Bündnis Leninistischer Ideologen

Das Bündnis Sahra Wagenknecht genießt großen Rückhalt in Ostdeutschland. Und zwar nicht trotz, sondern gerade wegen der autoritären Ausrichtung der Partei.

Der Historiker und Publizist Ilko-Sascha Kowalczuk zählt zu den führenden Experten in der Aufarbeitung der SED-Diktatur. Demnächst erscheint sein Buch „Freiheitsschock: Eine andere Geschichte Ostdeutschlands von 1989 bis heute“.

Es ist schon merkwürdig, wie sehr das Offensichtliche manchmal übersehen wird. Sahra Wagenknecht, die mit ihrem BSW zur entscheidenden Kraft in der ostdeutschen Politik werden könnte, wird zwar seit Jahren von allen Seiten ausgedeutet und porträtiert.

Aber das Entscheidende kommt nicht vor: Die Frau ist eine leninistische Ideologin. Sie weiß das zwar gut zu verstecken und profitiert zudem davon, dass die meisten ihr Verhalten und ihre Denkweise gar nicht decodieren können – weil sie schlicht nicht mehr wissen, was Leninismus ist. Aber nur aus dieser Perspektive ist ihr Verhalten, ihre Partei und schließlich ihr Erfolg wirklich verständlich.

Es beginnt bei ihren autoritären Staatsvorstellungen. Wagenknecht schwebt offensichtlich ein starker Staat vor, der die Gesellschaft einhegt, bevormundet, gängelt und für seine Bürgerinnen und Bürger enge Grenzen definiert. Dazu zählen eine stark protektionistische Ausrichtung, eine im wahrsten Sinne starke Grenzbefestigung, ein Rückzug aus internationalen Bündnissen sowie eine von der wirtschaftlichen Entwicklung losgelöste staatliche Sozialpolitik.

Auch ihre explizite nationale Ausrichtung, mit der sie der Globalisierung ebenso entgegentreten will wie der Zuwanderung, erfordern einen anderen, einen autoritären Staat, der vielleicht nicht der Polizeistaat werden soll, welcher der AfD vorschwebt, der aber auch nicht mit den liberalen Idealen des Grundgesetzes in Übereinstimmung zu bringen scheint.

Dafür passen Wagenknechts Staatsvorstellungen umso besser zu denen vieler Ostdeutscher. Die werden eindrücklich symbolisiert durch einige Losungen aus der Revolutionszeit 1989/90. Die berühmteste lautete: „Kommt die D-Mark, bleiben wir. Kommt sie nicht, geh’n wir zu ihr.“

Ein anderer Slogan drückte noch drastischer aus, worum es Millionen ging: „Helmut, komm und nimm uns an deine Hand, und führe uns ins Wunderland.“ Solche Losungen stehen nicht dafür, autoritäre Strukturen und Paternalismus zu überwinden. Nur für die wenigsten war bei dieser Revolution die Freiheit am wichtigsten. Der großen Mehrheit ging es weniger um politische, sondern vor allem um materielle Fragen. Das ist nicht verwerflich.

Viel erstaunlicher ist aber der Umstand, dass seit Jahrzehnten den Ostdeutschen, nach dem Zwangsdasein im Ideologie- und Erziehungsstaat der SED, eine besondere Affinität zum politischen Handeln nachgesagt wird. Woher hätte die kommen sollen? In der DDR war man politisch ja gerade nicht aktiv, Politik im Sinne einer Aushandlungsarena unterschiedlicher Interessen existierte gar nicht. Im Gegenteil, der SED-Staat war ein antipolitischer, ein durch und durch ideologischer Staat.

Wenn jetzt nach den Gründen für den besonders großen Erfolg nicht nur der AfD, sondern auch des neuen BSW in Ostdeutschland gesucht wird, herrscht eine falsche Scheu, das klar zu benennen: Vieles, wofür das Bündnis Sahra Wagenknecht steht, trifft hier aus historischen Gründen auf einen besonders fruchtbaren Boden.

Der Wunsch nach einem starken Staat und eine antiwestliche Grundhaltung verbunden mit einer Nähe zu autoritären Staaten wie Russland gehören dazu. Ebenso das Streben nach gesellschaftlicher Homogenität, nach einem Schlussstrich unter die zermürbenden Debatten um die deutsche Geschichte. Die Sozialpolitik soll völkisch neu ausgerichtet werden, die Grenzen sollen geschlossen und die Einbindung in EU, Nato und Euro beendet werden – „Germany first“. All das bedienen AfD und BSW.

Beide Parteien eint auch ihre Feindbildarbeit. Sie können damit auf einem dichotomen Weltbild aufbauen, das vielen Ostdeutschen noch zu gut vertraut ist, das sie verinnerlicht haben. Der Kollektivismus steckt vielen in den Knochen, die ostdeutsche Identität lässt in dieser Form nur eine Kollektivzuschreibung zu.

Heraus kommt Ostdeutschtümelei, die „das Ostdeutsche“ als etwas ganz Besonderes betont, schier einzigartig in der Weltgeschichte. Wer das als Ostdeutscher nicht akzeptiert, gilt als Verräter. Zu den Feinden gehören auch Eliten, weil sie fast immer aus dem Westen kommen. Das gilt auch für die Leitmedien des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und die großen Zeitungen wie FAZ, SZ, ZEIT oder Spiegel – auch sie repräsentieren die vermeintliche westliche Vorherrschaft und sind daher als „Lügenpresse“ abzulehnen.

Aus Wagenknechts Staatsvorstellungen ergibt sich ihr Parteiverständnis. Wagenknecht ist eine an Marx, Lenin und Stalin geschulte Theoretikerin, die einerseits mit den Mühen alltäglicher Organisationsarbeit nicht viel am Hut hat, die andererseits Ulbricht und Stalin genau dafür schätzt: dass sie den Sozialismus durch straffe interne Führung und Organisation verteidigt haben, statt ihn zugunsten einer Verständigungspolitik mit dem Westen letztlich aufzugeben.

Die Schlussfolgerung: Eine Neuordnung der staatlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse ist ohne stringente Organisationsarbeit unmöglich.

Der Soziologe Robert Michels beobachtete 1911 anhand der SPD: „Wer Organisation sagt, sagt Tendenz zur Oligarchie.“ Er beschrieb damit die Eigenart besonders von Parteien, die tatsächliche Macht letztlich auf wenige Personen zu konzentrieren. Wer nun wie Wagenknecht einer Partei seinen eigenen Namen verpasst, kann sich kaum gegen den Vorwurf wehren, eine Oligarchie anzustreben.

Ein Unsinn, den ihr viele glauben

Noch Jahre vor Michels hatte Lenin in Was tun, einer seiner zentralen Schriften, die „Partei neuen Typs“ erfunden, mit der er die sozialdemokratischen Organisationen überwinden wollte. Die neue Parteiform sollte aus Berufsrevolutionären bestehen, die eine Avantgarde bilden (deren soziale Herkunft war gleichgültig) und konspirative Regeln wahren sollte.

Hauptsache, alle hatten sich dem revolutionären Umsturz und der Führung der Arbeitermassen verschrieben. Der eigenen Führung sollte die Partei in militärähnlichem Gehorsam ergeben sein. Sie würde die Diktatur des Proletariats so lange befehligen, bis sich alle ihrer Doktrin unterworfen hätten (oder alle anderen ausgemerzt seien).

Stalin brachte das später auf die einprägsame Formulierung: „Die Diktatur des Proletariats ist die durch kein Gesetz beschränkte und sich auf Gewalt stützende Herrschaft des Proletariats über die Bourgeoisie (…).“

Wagenknecht ist eine Theoretikerin, der die praktische politische Erfahrung nach Verantwortungsübernahme bisher fehlt. Ihr BSW ist ein Wahlverein, dessen entscheidendes Merkmal die charismatische Figur Wagenknecht ist. Es nimmt bisher nur handverlesene Mitglieder auf. Wagenknecht begründet das damit, dass sie nur qualifizierte Mitstreiter haben will.

Ungeachtet der Tatsache, dass die kleine Partei schon sehr schnell ein Problem haben könnte (wie die AfD es bereits hat), dass sie nämlich deutlich mehr Mandate erringt als Personal dafür zur Verfügung zu haben, stellt sich die Frage, ob Wagenknecht über ihr vorgebrachtes Argument hinaus Motivationen haben könnte, um das BSW zu einer derart rigide geschlossenen Einrichtung zu machen.

Wagenknechts Verteidigung der russischen Diktatur entspringt nicht nur den üblichen antiwestlichen Reflexen. Ihre vergifteten Forderungen nach einem vermeintlichen Frieden durch Unterwerfung sind nicht nur Ausdruck ihrer antifreiheitlichen Vorstellungen. Beides hängt eng mit ihrer ideologischen Nähe zum russischen autoritären Staat unter Putin zusammen.

Das strategische Kalkül besteht darin, Russland als wichtigsten Wirtschaftspartner Deutschlands zu gewinnen, um so vermeintlich der Einbindung in die westlichen internationalen Organisationen entkommen zu können. Immer wieder betont sie, wie zentral die Wirtschaftsbeziehungen zu Russland für Deutschland wären – ein Unsinn, den ihr viele glauben.

Um ihre strategischen Ziele zu erreichen, benötigt Wagenknecht eine „Partei neuen Typus“. Eine eingeschworene, der Führung – in diesem Falle allein ihr – ergebene Gruppe von Berufsideologen, die alles dafür geben, um eine mit einem scheindemokratischen Mäntelchen umhüllte Oligarchie zu errichten. Und zwar eine, die ein enges Bündnis mit der Oligarchie in Russland anstrebt.

Wenn man sich das klargemacht hat, wird auch offensichtlich, dass – anders als oft behauptet – nicht etwa schwerwiegende inhaltliche Gegensätze der Auslöser für die Gründung des BSW aus der Linkspartei heraus gewesen sind. Diese waren schließlich auch in den 30 Jahren zuvor aushaltbar gewesen. Das gewaltige Ego dieser unnahbaren Person dürfte mindestens genauso entscheidend für diese Abspaltung gewesen sein.

Niemand kann gegenwärtig sagen, was ihr Bündnis wirklich bewegt, wie es sich behaupten wird. Es geht offenbar um Emotionen, um ein kräftiges und entschiedenes „Nein!“ – und zwar gegen alles. Wer den 2021 erschienenen Bestseller Die Selbsgerechten von Wagenknecht gelesen hat, wird sich erstaunt fragen müssen, wie diese Frau es überhaupt so lange in einer sich links nennenden Partei ausgehalten hat.

Abgesehen davon, dass Stil und Häppchendarstellung wie in der Bild-Zeitung weit unter dem Niveau der Autorin als vermeintliche Intellektuelle bleiben, wäre der Inhalt gut im rechtsextremen Verlag Antaios aufgehoben gewesen. Anders als der Untertitel verspricht, handelt es sich nicht um ein „Gegenprogramm“, sondern um eine radikale Abrechnung mit nahezu allem, was die Bundesrepublik einerseits und das linke politische Lager andererseits nach Ansicht von Wagenknecht verkörpern.

Das Buch ist im Ton der Entrüstung geschrieben, oberflächlich und dabei unentwegt die Grenzen zwischen rechtem und linkem Populismus übertretend. Es geht Wagenknecht anders als sie behauptet offenbar gerade nicht um „Gemeinsinn“ und „Zusammenhalt“, sondern um die Formulierung einer radikalen Kritik, um so eine Anhängergruppe zu formieren, deren Kennzeichen der Wille zur Destruktion ist.

Unter diesen Umständen ist es umso bemerkenswerter, dass kaum jemand sonst ohne Regierungsamt so häufig in den Medien vorkommt wie sie. Warum eigentlich? Natürlich sollen und müssen Minderheitenmeinungen öffentlich abgebildet und entsprechend präsentiert werden. Wagenknecht soll und muss zu Wort kommen. Das Phänomen ist aber nicht damit zu erklären, dass sie Positionen vertritt, die sonst niemand artikuliert. Wäre das so, müssten ab und zu mal Kolleginnen und Kollegen von Wagenknecht, die genauso argumentieren, zu Wort kommen. Das ist aber nur äußerst selten der Fall. Es muss also andere Gründe geben.

Radikal antiwestliche Haltung in neuen Kleidern

Eine Weile schien sich Westdeutschland zu erfreuen an einer Kommunistin, einem Bürgerschreck, der mit Messer und Gabel essen und auch noch Goethe rezitieren kann. Wagenknecht füllte Theatersäle und las Goethe, vorzugsweise im Westen. Kurios, aber wahr.

Heute aber zeigt die Dauerhofierung von Wagenknecht durch die Medien etwas anderes: Man sieht in ihr ein Sprachrohr des Ostens, so wie in Gysi und anderen SED-Funktionären seit 1990. Das war zwar immer falsch, weil nie eine Mehrheit im Osten die Postkommunisten gewählt hat. Aber indem die Medien Wagenknecht ständig die Bühne bereitet haben, trugen und tragen auch sie dazu bei, dass sich Wagenknecht genau als diese Oberostdeutsche inszenieren kann.

Oft wird behauptet, Wagenknecht sei nicht mehr jene fanatische DDR-Anhängerin, als die sie sich in den 1990er-Jahren zeigte. Damals antwortete sie auf die Frage, ob sie lieber in der Bundesrepublik oder der DDR leben möchte: tausendmal lieber in der DDR.

Viele glauben heute, sie bewundere nicht mehr Stalin und Ulbricht, wie sie das in den 1990er-Jahren offen zur Schau trug, sondern sei nun Anhängerin von Ludwig Erhard. Das war und ist eine Fehlwahrnehmung. Weil viele Beobachter das große Ziel der Sahra Wagenknecht offenbar aus den Augen verloren hatten, was ihr selbstredend nicht passiert. Ihr politisches Engagement läuft weiterhin auf ein kommunistisches Gesellschaftsexperiment auf nationaler Grundlage hinaus, von dem zumindest fraglich ist, wie es mit der freiheitlich-demokratischen Grundordnung vereinbar sein soll.

In ihren Büchern wirft sie sich seit Jahrzehnten schützend und verharmlosend vor jede Diktatur, sei es in Russland, Kuba oder Venezuela, wenn diese sich nur gegen die westliche, liberale Demokratie richtet. Sie hat ihre radikale antiwestliche Haltung niemals aufgegeben, sondern nur in neue Kleider verpackt. Oft als Einzige hatte es die jahrelange Frontfrau der Kommunistischen Plattform innerhalb der PDS (in den Jahren 1991–2010, seither ist sie nicht mehr aktiv als Mitglied in Erscheinung getreten, ist aber auch nie offiziell ausgetreten) abgelehnt, Entschuldigungen für die Maueropfer der SED-Diktatur mitzutragen oder überhaupt nur eine differenzierte Betrachtung der DDR an den Tag zu legen.

In ihren Büchern hat sie Stalin, Lenin oder Ulbricht gepriesen und deren Verbrechen als nötig, weil von außen aufgezwungen, verteidigt.

Die eigene, bis heute gültige Grundhaltung brachte sie im Buch Antisozialistische Strategien 1995 auf den Punkt: Jedwede Verständigungsbereitschaft laufe darauf hinaus, das große Ziel aus den Augen zu verlieren und dem westlichen System ausgeliefert zu sein. Wortwörtlich schrieb sie:

„Der ‚Entspannungsprozess‘ der Siebzigerjahre war eben nicht das Gegenteil, sondern Teil des gegen den Sozialismus geführten Kalten Kriegs.“ Wer Zugeständnisse an das „bürgerliche System“ eingehe, sei Opportunist, wer hingegen dem verhassten System Zugeständnisse abtrotze, sei Sozialist.

Das Pamphlet offenbart einen fanatischen Antiamerikanismus, der sich bis heute bei ihr beobachten lässt. In dieser Ideologie werden russische Bomben auf die Ukraine zur Antwort auf eine US-Politik umgedeutet, die diese letztlich zu verantworten habe.

Die ukrainischen Opfer kommen bei Wagenknecht kaum vor – vermutlich nicht, weil sie empathielos wäre, sondern weil sonst ihr Argumentationsgebäude krachend einstürzen würde. Die USA, die Nato, die EU als Hauptverantwortliche für die russischen Massenverbrechen in der Ukraine sind so die Projektionsfläche in Wagenknechts beharrlichem Kampf für eine radikale gesellschafts- und staatspolitische Umwälzung. Daher ist es verfehlt, Wagenknecht nur als Kremlagentin hinzustellen – sie braucht die Fürsprache des Kremls gar nicht, weil sich dessen und ihr politisches Selbstverständnis weitgehend decken.