche nach Super-Recognisern in den eigenen Reihen.

In Deutschland hat offenbar die Polizei in Nordrhein-Westfalen (NRW) zuerst von der Praxis Gebrauch gemacht, damals aber noch nicht mit eigenen Ermittlern. So habe das Polizeipräsidium Köln »im Nachgang der Vorfälle zum Jahreswechsel 2015/16« bei der britischen Metropolitan Police um Unterstützung zur menschlichen Sichtung von Bildmaterial gebeten, schreibt das Innenministerium des Bundeslandes in der Antwort auf eine Anfrage über die Plattform »Frag den Staat«. Damit wollte die Polizei Täter von sexuellen Übergriffen ermitteln.

Eine erste deutsche Einheit von Super-Recognisern entstand mit Hilfe des Forschers Davis im Jahr 2018 in Bayern. Dort wurden nach einem mehrstufigen Auswahlverfahren 13 Polizistinnen und 14 Polizisten ausgewählt. Einer ihrer ersten Einsätze erfolgte im Zugangskontrollbereich und am »Videoarbeitsplatz« für das jährliche Oktoberfest. Dafür hatten sich die Beamten unter anderem Bilder von Personen mit Hausverbot eingeprägt. Angeblich sollen die Super-Recogniser damals in Hunderten Fällen bei der Aufklärung geholfen haben.

Die bayerischen Polizisten haben inzwischen mindestens 45 Kollegen aus Hessen zur Superwiedererkennung geschult. Sie sollen nun fester Bestandteil bei allen sieben hessischen Polizeipräsidien werden. In den meisten Fällen erfolgt dies im Nebendienst, also wenn die Fähigkeiten bei Ermittlungen benötigt werden.

Zwei Beamte waren im vergangenen Jahr hauptamtlich als Super-Recogniser in Frankfurt im Einsatz. Dort gleichen sie täglich aktuelle Personenfahndungen mit Bilddaten von bekannten Tätern oder Verdächtigen ab. In ihren Ermittlungen gehen die Beamten anschließend auf Streife oder durchforsten Standbilder von Videokameras im öffentlichen Raum auf der Suche nach einer Übereinstimmung. Allein im vergangenen Jahr hätten Super-Recogniser in über 1 000 Fällen Personen wiedererkannt, sagte das hessische Innenministerium »nd«.

Auch die Polizei in Baden-Württemberg verfügt über Super-Recogniser. Im Juni 2020 soll mit ihnen »ein erheblicher Teil« von Tatverdächtigen der »Stuttgarter Krawallnacht« ermittelt worden sein. Inzwischen durchlaufen alle angehenden Polizisten an der Hochschule für Polizei Baden-Württemberg ein Auswahlverfahren für Super-Recogniser. Anschließend werden sie auch auf Weihnachtsmärkte oder in Fußballstadien geschickt, um dort nach Taschendieben oder anderweitig polizeibekannten Straftätern zu suchen.

Einsätze von Super-Recognisern erfolgen auch bei politischen Versammlungen. So hatten sechs bayerische Beamte nach dem G20-Gipfel 2017 die in Hamburg eingerichtete Sonderkommission »Schwarzer Block« unterstützt. Ob NRW seine Super-Recogniser auch bei Klimaprotesten wie derzeit in Lützerath einsetzt, wollte das zuständige Polizeipräsidium in Aachen auf Anfrage von »nd« aus »einsatztaktischen Gründen« nicht beantworten. Auch das Innenministerium in Düsseldorf gibt sich zugeknöpft.

Die humanoide Gesichtserkennung soll sogar möglich sein, wenn es sich um ein altes Fahndungsfoto handelt oder die Personen ihr Aussehen mit Mütze, Bart, Sonnenbrille oder Bemalung verändert haben. Dies will die bayerische Polizei bei der Handhabung von Umweltprotesten gegen den Weiterbau der A49 im Dannenröder Forst erfolgreich demonstriert haben. Dort waren fünf bayerische Super-Recogniser auf Anforderung der hessischen Polizei eingesetzt.

Im »Danni« war die Polizei mit Protestierenden konfrontiert, die bei einer Festnahme ihre Identität nicht preisgeben wollten und dazu ihre Papillarlinien auf den Fingerkuppen verklebt hatten. Der FAZ zufolge haben sich die hessischen Super-Recogniser deshalb Fotos aus »16 Listen mit sogenannten Identitätsverweigerern« eingeprägt. Viele der dort gespeicherten 1 668 Personen seien jedoch doppelt vorhanden gewesen. Auch dies hätten die Superwiedererkenner entdeckt.