Der Mythos von der Partei

Aus: Murray Bookchin – Hör zu, Marxist! (1969)
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Der Mythos von der Partei
Soziale Revolutionen werden nicht von Parteien, Gruppen oder Kadern gemacht, sondern sind das Resultat tief eingewurzelter geschichtlicher Kräfte und Widersprüche, durch die weite Kreise der Bevölkerung zum Handeln gezwungen werden. Sie finden nicht nur deswegen statt, weil die „Massen“ die jeweilige Gesellschaft unerträglich finden (wie es Trotzki folgerte), sondern vor allem als Folge der Diskrepanz zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit, zwischen dem, was ist, und dem, was sein könnte. Das tiefe Elend als solches löst keine Revolution aus; aber es führt fast immer zum Verfall der Moral oder, noch schlimmer, zum persönlichen Kampf der einzelnen ums Überleben.
Die russische Revolution von 1917 erscheint den Lebenden noch heute wie ein böser Traum, weil sie in außergewöhnlich hohem Maße die Folge „unerträglicher Lebensbedingungen“ war, zu denen noch die Verwüstungen eines imperialistischen Krieges kamen. Welche Wunschträume in ihr auch lebendig gewesen sein mögen, sie fielen wohl alle dem nicht weniger blutigen Bürgerkrieg, der Hungersnot und dem Denunziantentum zum Opfer.
Was die Revolution zurückließ, waren nicht die Ruinen der alten Gesellschaft, sondern die zerstörten Hoffnungen auf eine neue. Die Russische Revolution scheiterte kläglich; sie ersetzte den Zarismus durch den Staatskapitalismus.[14] Die Bolschewiki wurden die tragischen Opfer ihrer eigenen Ideologie und viele von ihnen bezahlten dies in den Säuberungen der dreißiger Jahre mit dem Leben. Der Versuch, aus dieser Elends-Revolution unvergängliche Weisheiten zu ziehen, ist einfach lächerlich. Was wir aus den vergangenen Revolutionen lernen können, das sind lediglich ihre Gemeinsamkeiten und die außerordentliche Begrenztheit ihrer Möglichkeiten, gemessen an denen, die sich uns heute bieten.
Was an den Revolutionen der Vergangenheit am meisten auffällt, ist ihr spontanes Aufflammen. Ob man die Anfänge der Französischen Revolution von 1789 nimmt oder die Revolutionen von 1848, die Pariser Kommune oder die russische Revolution im Jahre 1905, den Sturz des Zaren im Jahre 1917, die ungarische Revolution von 1956 oder den französischen Generalstreik des Jahres 1968, die Anfangsstadien sind grundsätzlich gleich: nach einer kurzen Gärungszeit kommt es explosionsartig zu einem Massenaufstand. Ob dieser Aufstand dann erfolgreich ist oder nicht, hängt davon ab, wie entschlossen die Aufständischen sind, und ob sich die Truppen auf die Seite des Volkes schlagen.
Die „ruhmreiche Partei“, wenn sie zu dieser Zeit Oberhaupt existiert, hinkt meist hinter den Ereignissen her. Im Februar 1917 stemmte sich die Petrograder Sektion der Bolschewiki gegen die Ausrufung des Generalstreiks, und zwar genau am Vorabend der Revolution, welche den Zaren beseitigen sollte. Glücklicherweise ignorierten die Arbeiter die bolschewistischen Direktiven und streikten auch so. In der darauffolgenden Zeit war niemand so sehr überrascht Ober die Revolution wie die revolutionären Parteien, die Bolschewiki eingeschlossen. Der bolschewistische Führer Kajurow meinte dazu: „Direktiven aus den Parteizeitungen waren absolut nicht zu verspüren… Das Petrograder Komitee war verhaftet, und der Vertreter des Zentralkomitees, Genosse Schljapnikow, war ohnmächtig, Weisungen für den nächsten Tag zu geben.“[15] Vielleicht war das ein Glücksumstand. Denn bevor das Petrograder Komitee verhaftet worden war, war seine Einschätzung der Lage und seine eigene Rolle so unglücklich, daß es zweifelhaft ist, ob die Revolution auch dann stattgefunden hätte, wenn die Arbeiter seiner Führung gefolgt wären.
Nicht viel anders ist es mit den Unruhen, welche dem Jahr 1917 vorangingen, und, um nur ein Beispiel aus der jüngsten Geschichte anzuführen, mit den Vorgängen, welche sich im Mai und Juni 1968 nach dem Studentenaufstand und dem Generalstreik in Frankreich abspielten. Es ist natürlich sehr bequem, zu vergessen, daß zu dieser Zeit in Paris etwa ein Dutzend „straff zentralisierter“ Organisationen vom Typ der Bolschewiki existierten. Es wird auch höchst selten erwähnt, daß vor dem 7. Mai, dem Beginn der blutigen Straßenkämpfe, wirklich jede dieser „avantgardistischen“ Gruppen den studentischen Bemühungen in hochmütiger Ablehnung gegenüberstand. Nur die trotzkistische Jeunesse Communiste Revolutionnaire machte eine bemerkenswerte Ausnahme – und sie segelte vor allem deswegen im gleichen Boot mit, weil sie im wesentlichen den Initiativen der Bewegung des 22. März folgte.[16] Bis zum 7. Mai lehnten alle maoistischen Gruppen den Studentenaufstand als unwichtige Randerscheinung ab; die trotzkistische Föderation Revolutionärer Studenten bezeichneten ihn als „abenteuerlich“ und versuchten am 10. Mai, die Studenten zum Verlassen der Barrikaden zu bewegen; die Kommunistische Partei spielte selbstverständlich eine besonders hinterhältige Rolle. Obwohl die Maoisten und Trotzkisten nichts mit der Führung der Volksbewegung zu tun hatten, waren sie gleichwohl ganz und gar abhängig von ihr. Es klingt wie eine Ironie, daß die meisten dieser bolschewistischen Gruppen bei dem Versuch, die Studentenversammlungen in der Sorbonne unter „Kontrolle“ zu bekommen, ohne jede Scham zu manipulativen Techniken Zuflucht nahmen. Natürlich entstand dadurch eine Atmosphäre der Zerrissenheit, welche geradezu demoralisierend wirkte. Um das Maß der Ironie voll zu machen, schwatzten alle diese bolschewistischen Gruppen beim Zusammenbrechen der Volksbewegung von der Notwendigkeit einer „zentralen Führung“ – und das bei einer Bewegung, welche sich trotz der „Direktiven“ dieser Schwätzer entwickelt und denselben oft direkt zuwidergehandelt hatte.
Revolutionen und Aufstände von einigermaßen Bedeutung weisen nicht nur eine erstaunlich anarchische Anfangsphase auf, sondern zeigen auch die spontane Neigung, sich ihre eigenen Formen der Selbstverwaltung zu schaffen. Die Pariser Sektionen von 1793-94 waren die bemerkenswertesten Formen der Selbstverwaltung, welche jemals in einer der uns bekannten sozialen Revolutionen geschaffen wurden.[17] Eine noch bekanntere Form waren die Räte oder „Sowjets“, welche 1905 von den Petrograder Arbeitern eingesetzt wurden. Obwohl Räte nicht so demokratisch sind wie die Sektionen, konnten sie dennoch in einigen der späteren Revolutionen aufs neue ihre Funktionsfähigkeit beweisen. Eine weitere Form revolutionärer Selbstverwaltung waren die Fabrik-Komitees, welche die Anarchisten in der Spanischen Revolution von 1936 ins Leben riefen. Zuletzt erschienen die Sektionen wieder, diesmal als Studentenversammlungen und Aktionskomitees während des Mai-Juni-Aufstands und des Generalstreiks im Paris des Jahres 1968.[18] In diesem Zusammenhang erhebt sich die Frage, welche Rolle die „revolutionäre“ Partei bei alledem spielt. Wie wir sahen, kommt ihr anfangs eher eine hemmende Funktion als die Rolle der „Avantgarde“ zu. Wo sie Einfluß gewonnen hat, versucht sie, den Gang der Ereignisse zu verlangsamen und eine „Koordination“ der revolutionären Kräfte zu verhindern. Das geschieht nicht etwa zufällig. Die Partei besitzt eine hierarchische Struktur. Sie ist darin ein genaues Abbild jener Gesellschaft, welche sie zu bekämpfen vorgibt. Was sie auch immer für sich in Anspruch nehmen mag, sie ist ein bürgerliches Gebilde, ein Staat im Kleinen, mit einem Apparat und mit Kadern, welche Macht verschaffen, aber nicht Macht zerstören sollen. Die vorrevolutionäre Periode ist das eigentliche Lebenselement der Partei, und demzufolge nimmt sie die Formen, die Methoden und die Denkweise der Bürokratie an. Ihre Mitglieder sind auf Gehorsam gedrillt und auf die vorgefaßten Meinungen starrer Dogmen. Man hat sie gelehrt, den führenden Funktionären Verehrung entgegenzubringen. Umgekehrt hat man den Funktionären der Partei Gewohnheiten beigebracht, wie sie sich aus dem Zusammenspiel von Befehlsgewalt, Autorität, Manipulation und Selbstvergötterung ergeben. Diese Situation verschlechtert sich noch weiter, wenn die Partei an parlamentarischen Wahlen teilnimmt. In den Wahlkämpfen bedient sich nämlich die Partei der Avantgardisten der bestehenden bürgerlichen Gepflogenheiten und übernimmt das ganze Drum und Dran der übrigen an der Wahl beteiligten Parteien. Ausgesprochen kritische Ausmaße nimmt die Situation dann an, wenn die Partei große Tageszeitungen erwirbt, über kostspielige Parteizentralen und zahlreiche zentral kontrollierte Periodica verfügt und sich einen „Apparat“ von Berufsfunktionären aufbaut – kurz, wenn eine Bürokratie mit ihren handfesten materiellen Interessen entstanden ist.
Wächst die Mitgliederzahl der Partei, wächst auch die Kluft zwischen den Funktionären und dem einfachen Fußvolk. Die Führer der Partei werden zu „hohen Persönlichkeiten“ und verlieren den lebensnahen Kontakt nach unten. Die Ortsgruppen, welche die jeweilige Situation immer besser kennen als irgendein Führer, der sonstwo sitzt, dürfen nicht der eigenen Einsicht folgen, sondern müssen die Weisungen von oben befolgen. Die Führungsgremien, mit keiner unmittelbaren Kenntnis der örtlichen Probleme belastet, reagieren langsam und vorsichtig. Obwohl sie Anspruch auf den „umfassenden Einblick“ und das größere „theoretische Verständnis“ erheben, sinkt das Niveau ihrer Leistungen mit der Höhe der von ihnen in der Hierarchie erreichten Stufe. Je näher man der eigentlichen Entscheidungsebene kommt, desto konservativer wird die Natur der Beschlußfassungsvorgänge, desto mehr bürokratische und sachfremde Faktoren kommen ins Spiel und umso stärker treten Prestigedenken und Vereinfachungen in den Vordergrund. Was dafür entfällt, sind Einfallsreichtum, Einfühlungsvermögen und der uneigennützige Einsatz für die Ziele der Revolution.
In revolutionärer Hinsicht büßt die Partei umso mehr an Wirkung ein, je mehr sie diese mit den Mitteln der Hierarchie zu erzwingen versucht, d.h. durch Kader und durch Zentralisation. Es halten sich zwar alle Mitglieder an die gegebenen Befehle, aber gerade diese sind gewöhnlich falsch. Das wird besonders dann offenkundig, wenn sich die Ereignisse überstürzen und einen unerwarteten Verlauf nehmen, wie es bei Revolutionen fast immer der Fall ist. Die Partei ist nur in einer Hinsicht erfolgreich, dann nämlich, wenn sie nach einer geglückten Revolution die Gesellschaft nach dem eigenen hierarchischen Bild umgestaltet. Dann schafft sie wieder eine neue Bürokratie, zentralistische Gliederungen und einen neuen Staat. Sie begünstigt diese Schöpfungen auch späterhin. Darüberhinaus begünstigt sie sogar die sozialen Bedingungen, welche dieser Form der Gesellschaft einen Anschein von Berechtigung verleihen. Die Partei stirbt nun nicht etwa ab, nein, der von der „ruhmreichen Partei“ kontrollierte Staat behält alle die Zustände bei, welche die Notwendigkiet der Existenz eines Staates beweisen – und darüberhinaus beweisen, daß es eine Partei geben muß, welche ihrerseits wieder über den Staat „wacht“. Andererseits ist diese Art von Partei in Zeiten der Verfolgung extrem anfällig. Die Bourgeoisie braucht sich lediglich die leitenden Funktionäre zu greifen, wenn sie die Bewegung zerschlagen will. Sind ihre Führer inhaftiert oder müssen sie sich verstecken, ist die Partei praktisch gelähmt. Die ans Gehorchen gewöhnten Mitglieder haben niemand mehr, dem sie gehorchen können, und werden fast immer von Ratlosigkeit befallen. Schnell folgt dann die Demoralisation. Die Partei zerfällt nicht nur aufgrund der Verfolgungsmaßnahmen, sondern auch deshalb, weil ihr die inneren Reserven fehlen.
Bei dieser Aufzählung handelt es sich nicht um hypothetische Schlußfolgerungen, es ist vielmehr eine zusammenfassende Charakterisierung der marxistischen Massenparteien des vorigen Jahrhunderts – der Sozialdemokraten, der Kommunisten und der Trotzkistischen Partei Ceylons (der einzigen Massenpartei dieser Bewegung). Der Einwand, daß diese Parteien ihre marxistischen Prinzipien einfach nicht ernst genug genommen hätten, wirft nur eine andere Frage auf: Wieso kam es immer wieder zu solchen Unterlassungssünden? Der wahre Grund hierfür lag in der Zugehörigkeit der marxistischen Massenparteien zur bürgerlichen Gesellschaft, weil sie nach bürgerlichen Gesichtspunkten aufgebaut waren. Sie trugen schon bei ihrer Gründung den Bazillus des Verrats in sich.
Dessen ungeachtet war die bolschewistische Führungsspitze für gewöhnlich ausgesprochen konservativ, ein Charakterzug, gegen den Lenin im Jahre 1917 anzukämpfen hatte – zuerst bei seinen Bemühungen um Umstimmung des Zentralkomitees gegen die provisorische Regierung (der berühmte Streit über die „April-Thesen“) und später bei dem Versuch, das Zentralkomitee zum Oktober-Aufstand zu veranlassen. Beide Male mußte er erst drohen, das Zentralkomitee zu verlassen und seine Ansichten den unteren Funktionären der Partei zu unterbreiten.
Im Jahre 1918 nahmen dann die internen Auseinandersetzungen über den Vertrag von Brest Litowsk ein solches Ausmaß an, daß sich die Bolschewiki um ein Haar in zwei sich bekämpfende kommunistische Parteien gespalten hätten. Oppositionelle Gruppen unter den Bolschewiki, wie die Demokratischen Zentralisten und die Arbeiteropposition, lösten in den Jahren 1920 bis 1921 heftige Kämpfe innerhalb der Partei aus, gar nicht zu sprechen von den oppositionellen Bewegungen in den Reihen der Roten Armee, die sich wegen Trotzkis Hang zum Zentralismus gebildet hatten. Die vollständige Zentralisation der Partei der Bolschewiki – die Vollendung der „Leninschen Einheit“, wie sie später genannt wurde – erfolgte erst im Jahre 1921, als es Lenin gelang, den X. Parteitag der KPR zur Verurteilung aller ideologischen Streitigkeiten zu überreden. Damals waren die Weißgardisten zum größten Teil schon vernichtet, und die ausländischen Interventionsmächte hatten ihre Truppen aus Rußland zurückgezogen.
Es kann nicht eindringlich genug darauf hingewiesen werden, daß die Bolschewiki aus sich heraus die Zentralisation ihrer Partei bis zur Isolation von der Arbeiterklasse treiben wollten. Diese Einstellung ist später in leninistischen Kreisen recht selten zur Sprache gekommen, obwohl Lenin selbst ehrlich genug war, sie zuzugeben. Die Geschichte der Russischen Revolution ist nur zum geringeren Teil die Geschichte der Partei der Bolschewiki und ihrer Helfershelfer. Unter der oberflächlichen Schicht der Ereignisse, wie sie von den sowjetischen Historikern geschildert werden, verlief eine tiefer greifende Entwicklung – die spontane Bewegung der Arbeiter und revolutionären Bauern, die bald darauf zum heftigen Zusammenprall mit der bürokratischen Politik der Bolschewiki führte. Gleich nach dem Sturz des Zaren im Februar 1917 setzten die Arbeiter in den Fabriken Rußlands spontan und ohne Ausnahme Betriebskomitees ein, durch die sie ihre immer stärker werdenden Ansprüche auf Mitbestimmung bei der industriellen Fertigung geltend machten. Im Juni 1917 wurde in Petrograd eine gesamtrussische Konferenz der Betriebskomitees abgehalten, auf welcher die „Einführung einer echten Kontrolle der Produktion und der Distribution durch den Arbeiter“ gefordert wurde. Die Forderungen dieser Konferenz werden in den Darstellungen der Russischen Revolution nur selten erwähnt, und dies trotz der Tatsache, daß sich die Konferenz selber zur Sache der Bolschewiki bekannt hatte. Trotzki, der die Betriebskomitees als „die unmittelbarste und unbezweifelbare Repräsentation des Proletariats des ganzen Landes“ bezeichnet, erwähnt sie in seiner großen dreibändigen Geschichte der Revolution nur am Rande. Trotzdem kam diesen spontan gebildeten Körperschaften der Selbstverwaltung eine solche Bedeutung zu, daß Lenin im Sommer des Jahres 1917, als die Gewinnung der Sowjets noch nicht feststand, dazu bereit war, die Losung „Alle Macht den Sowjets“ über Bord zu werfen und durch die Losung „Alle Macht den Betriebskomitees“ zu ersetzen. Die Forderung dieser neuen Losung hätte die Bolschewiki mit einem Schlage in eine ananrcho-syndikalistische Position gebracht, was natürlich nicht heißen soll, daß sie diesen Standpunkt auch für längere Zeit beibehalten hätten.
Mit der Oktoberrevolution übernahmen die bestehenden Betriebskomitees zugleich die Kontrolle über die Werksanlagen und kontrollierten, nachdem sie die Bourgeoisie überall verdrängt hatten, schließlich die gesamte Industrie. Lenins berühmtes Dekret vom 14. November 1917, in dem das Konzept der Arbeiterkontrolle anerkannt wurde, bestätigte im Großen und Ganzen nur eine bereits vollzogene Tatsache; die Sowjets wagten es zu diesem frühen Zeitpunkt einfach noch nicht, den Arbeitern entgegenzutreten. Dafür begannen sie, die Machtbefugnisse der Betriebskomitees zu beschneiden. Im Januar 1918, knapp zwei Monate nach der „Dekretierung“ der Arbeiterkontrolle, setzte sich Lenin erstmals dafür ein, die Verwaltung der Fabriken der Kontrolle der Gewerkschaften zu unterstellen. Die Geschichte, daß die Sowjets die Arbeiterkontrolle „mit viel Geduld“ ausprobiert und sie dann doch als „unwirksam“ und „chaotisch“ erkannt hätten, ist eine Erfindung. Ihre „Geduld“ dauerte gerade ein paar Wochen. Nicht nur, daß Lenin der unmittelbaren Kontrolle durch die Arbeiter schon wenige Wochen nach Erlaß des Dekrets vom 14. November entgegentrat, auch die Kontrolle durch die Gewerkschaften wurde kurz nach ihrer Einführung wieder abgeschafft. Im Sommer des Jahres 1918 arbeitete der größte Teil der russischen Industrie wieder unter den von der Bourgeoisie her bekannten Verwaltungsformen. Wie Lenin es ausdrückt[19]; „Heute aber fordert dieselbe Revolution, … eben im Interesse des Sozialismus, die unbedingte Unterordnung der Massen unter den einheitlichen Willen der Leiter des Arbeitsprozesses.“[20] Etwas später wird die Arbeiterkontrolle von ihm nicht mehr nur als „unwirksam“, „chaotisch“ und „unpraktisch“, sondern auch als „kleinbürgerlich“ abgetan!
Der Linkskommunist Osinski wandte sich erbittert gegen all diese falschen Ansprüche und warnte die Partei: „Der Sozialismus und die sozialistische Organisation müssen vom Proletariat selbst errichtet werden oder sie werden es nie; alles andere muß zum Staatskapitalismus führen“.[21] Im „Interesse des Sozialismus“ verdrängte die Partei der Bolschewiki das Proletariat aus allen Positionen, die es sich aus eigener Kraft und eigener Initiative errungen hatte. Die Partei einte weder die verschiedenen Strömungen innerhalb der Revolution noch nahm sie eine führende Rolle in ihr ein; sie beherrschte die Revolution ganz einfach. Die ursprüngliche Arbeiterkontrolle und die darauf folgende Kontrolle durch die Gewerkschaften wurden durch eine komplizierte Hierarchie gigantischen Ausmaßes ersetzt, wie es sie vor der Revolution noch nirgendwo gegeben hatte. Die Entwicklung dieser Jahre beweist jedenfalls, wie richtig Osinskis Prophezeiung gewesen war.
Das Problem des „Wer wird die Macht erobern“ – die Bolschewiki oder die russischen Massen – blieb keinesfalls auf die Fabriken beschränkt. Es entschied sich sowohl auf dem Lande wie in den Städten. Eine schnell um sich greifende Bauernrevolte hatte der Arbeiterbewegung wieder neuen Auftrieb gegeben. Im Gegensatz zu der offiziellen leninistischen Version war der Bauernaufstand durchaus nicht nur eine Sache der Wiederaufteilung des Bodens in private Ländereien. In der Ukraine richteten die Bauern zahlreiche ländliche Kommunen ein. Sie standen,dabei unter dem Einfluß der anarchistischen Miliz Nestor Machnos[22] und hielten sich an die kommunistische Maxime „Von jedem nach seinen Fähigkeiten; für jeden nach seinen Bedürfnissen“. Aber nicht nur hier, auch im nördlichen Sowjetasien wurden mehrere Tausend solcher Kommunen gegründet, einige auf Initiative der linken Sozialrevolutionäre, die meisten jedoch als Folge der traditionellen kollektivistischen Impulse, welche von der russischen Dorfgemeinde, dem Mir, ausgingen. Es ist in diesem Falle nicht so wichtig, wie zahlreich die Kommunen waren, oder wieviele Bauern ihnen angehörten; ihre Bedeutung besteht vielmehr darin, daß sie ureigentliche Schöpfungen des Volkes waren, Keimstätten einer moralischen und sozialen Gesinnung, welche turmhoch über den enthumanisierenden Werten der bürgerlichen Gesellschaft stand.
Die Bolschewiki waren von Anfang an gegen solche Organisationsformen und verurteilten sie schließlich ganz offen. Wie Lenin, bevorzugten sie die „sozialistischere“ Form der Landwirtschaft, das Staatsgut – eine Art landwirtschaftlicher Fabrik,in welcher der Boden und das zur Bearbeitung erforderliche Gerät dem Staat gehörten. Der Staat setzte auch Verwalter ein, welche Landarbeiter anzuwerben und ihnen einen bestimmten Lohn zu zahlen hatten.
Diese grundsätzliche Einstellung gegen die Arbeiterkontrolle und die bäuerlichen Kommunen zeigt das zutiefst bürgerliche Fühlen und Denken, welches die Partei der Bolschewiki beherrschte – ein Fühlen und Denken, das nicht allein von ihren Theorien herrühren konnte, sondern in erster Linie eine Folge ihrer korporativen Organisationsweise war. Im Dezember 1918 startete Lenin einen Angriff gegen die Kommunen unter dem Vorwand, die Bauern seien zum Beitritt gezwungen worden. In Wahrheit war wenig oder gar kein Zwang für die Errichtung dieser kommunistischen Formen der Selbstverwaltung angewandt worden. Robert G. Wesson, welcher die Sowjetkommunen im einzelnen studiert hatte, faßt das folgendermaßen zusammen: „Diejenigen, welche in die Kommunen eintraten, müssen dies zum überwiegenden Teil aus eigener Entscheidung heraus getan haben“.[23] Die Kommunen wurden zwar vorerst nicht verboten, aber es wurde auch nichts für ihre Entwicklung getan. Schließlich fiel alles bis dahin Entstandene den Stalinschen Zwangskollektivierungen der späten zwanziger und frühen dreißiger Jahre zum Opfer.
Etwa um das Jahr 1920 hatten sich die Bolschewiki von der russischen Arbeiter- und Bauernschaft isoliert. Zusammenfassend läßt sich sagen, die Abschaffung der Arbeiterkontrolle, die Unterdrückung der Machnowzy, die verödete politische Atmosphäre auf dem Lande, die aufgeblähte Bürokratie und, als Erbe der Bürgerkriegsjahre, die niederdrückende materielle Not hatten eine tiefe Feindschaft gegen die bolschewistische Herrschaft entstehen lassen. Als Folge der Feindseligkeiten brach aus den Tiefen der russischen Gesellschaft eine Bewegung hervor, welche nach einer „dritten Revolution“ verlangte – nicht, um die Vergangenheit neu erstehen zu lassen, wie die Bolschewiki behaupteten, sondern um die wahren Freiheitsziele zu verwirklichen, die wirtschaftlichen wie die politischen, um derentwillen sich die Massen unter dem bolschewistischen Programm des Jahres 1917 zusammengefunden hatten. Besonders selbstbewußte Anhänger fand die neue Bewegung im Petrograder Proletariat und unter den Kronstädter Matrosen. Sie fand auch Widerhall innerhalb der Partei: die antizentralistischen und anarchosyndikalistizchen Tendenzen unter den Bolschewiki nahmen so stark zu, daß ihre Befürworter einmal auf einer Moskauer Provinziolkonferenz 124 Sitze gewannen. Diesem starken Oppositionsblock standen 154 Sitze der Anhänger des Zentralkomitees gegenüber.
Am 2. März 1921 brachen die „roten Matrosen“ von Kronstadt in offenen Aufruhr aus und hißten das Banner der „Dritten Revolution der Schwerarbeiter“. Im Mittelpunkt des Kronstädter Programms standen freie Wahlen zu den Sowjets, Rede- und Pressefreiheit für die Anarchisten und die linkssozialistischen Parteien, freie Gewerkschaften und die Freilassung aller inhaftierten Anhänger der sozialistischen Parteien. Von den Bolschewiki wurden die unverschämtesten Geschichten über diesen Aufstand fabriziert, die sich in späteren Jahren als freche Lügen erwiesen. Die Revolte wurde als „weißgardistischer Anschlag“ hingestellt, und das, obwohl sich die große Mehrheit der Mitglieder der Kommunistischen Partei in Kronstadt mit den Matrosen solidarisiert hatte – wohlgemerkt als Kommunisten – und die eigenen Parteiführer verächtlich als Verräter an der Oktoberrevolution bezeichnet hatte. Robert Vincent Daniels beschrieb dies in seiner Studie Ober die bolschewistischen oppositionellen Bewegungen folgendermaßen: „Gewöhnliche Kommunisten waren in der Tat so unzuverlässig …., daß sich die Regierung nicht auf sie verließ, weder beim Angriff auf Kronstadt selbst, noch bei der Aufrechterhaltung der Ordnung in Petrograd, dem zentralen Ort für die Kronstädter Hoffnungen auf Unterstützung. Das Hauptkontingent der eingesetzten Truppen bildeten Tschekisten und Offiziersanwärter von den Kadettenschulen der Roten Armee. Der Schlußangriff auf Kronstadt wurde von der Führungsspitze der Kommunistischen Partei geleitet – einer großen Gruppe von Delegierten zum X. Parteitag, welche zu diesem Zweck eiligst aus Moskau herbeibeordert worden waren.“[24] Das Regime war so schwach im Innern, daß die Elite ihre schmutzige Arbeit ganz allein ausführen mußte.
Noch bezeichnender als die Kronstädter Revolte war die Streikbewegung innerhalb der Petrograder Arbeiterschaft, jener Bewegung, von der der Anstoß zum Aufstand der Matrosen ausgegangen war. Die leninistische Geschichtsschreibung erwähnt diese für die Kritik so bedeutsame Bewegung Oberhaupt nicht. Die ersten Streiks brachen am 23. Februar 1921 in der Troubotchny-Fabrik aus. In wenigen Tagen hatte die Bewegung von Fabrik zu Fabrik übergegriffen, bis am 28. Februar auch die bekannten Putilow Werke – der „Schmelztiegel der Revolution“ – vom Streik erfaßt worden waren. Dabei wurden nicht nur wirtschaftliche Forderungen geltend gemacht, die Arbeiter erhoben auch politische. Mit ihnen nahmen sie bereits die Forderungen vorweg, welche wenige Tage später von den Kronstädter Matrosen aufgestellt wurden. Am 24. Februar verhängten die Bolschewiki den „Belagerungszustand“ über Petrograd, verhafteten die Anführer des Streiks und lösten die Demonstrationen der Arbeiter durch Offiziersanwärter mit Waffengewalt auf. Sie unterdrückten in der Tat weit mehr als nur eine „Meuterei unter den Matrosen“, sie schlugen die Arbeiterklasse als solche zu Boden. Die Entwicklung hatte damit einen Punkt erreicht, der es Lenin erlaubte, die Ächtung jeglicher Fraktionsbildung in der Kommunistischen Partei zu verlangen. Es kam zur vollständigen Zentralisation der Partei – der Weg für Stalin war geebnet.
Diese Ereignisse sind hier deshalb so eingehend behandelt worden, weil sie einen Schluß zulassen, den die Marxisten-Leninisten der späteren Zeit zu vermeiden suchen: die Partei der Bolschewiki erreichte ihr Maximum an Zentralisation in Lenins Tagen nicht, um eine Revolution durchzuführen oder eine weißgardistische Konterrevolution zu zerschlagen, sondern um selber eine Konterrevolution durchführen zu können; eine Konterrevolution gegen jene gesellschaftlichen Kräfte, die sie doch repräsentieren wollte. Jede Fraktionsbildung war verboten und eine monolithische Partei geschaffen worden, aber nicht, um eine „kapitalistische Restauration“ zu verhindern, sondern um einer Massenbewegung der Arbeiter für eine Sowjet-Demokratie und die soziale Freiheit entgegenzuwirken. Der Lenin des Jahres 1921 war genau das Gegenteil des Lenins von 1917. Später war Lenin einfach am Ende mit seinem Latein. Er, der vor allem versuchte, die Probleme seiner Partei als eine Folge der sozialen Widersprüche hinzustellen, spielte in Wirklichkeit nur noch ein organisatorisches „Spiel mit Zahlen“. Es war der von vornherein ausssichtslose Versuch, die ganze, von ihm selbst ins Leben gerufene Bürokratisierung wieder zu bremsen. Nichts ist so bemitleidenswert und tragisch wie Lenins letzte Lebensjahre. Gefangen in dem viel zu primitiven System marxistischer Leitsätze, vermag er keine besseren Gegenmaßnahmen zu erkennen als solche organisatorischer Art. Um die bürokratischen Auswüchse in der Partei und im Staat auszumerzen, schlägt er die Bildung der Arbeiter- und Bauerninspektion vor – und diese Körperschaft gerät unter Stalins Kontrolle und wird ihrem Wesen nach selber extrem bürokratisch. Lenin schlägt daraufhin vor, daß die zahlenmäßige Stärke der Arbeiter- und Bauerninspektion reduziert und mit der Kontrollkommission verschmolzen wird. Er tritt zugleich für die Erweiterung des Zentralkomitees ein. Das spielt sich dann folgendermaßen ab: man vergrößert das Ganze, indem man zwei Teile miteinander vereinigt, um einen dritten wieder abzuändern oder verschwinden zu lassen. Dieses sonderbare Theater mit den Organisationsformen hält bis zu Lenins Tode an, als ob das Problem mit organisatorischen Mitteln gelöst werden könnte. Ganz in diesem Sinne schreibt Mosche Lewin, sonst ein eindeutiger Bewunderer Lenins, daß der Führer der Bolschewiki „die Regierungsprobleme eigentlich mehr wie ein leitender Beamter mit ausgesprochen „elitärer“ Einstellung angepackt“ habe.“ Bei der Führung des Staates verzichtete er auf sozialanalytische Methoden und blieb bei seinen Überlegungen im Bereich der organisatorischen Möglichkeiten.“[25]
Wenn es stimmt, daß in den bürgerlichen Revolutionen die „Losungen mehr versprachen, als sich erfüllen ließ“, dann ersetzten in der bolschewistischen Revolution äußere Formen die echte Erfüllung. So traten die Sowjets an die Stelle der Arbeiter und der Betriebskomitees und die Partei an die Stelle der Sowjets. An die Stelle der Partei trat dann das Zentralkomitee und an dessen Stelle schließlich das Politbüro. Kurz, an die Stelle des eigentlichen Zweckes traten die Mittel. Diese kaum faßbare Ersetzung des Zweckes durch äußere Formen ist eines der charakteristischsten Merkmale des Marxismus-Leninismus. In Frankreich war es während des Verlaufs der Mai- und Juniereignisse das Ziel aller bolschewistischen Organisationen, die Studentenversammlung in der Sorbonne zu sprengen, um dadurch den eigenen Einfluß zu vergrößern und neue Mitglieder zu gewinnen. Es ging ihnen in erster Linie nicht um die Revolution oder um die von den Studenten geschaffenen sozialen Formen, sondern um den Machtzuwachs der eigenen Partei.
Nur eine einzige Macht hätte dem Anschwellen der Bürokratie in Rußland Einhalt gebieten können: die Macht der Gesellschaft als solche. Wenn das russische Proletariat und die Landbevölkerung mehr Erfolg auf dem Gebiet der Selbstverwaltung gehabt hätten, wenn mehr lebensfähige Betriebskomitees, ländliche Kommunen und freie Sowjets entstanden wären, vielleicht hätte dann die Geschichte Rußlands eine dramatische Wendung genommen. Es steht außer Frage, daß das Fehlschlagen der sozialistischen Revolutionen im übrigen Europa nach dem ersten Weltkrieg zur Isolierung der Russischen Revolution führte. Rußlands materieller Mangel, dazu der Druck der umliegenden kapitalistischen Länder, waren schwerwiegende Hindernisse für den Aufbau einer sozialistischen oder gar einer wirklich freiheitlichen Gesellschaft. Es gab jedoch keinerlei Gründe dafür, daß sich Rußland nach staatskapitalistischen Gesichtspunkten entwickeln mußte. Hätte die aus dem Volke kommende Bewegung die ursprünglichen Ergebnisse der Revolution von 1917 wieder erneuert, hätte sich höchstwahrscheinlich eine vielfältige Gesellschaftsstruktur herausgebildet. Die Voraussetzungen hierfür wären durch die Arbeiterkontrolle in der Industrie, durch freie Märkte in der Landwirtschaft und durch eine lebendige Wechselwirkung zwischen Ideen, Programmen und politischen-Bewegungen gegeben gewesen. Auf jeden Fall aber wären Rußland die totalitären Ketten erspart geblieben, und der Stalinismus hätte nicht die revolutionären Bewegungen der ganzen Welt vergiften können, was dann letztlich zum Faschismus und zum zweiten Weltkrieg führte.
Man mag sich dazu stellen, wie man will, die Entwicklung der Partei der Bolschewiki war der Schlüssel für die Gesamtentwicklung – wobei die guten Absichten Lenins oder Trotzkis nicht bezweifelt werden sollen. Dadurch, daß die Bolschewiki den Einfluß der Betriebskomitees in der Industrie gebrochen und die Machnowzy, die Petrograder Arbeiter und die Kronstädter Matrosen vernichtet hatten, besiegelten sie den endgültigen Triumph der russischen Bürokratie über die russische Gesellschaft. Die zentralisierte Partei – diese ganz und gar bürgerliche Einrichtung – wurde zum Schlupfwinkel einer Konterrevolution übelster Art. Es war eine verschleierte Konterrevolution, die sich hinter der roten Fahne und der Marxschen Terminologie versteckte. Abschließend läßt sich sagen, was die Bolschewiki im Jahre 1921 bekämpften, war keine „Ideologie“ oder „weißgardistische Verschwörung“, sondern ein elementares Aufbegehren des russischen Volkes, das seine Fesseln loswerden und sein Schicksal selber bestimmen wollte.[26] Der Ausgang dieses Kampfes brachte Rußland den Alptraum der Stalinschen Diktatur. Den Menschen der dreißiger Jahre brachte er die Schreckenszeit des Faschismus und den Verrat der kommunistischen Parteien in Europa und den Vereinigten Staaten.
[14] Eine Tatsache, welche Trotzki niemals einsah. Nie zog er bei seinem eigenen Konzept von der „kombinierten Entwicklung“ die letzten logischen Konsequenzen. Er sah (ganz richtig), daß Rußland als Nachzügler in der bürgerlichen Entwicklung Europas nur die fortgeschrittensten Industrie- und Klassenformen übernehmen konnte, wenn es nicht die ganze bürgerliche Entwicklung von Anfang an noch einmal durchlaufen wollte. Dabei dachte er jedoch nicht daran, daß das von einer schrecklichen Umwälzung zerrissene Rußland selber der kapitalistischen Entwicklung im Übrigen Europa weit vorauseilen könnte. Hypnotisiert von der Formel „Nationalisiertes Eigentum bedeutet Sozialismus“, vermochte er nicht zu erkennen, daß der Monopolkapitalismus, aufgrund der ihm innewohnenden Dialektik, selber die Tendenz hat, mit dem Staat zu verschmelzen. Nachdem die Bolschewiki erst einmal die traditionellen Formen der bürgerlichen Sozialordnung beseitigt hatten (die der staatskapitalistischen Entwicklung in Europa und Amerika heute noch entgegenwirken), schufen sie unabsichtlich die Grundlagen für eine „reine“ staatskapitalistische Entwicklung, in welcher dem Staate schließlich die Rolle der herrschenden Klasse zufällt. Als dann noch die Unterstützung durch das technisch fortgeschrittenere Europa ausblieb, entwickelte sich die Russische Revolution zur internationalen Konterrevolution; das staatskapitalistische Sowjetrußland diente durchaus nicht mehr „dem Wohle des ganzen Volkes“. Die Leninsche Analogie zwischen „Sozialismus“ und Staatskapitalismus wurde unter Stalin zu einer Schrecken erregenden Realität. Trotz seiner humanistischen Grundhaltung begriff der Marxismus nicht, welche Ähnlichkeit zwischen seinem Konzept des „Sozialismus“ und einer Spätform des Kapitalismus besteht – beide kehren sie zu merkantilen Formen zurück, nur eben auf höherem industriellen Niveau. Das Nichtbegreifen dieser Entwicklung ist die eigentliche Ursache der theoretischen Verwirrung und ihrer verheerenden Folgen für die heutige revolutionäre Bewegung. Man bedenke nur einmal die verschiedenen Meinungen der Trotzkisten zu dieser Frage. [15] siehe: Leo Trotzki, Geschichte der russischen Revolution, S. 132, S. Fischer Verlag, Frankfurt/M., 1967 [16] Die Bewegung des 22. März wirkte bei den Ereignissen als Katalysator und nicht als ein Anführer. Sie gab keine Weisungen; sie gab Impulse und überließ die Dinge dem freien Spiel der Kräfte. Dieses freie Spiel, das den Studenten das Vorantreiben der eigenen Stoßkraft erlaubte, war eine unerläßliche Voraussetzung für die Dialektik des Aufstandes. Ohne dasselbe hätte es am 10. Mai keine Barrikaden gegeben, welche ihrerseits wieder den Generalstreik der Arbeiter auslösten. [17] Vergleiche: M. Bookchin, The Forms of Freedom, in: Post-Scarcity-Anarchism, San Francisco 1971, S. 141ff. [18] In ihrer maßlosen Arroganz, teilweise auch aus Unwissenheit heraus, wollen einige der marxistischen Gruppen tatsächlich die eben aufgeführten Formen der Selbstverwaltung zu „Sowjets“ erklären. Dieser Versuch, die verschiedenen Formen insgesamt in einer einzigen Rubrik unterzubringen, ist nicht nur mißverständlich, sondern bewußt verdummend. Die seinerzeitigen Sowjets waren von allen revolutionären Formen die am wenigsten demokratische, und die Bolschewiki benutzten sie auf raffinierte Weise dazu, der eigenen Partei die Macht zuzuspielen. Die Sowjets entsprachen nicht dem direkten, aus dem persönlichen Kontakt sich ergebenden Volkswillen, wie es bei den Pariser Sektionen oder den Studentenversammlungen von 1968 der Fall war. Sie beruhten auch nicht auf wirtschaftlicher Selbstverwaltung wie die anarchistischen Fabrik-Komitees in Spanien. In Wirklichkeit bildeten die Sowjets ein hierarchisch gegliedertes Volksparlament, dessen repräsentative Bedeutung von den Fabriken und später vom Militär und von den ländlichen Gemeinden garantiert wurde. [19] W.I. Lenin, Ausgewählte Werke, Bd. 2, Dietz Verlag, Berlin 1964 [20] W.I. Lenin, „Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht“. In dieser streng gehaltenen Abhandlung, die er im April 1918 veröffentlichte, rückt Lenin völlig von jener freiheitlichen Perspektive ab, welche er ein Jahr zuvor in „Staat und Revolution“ aufgestellt hatte. Die Hauptthemen sind nun die Notwendigkeit der „Disziplin“, der autoritären Kontrolle über die Fabriken und der Errichtung des Taylor-Systems (eines Systems, welches Lenin vor der Revolution noch als Versklavung des Menschen durch die Maschine abgelehnt hatte). Die Abhandlung wurde während einer vergleichsweise friedlichen Periode der bolschewistischen Herrschaft geschrieben, etwa zwei Monate nach der Unterzeichnung des Brest Litowsker Vertrags und einen Monat vor der Revolte der Tschechischen Legion im Ural – jener Revolte, welche den Bürgerkrieg auslöste und die direkte Intervention der Alliierten in Rußland nach sich zog. Weiter ist dazu zu sagen, daß die Abhandlung rund ein Jahr vor dem Zusammenbruch der deutschen Revolution abgefaßt wurde. Es ist also nicht gut möglich, „Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht“ unter den Gesichtspunkten des Russischen Bürgerkriegs und des Scheiterns der Revolution in Europa zu sehen. [21] V.V. Osinski, On the Building of Socialism, Kommunist, Nr. 2, April 1918, zitiert nach R.-V. Daniels, The Conscience of the Revolution, Cambridge, 1960, S. 85f. [22] s. hierzu P. Arschinoff, Geschichte der Machno-Bewegung 1918-1921, Berlin 1974 [23] Robert G. Wesson, Soviet Communes, New Brunswick 1963, S. 110 [24] R.V. Daniels, a.a.O., S. 145 [25] Mosche Lewin, Lenin’s Last Struggle, New York 1968, S. 122 [26] Mit der Umfälschung dieses elementaren Aufbegehrens der russischen Arbeiter und Bauern zu einer Reihe von „weißgardistischen Verschwörungen“, zu „Widerstandsaktionen der Kulaken“ und zu „Anschlägen des internationalen Kapitals“ erreichten die Bolschewiki den Tiefpunkt ihrer Glaubwürdigkeit. Sie täuschten mit ihren Versionen allenfalls die eigenen Leute. In den Reihen der Partei machte sich zudem ein geistiger Verfall bemerkbar, der zu einer Politik der Geheimpolizei, zum Rufmord und schließlich zu den Moskauer Prozessen und zur Liquidierung des größten Teils der alten Bolschewiki führte. Neuerdings erlebt man das Wiederaufleben dieser verabscheuungswürdigen Geisteshaltung in verschiedenen Artikeln der PL-Presse, so etwa bei „Marcuse: Cop-out or Cop?“ – ein Artikel, welcher Marcuse als Agenten des CIA hinzustellen versucht (siehe in „Progressive Labor“, Februar 1969). Der Artikel bringt u.a. ein Bild von demonstrierenden Parisern und darunter die Zeile: „Marcuse kam zu spät nach Paris, um die Mai-Aktion zu stoppen“. Die Gegner der PLP werden von diesem Schmierblatt abwechselnd als „Kommunistenfresser“ und als „Anti-Arbeiter“ bezeichnet. Wenn Amerikas Linke diese Handlangerdienste für die Polizei und diese Rufmordmethoden nicht zurückweist, wird sie dafür in den kommenden Jahren teuer zu bezahlen haben.