Paul, Vertreter des Budapest Antifascist Solidarity Committee, im Gespräch über die Fahndung der ungarischen Behörden nach Antifaschisten

»Wir erwarten keinen Prozess nach Prinzipien des Rechtsstaats«

Im Februar 2023 wurden bei dem jährlichen Nazi-Aufmarsch am »Tag der Ehre« in Budapest insgesamt neun Rechtsextreme von Antifaschist:innen angegriffen und teilweise schwer verletzt. Drei Angeklagte stehen deshalb in Ungarn vor Gericht, eine Person wurde im Dezember in Berlin verhaftet. Die ungarischen Behörden sprechen davon, dass die Angreifer eine kriminellen Vereinigung gebildet hätten, und fahnden per europäischem Haftbefehl nach neun weiteren Tatverdächtigen. Ein Gespräch mit Paul* vom Budapest Antifascist Solidarity Committee, das sich für die inhaftierten und gesuchten Tatverdächtigen einsetzt und fordert, sie nicht nach Ungarn auszuliefern.

Wie viele Personen befinden sich derzeit in Haft und was wird ihnen vorgeworfen?

Momentan befinden sich zwei Personen in Untersuchungshaft in Ungarn, eine Person ist in Dresden in Untersuchungshaft, zwei weitere sind im Hausarrest, eine davon in Italien, die andere in Finnland. Ihnen allen sowie einer weiteren Beschuldigten, die unter Auflagen in Freiheit ist, wird die Mitgliedschaft in sowie die Unterstützung einer kriminellen Vereinigung vorgeworfen. Einigen der Angeklagten wird ebenfalls vorgeworfen, direkt an den tätlichen Auseinandersetzungen beteiligt gewesen zu sein. Dies kann, wie im Falle der wegen potentiell tödlicher Körperverletzung in drei Fällen angeklagten Italienerin Ilaria Salis, ein Strafmaß von bis zu 24 Jahren bedeuten. Wir können an dieser Stelle nur erneut auf die menschenunwürdigen Umstände in ungarischen Gefängnissen hinweisen, denen niemand ausgeliefert sein sollte.

Die Festnahmen stehen in Zusammenhang mit dem Nazi-Aufmarsch am »Tag der Ehre« in Budapest. Was hat es mit dieser Veranstaltung auf sich?

Der »Tag der Ehre« findet seit nunmehr fast 30 Jahren in der ungarischen Hauptstadt statt. Im Zentrum steht ­dabei das Gedenken an eine Niederlage von Wehrmacht und SS, deren Ausbruchsversuch aus dem eingekesselten Budapest im Jahr 1945 glorifiziert wird. Nazis und Faschist:innen aus ganz Europa kommen zusammen, um diesen »Ausbruch« auf einer bis zu 60 Kilometer langen Nachtwanderung nachzustellen. Dabei gab es in der Vergangenheit Checkpoints und Versorgungsstationen am Wegesrand, an denen Kamerad:innen in SS-Uniform für Ordnung sorgen und heißen Tee ausgeben.

Es ist eine groteske Veranstaltung, die vor Geschichtsrevisionismus nur so strotzt. Die Nazis versuchen jedoch, sie als unpolitisches Reenactment zu verkaufen. Dass dies keineswegs der Fall ist, sieht man am Kreis der Organi­sa­to­r:in­nen, zu denen beispielsweise Hammerskins oder seit einigen Jahren die Neonazi-Gruppe Légió Hungária zählen. Das Rahmenprogramm umfasste in der Vergangenheit neben Gedenken mit Hitlergruß und Wehrmachthelm auch von Blood&Honour organisierte Konzerte. Für Nazis aus ganz Europa ist dies eine einfache Möglichkeit, zusammenzukommen, sich zu vernetzen und ohne Angst vor Repression offen ihre Ideo­logie auszuleben.

Wie reagierten die Neonazis im vergangenen Jahr auf die Angriffe?

Es gab einige Übergriffe am Rande des »Tags der Ehre«, von denen auch einer ganz gut dokumentiert ist. Die dabei vorübergehend festgenommenen Nazis wurden gleich wieder auf freien Fuß gesetzt und mittlerweile wurden die Ermittlungen gegen sie eingestellt. Auch gab es Einschüchterungsversuche einer ungarischen Nazi-Bruderschaft. Einige ihrer Mitglieder sind ein paar Monate später in von Linken besuchten Räume aufgetaucht, um dort Leute zu bedrohen. Dabei kam meines Wissens niemand zu Schaden, aber natürlich schafft das ein Bedrohungsszenario.

Viele der an den Auseinandersetzungen beteiligten Nazis stellten sich als unpolitische unschuldige Opfer dar, beispielsweise das Mitglied der rechtsex­tremen Band Divízió 88, László Dudog, der, ebenso wie wie der deutsche Neonazi Robert Fischer, behauptete, nur auf dem Heimweg von einem Konzert gewesen zu sein.

Ihre politische Haltung kommt weder in ihren eigenen Schilderungen noch in der ungarischen Presse zur Sprache. Dort heißt es bis heute, es seien Spaziergänger gewesen, die nur die falsche Kleidung trugen.

In Deutschland wurde der Fall zunächst vor allem in rechtsextremen Online-Medien thematisiert. Beispielsweise wurden auf dem mutmaßlich von dem langjährigen Mitglied der Identitären Bewegung Mario Müller, der auch bei dem von Correctiv aufgedeckten Treffen in Potsdam gesprochen hat, betriebenen Kanal »Dokumentation Linksextremismus« bei X (ehemals Twitter) einige der Beschuldigten mit unverpixelten Bildern und Namen sowie Wohnort geoutet. Dass Teile der Informationen nur aus Kooperation mit Sicherheitsbehörden stammen können, stört weder diese noch die BILD-Zeitung, die aus den Veröffentlichungen dann eine Art Öffentlichkeitsfahndung durch die Hintertür machte.

Habt ihr Einblick in die neueren Entwicklungen im Prozess?

Ende Januar gab es eine Vorverhandlung. Dabei wurde die Anklageschrift vor Gericht verlesen und den Angeklagten die Möglichkeit gegeben, dieser zuzustimmen. Ein Angeklagter hat dies getan und damit die Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung zugegeben. Er wurde zu drei Jahren Haft verurteilt. Sowohl Staatsanwaltschaft als auch Verteidigung fechten das Strafmaß an. Die anderen beiden Angeklagten streiten alle Vorwürfe ab. Der nächste Termin ist für Ende März angesetzt.

In eurem Aufruf stellt ihr die Rechtsstaatlichkeit der ungarischen Justiz in Frage. Könnt ihr eure Kritik konkretisieren?

Wir würden Ungarn als tyrannisch regierten Staat bezeichnen. Viktor Orbán und eine kleine Gruppe um ihn herum haben das politische System seit 2010 ihren Bedürfnissen und Vorstellungen angepasst. Wir erwarten weder eine ­objektive Berichterstattung der ungarischen Presse noch einen Prozess, der nach rechtsstaatlichen Prinzipien abläuft. Bereits die Anklageschrift zeigt, wo die Staatsanwaltschaft hinwill, und auch die bisherige Berichterstattung bestätigt unsere Annahmen.

Die Bilder der Anhörung der italienischen Antifaschistin Ilaria Salis, bei der diese in Ketten vorgeführt wurde, sorgten für internationales Entsetzen. Droht den anderen An­ti­fa­schist:innen bei Auslieferung Ähnliches?

Davon ist auszugehen. Sowohl die Berichterstattung als auch der Umgang mit den Angeklagten sind eine Farce. Durch die Bilder wird eine Gefahr suggeriert, die so nicht existiert. Die An­geklagten werden von vermummten Cops wie Tiere in Ketten vorgeführt, um Stärke nach innen zu zeigen und eine Drohkulisse nach außen aufzubauen.

Italienische Medien haben über die desolaten Haftbedingungen in Ungarn berichtet. Der italienischen Inhaftierten zufolge sei sie in einer knapp drei Quadratmeter großen Zelle voller Bettwanzen und Kakerlaken untergebracht und werde nicht ausreichend hygienisch versorgt. Selbst die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni unternimmt mittlerweile trotz ihres ­guten Verhältnisses zu Orbán diplomatische Bemühungen, um auf die Haftbedingungen Einfluss zu nehmen. Wie bewertet ihr die zögerliche Haltung der deutschen Bundesregierung?

Die Nichtkommunikation der Bundesregierung in dieser Angelegenheit ist bemerkenswert. Es wirkt ein bisschen so, als wolle man abwarten, was in Ita­lien passiert. Vor allem für die Angehörigen ist das natürlich ein Schlag ins Gesicht.

* Name von der Redaktion geändert.

*Das Budapest Antifascist Solidarity Committee koor­diniert die Unterstützungsarbeit für Antifaschist:innen, denen eine Beteiligung an Angriffen auf Neonazis in ­Budapest im Februar 2023 vorgeworfen wird. Gemeinsam mit anderen Unterstützer:innen, darunter das Bündnis »Wir sind alle Linx«, das sich anlässlich der Prozesse gegen die Gruppe um Lina E. gegründet hat, möchte es mit der Kampagne »No Extradition – Keine Auslieferung von Antifaschist:innen« auf ihre Situation aufmerksam machen.