Tiefpunkt: „Alice Salomon turned Palestinian“
Das noch junge Jahr 2025 hat bereits mehrere Tiefpunkte hervorgebracht. In Österreich ist der Rechtsextremist Herbert Kickl auf dem besten Weg, als Kanzler am Wiener Ballhausplatz einzuziehen. Mark Zuckerberg und andere Tech-Milliardäre unterwerfen sich Donald Trump, der in weniger als 14 Tagen erneut US-Präsident wird, indem sie ihm ihre Dienste anbieten und durch den Verzicht auf Faktenchecks die Verbreitung von Lügen und Hetze unterstützen.
In Berlin wurde ein weiterer Tiefpunkt erreicht: Am Montag und Dienstag dieser Woche besetzten Studierende der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin, unterstützt von weiteren Gruppen, mehrere Räume der Hochschule. Auf Transparenten waren Aufschriften wie „No Place for Zionists“ und „Tod dem Imperialismus“ zu lesen.
Postkarten mit dem roten Dreieck der Terrororganisation Hamas und der Aufschrift „Hamas, mein Liebling“ in arabischer Sprache wurden laut Berichten, unter anderem des Tagesspiegels, sowie auf im Netz veröffentlichten Bildern gezeigt.
In diesem Kontext wurde das Andenken an die Namensgeberin der Hochschule, Alice Salomon (1872–1948), geschändet. Eine Büste der jüdischen Sozialreformerin, Frauenrechtlerin und Pionierin der Sozialen Arbeit in Deutschland, die von den Nationalsozialisten verfolgt und 1937 ins Exil getrieben wurde, wurde mit einer Kuffiyah verhüllt und mit dem Wort „Palestine“ beschmiert. Im Netz kursieren Bilder der verunstalteten Büste mit der Aufschrift „Alice Salomon turned Palestinian“.
Alice Salomon wurde in einer bürgerlichen jüdischen Familie geboren. Sie studierte zunächst Medizin, wechselte jedoch zur Nationalökonomie und promovierte 1906 an der Universität Berlin mit einer Dissertation über die Ursachen ungleicher Entlohnung von Männern und Frauen. Bereits 1899 gründete sie die Soziale Frauenschule Berlin, die erste Ausbildungsstätte für Frauen in der Sozialarbeit in Deutschland.
Diese Schule wurde zum Modell für die Ausbildung von Sozialarbeiterinnen und richtete sich an Frauen aus der bürgerlichen Schicht, die sich professionell und systematisch in der Wohlfahrtspflege engagieren wollten.
Salomon war in zahlreichen wohlfahrtsorientierten Organisationen aktiv, darunter dem Deutschen Verein für Armenpflege und Wohltätigkeit. Sie engagierte sich in der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit und setzte sich stark für soziale Gerechtigkeit und Gleichstellung ein.
Ihr Ziel war es, Frauen durch Berufe in der Sozialarbeit gesellschaftliche und wirtschaftliche Unabhängigkeit zu ermöglichen. Dabei ging es ihr nicht nur darum, akute Notlagen zu lindern, sondern langfristige Lösungen zu entwickeln, die die Ursachen von Armut und sozialer Ungleichheit bekämpfen.
Die Nationalsozialisten verfolgten Alice Salomon aufgrund ihrer jüdischen Herkunft, ihres sozialen Engagements und ihres Einsatzes für Frauenrechte. Ihre Verfolgung war Ausdruck der systematischen Entrechtung und Ausgrenzung jüdischer Menschen und Andersdenkender im Dritten Reich.
Bereits 1933 wurde Salomon aus der Leitung der Sozialen Frauenschule Berlin gedrängt und aus allen wohlfahrtsorientierten Organisationen ausgeschlossen. 1935, vor exakt 90 Jahren, wurde sie gezwungen, ihren Titel als Ehrensenatorin der Universität Berlin zurückzugeben, den sie 1929 für ihre Verdienste in der Sozialpolitik erhalten hatte.
Dieser Akt diente ihrer öffentlichen Demütigung. In antisemitischen Kampagnen wurde ihre Reformarbeit und internationale Vernetzung als „un-deutsch“ und „zersetzend“ diffamiert. Wiederholt wurde sie von der Gestapo verhört, bis sie 1937 aus politischen und rassistischen Gründen ausgebürgert wurde. Gleichzeitig wurde ihr die deutsche Staatsbürgerschaft entzogen.
Merle Stöver, ehemalige Absolventin der ASH Berlin, spätere Lehrbeauftragte und heute an der Universität Bielefeld zu Antisemitismus und Antiziganismus forschend, kommentierte die Vorfälle auf LinkedIn zutreffend:
„[…] 77 Jahre nach Alice Salomons Tod rennen irgendwelche vollständig losgelösten Studierenden durch diese Hochschule, stülpen ihr das Tuch über und kommentieren das Ganze im Internet mit ‚Alice Salomon turned Palestinian‘. Tote Juden, die sich der Instrumentalisierung nicht entziehen können, sind ihnen immer noch am liebsten.
Ich muss dabei an die Jubiläumsfeier vorletztes Jahr denken, als Alice Salomons 150. Geburtstag begangen wurde und sich Studierende an der ASH beschwerten, dass so viel über ‚weiße privilegierte Positionen‘ gesprochen würde. Ihnen gelten Juden als weiß und privilegiert – selbst diejenigen, die von den Nationalsozialisten verfolgt, gedemütigt und zu Millionen ermordet wurden.“
Man kann angesichts dessen klar formulieren: das von den Besetzer:innen präsentierte Transparent „No Places for Zionists“ meint, dass an der nach Alice Salomon benannten Hochschule kein Platz für Jüdinnen und Juden (mehr) sein soll.
Die Hochschulleitung hat sich in einem ausführlichen und ausgewogenen Statement zu der Besetzung geäußert. Dabei machte sie deutlich, dass sie die sehr unterschiedlichen Perspektiven des Krieges ebenso wie der Studierenden im Blick hat und das Ziel verfolgt, in einem gewaltfreien Diskurs innerhalb der Hochschule auch diese Besetzung zu bewältigen.
Das Präsidium wies dabei auf die Gefahr hin, dass „in der politisch aufgeladenen angespannten Auseinandersetzung mit Terror und Krieg im Nahen Osten und den Folgen für unsere Gesellschaft und unsere Hochschulkultur […] sich die Erfahrung von Angehörigen unserer Hochschule und das allgemeine Risiko [vervielfältigt], dass als muslimisch und arabisch oder als People of Color gelesene Personen besonders schnell und voreingenommen in den Fokus von Anschuldigung, verbaler und handgreiflicher Aggression oder behördlichen Maßnahmen geraten“.
Unverständlich bleibt jedoch, warum die Hochschulleitung nicht auf die Schändung des Andenkens der jüdischen Namensgeberin einging. Was die verbale und handgreifliche Aggression der Besetzer:innen gegen des jüdische Andenken der Hochschule mit jüdischen oder aus Israel stammenden Personen macht und welche Folgen dies für den Anspruch einer inklusiven Hochschule zeitigt, blendet die Hochschulleitung aus.
Ob aus Ignoranz oder Vorsatz – beides ist fatal. Das Statement der Hochschule wirkt dadurch wie eine pflichtschuldige Aneinanderreihung bedeutender Formulierungen. Der Kern, die Identität der Hochschule, die sich aus Alice Salomons Erbe speist, bleibt dabei verloren. Das ist ein Armutszeugnis.