Polizeikessel zum „Tag X“: Wenn die Wohnadresse plötzlich beim Verfassungsschutz landet

Das Vorgehen der Sicherheitsbehörden rund um den „Tag X“ ist umstritten: Jetzt hat das Landeskriminalamt die Daten von 1 322 Menschen an den Verfassungsschutz weitergegeben. Betroffene und Juristen fragen sich: Geht es hier um Aufklärung oder Abschreckung?

Wenn man Jonathan Wiencke fragt, ob er linksextrem ist, dann sagt er sofort: „Nein“. Wiencke ist Schatzmeister der Grünen in Leipzig, demonstriert gegen Rechtsextreme und setzt sich für den Klimaschutz ein. Politische Ziele mit Gewalt durchzusetzen, davon hält er nichts.

Der 31-Jährige weiß aber, dass seine Meinung irrelevant ist, seitdem er am 3. Juni 2023 in Leipzig an einer Demonstration rund um den „Tag X“ teilnahm, in einen Polizeikessel geriet: 1324 Menschen harrten stundenlang auf dem Heinrich-Schütz-Platz aus – Beamte nahmen ihre Personalien auf, beschlagnahmten Handys, leiteten gegen jeden ein Verfahren wegen Landfriedensbruch ein.

Die Frage nach der Verhältnismäßigkeit stellt sich seitdem immer wieder: Im Februar veröffentlichte das Innenministerium Antworten auf eine Große Anfrage, die Zweifel am Vorgehen der Polizei nicht unbedingt ausräumen konnten. Jetzt wurde bekannt, dass das LKA im Zuge der Ermittlungen personenbezogene Daten von Tatverdächtigen an das Landesamt für Verfassungsschutz weiter geleitet hat. Darüber berichtete zuerst „Frag den Staat“.

Einstufung als „linksextrem“

Auf Nachfrage der LVZ konkretisiert das LKA, um welche Informationen es sich handelt: Namen, Geburtsdaten, Wohnanschrift. Und zwar nicht von ausgewählten, mutmaßlichen Rädelsführern, sondern von 1322 Personen. Also von fast allen, die sich im Polizeikessel befanden.

Viele kommen aus anderen Bundesländern, etwa Bayern oder Berlin. Ihre Daten hat der sächsische Verfassungsschutz an die dort zuständigen Behörden weiter geleitet – und die 589 aus dem Freistaat stammenden Personen im NADIS hinterlegt. Die Sicherheitsbehörden stufen sie als „linksextrem“ ein.

Das NADIS ist eine Art Datenbank, auf die Landesämter und Bundesverfassungsschutz Zugriff haben. Ob Jonathan Wiencke, der Schatzmeister der Grünen, sich nun auch dort findet, ist nicht sicher – aber angesichts der Menge der Personen sehr wahrscheinlich.

Um zu verstehen, wie diese Datenflut zustande kam, muss man noch mal zurückschauen auf den 3. Juni 2023. Das Urteil im Prozess gegen Lina E. war gefallen, nicht nur linke, sondern auch gewaltbereite autonome Gruppen hatten zu Protesten aufgerufen. Es drohte Gewalt und hoher Sachschaden. Eine entsprechende Demonstration wurde verboten – es gab Protest gegen die Einschränkung des Versammlungsrechts.

1500 Menschen kamen am Abend des 3. Juni in die Südvorstadt. Zwei Drittel stufte die Polizei als friedlich ein – doch an mancher Stelle wurde die Stimmung aggressiv: Auf vorrückende Polizisten flogen Pyrotechnik und ein Brandsatz. Beamte drängten immer wieder Gruppen von Angreifern zurück.

Wer ausweichen, sich distanzieren wollte, lief auf den Heinrich-Schütz-Platz. Doch der wurde schließlich von der Polizei umschlossen. „Es gab keine Chance, rauszukommen. Wir standen Schulter an Schulter“, so erzählt Jonathan Wiencke – eine Darstellung, die sich mit Beschreibungen anderer Betroffener deckt.

Die Polizei verschätzte sich massiv bei der Personenanzahl auf dem Heinrich-Schütz-Platz, die Umschließung dauerte bis tief in die Nacht. Der Polizeipräsident verteidigte sie später: Die „rechtlichen Anforderungen“ seien erfüllt gewesen.

Staatsrechtler kritisiert Vorgehen der Behörden

Auch Landeskriminalamt und Verfassungsschutz verweisen nun auf Gesetze und Paragrafen. Der Jurist Clemens Arzt hat trotzdem seine Zweifel: Er war Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Hochschule für Wirtschaft und Recht in Berlin (HWR): „Grundsätzlich darf die Polizei an den Verfassungsschutz Daten weitergeben. Dies ist aber nur unter sehr engen Voraussetzungen zulässig“, sagt Arzt.

„Eine Pflicht hierzu besteht nicht und selbst bei einem Landfriedensbruch liegen allein deshalb die Voraussetzungen nicht vor. Die Verhütung und Verhinderung von Straftaten ist gesetzliche Aufgabe der Polizei allein, nicht des Verfassungsschutzes, der hierzu auch keine Befugnisse hat.“

Das Vorgehen der Behörden hält er für „völlig überzogen“ und politisch motiviert: „Hier geht es schlicht darum, Menschen einzuschüchtern und davon abzuhalten, ihre Grundrechte auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit auch in Zukunft in Anspruch zu nehmen“, sagt Arzt.

„Bei mir hat es funktioniert“, sagt Jonathan Wiencke. Er gehe sehr viel weniger zu Demonstrationen, habe dann ein mulmiges Gefühl. Auch die mögliche Einordnung im politisch motivierten Bereich macht ihm Sorgen: Wird er kontrolliert, erscheint bei der Datenabfrage der Hinweis zu einem Strafverfahren im Bereich Linksextremismus. „Damit sinkt die Schwelle für Anschlussmaßnahmen, etwa eine Durchsuchung oder auch ein Platzverweis“, sagt der Jurist Clemens Arzt.

Das Landesamt für Verfassungsschutz erklärt, dass die gespeicherten Daten auch wieder gelöscht würden – etwa bei der Einstellung der Verfahren wegen Landfriedensbruch. Doch bis der Komplex rund um den „Tag X“ juristisch aufgearbeitet ist, wird viel Zeit vergehen: Bei der Staatsanwaltschaft Leipzig liefen im März dieses Jahr 385 Verfahren – an der Zahl hat sich bisher nur wenig geändert, heißt es auf LVZ-Nachfrage.