Deutsche Antifa-Aktivisten sind untergetaucht, ihnen droht die Auslieferung nach Ungarn – Bloß nicht nach Budapest
Neun sind auf der Flucht, eine wurde im Dezember verhaftet, zwei weitere stehen schon in Budapest vor Gericht: Ungarn lässt nach deutschen Antifaschist:innen fahnden, denen Angriffe auf Nazis vorgeworfen werden. Eine Kampagne versucht, die Auslieferung zu verhindern.
Diesmal marschierten sie mitten durch die Stadt: Hunderte Neonazis zogen am Samstag vergangener Woche durch Budapest. »Tag der Ehre« nennen sie diesen jährlichen Aufmarsch. Sie feiern die »Schlacht um Budapest«, in der die Wehrmacht und ungarische Truppen noch bis Februar 1945 gegen die Rote Armee kämpften. Aus ganz Europa kommen dafür Nazis angereist, zum Teil marschieren sie in historischen Uniformen mit SS-Abzeichen. Wie in den Jahren zuvor gab es einen antifaschistischen Gegenprotest.
Es war diesmal viel Polizei an Ort und Stelle, um den Nazi-Marsch abzuschirmen. Grund dafür waren wohl die Ereignisse im Vorjahr. Damals hatten sich die Neonazis an einer abgelegenen Stelle in einem Wald getroffen, nachdem die ungarischen Behörden den Aufmarsch im Budapester Stadtzentrum verboten hatten. Einige Hundert Antifaschist:innen protestierten gleichzeitig in der Stadt gegen die Neonazis.
Glaubt man ungarischen Ermittlungsbehörden, beließen es vor allem deutsche Antifaschist:innen nicht beim friedlichen Protest. Bei insgesamt vier Angriffen in den Tagen um das Nazi-Treffen seien neun Menschen verletzt worden, sechs von ihnen schwer. Die Angreifer:innen sollen Pfefferspray und Schlagwerkzeuge eingesetzt und aus Gruppen von bis zu 15 Personen heraus agiert haben. Unter den Angegriffenen waren deutsche, polnische und ungarische Rechtsextreme.
Schon nach wenigen Tagen nahmen die ungarischen Behörden vier Tatverdächtige fest. Es handelte sich um eine damals 38jährige Italienerin, eine 42jährige Ungarin sowie einen 29jährigen Mann und eine 26jährige Frau aus Deutschland.
Nur wenige Tage später vermeldete die ungarische Polizei weitere Ermittlungserfolge. Ein 20jähriger und eine 22jährige, beide aus Leipzig, wurden als mutmaßliche Tatbeteiligte identifiziert und zur Fahndung ausgeschrieben. Der MDR ließ es sich ungeachtet aller Bedenken hinsichtlich der Rechtsstaatlichkeit in Ungarn nicht nehmen, in seiner Online-Berichterstattung auf die Fahndungsaufrufe zu verlinken. Wer den Links folgte, konnte Aussehen, Alter, Geburtsstadt und den vollen Namen der Verdächtigen erfahren. Einen solchen »Service« liefern für gewöhnlich nur Medien der extremen Rechten, die gerne Antifa-Aktivist:innen identifizieren.
Eine 22jährige Frau aus Wismar landete kurz darauf ebenfalls auf der Fahndungsliste der ungarischen Behörden – und im Laufe des vergangenen Jahres kamen weitere Personen hinzu. Sie werden von den ungarischen Behörden mit einem europäischen Haftbefehl gesucht. Die Generalstaatsanwaltschaft Dresden hat ein sogenanntes Spiegelverfahren zu den Ermittlungen in Ungarn eingeleitet und fahndet ebenfalls nach den Tatverdächtigen. Allein aus Deutschland wurden schließlich insgesamt zehn untergetauchte Personen gesucht. Bis auf eine Person, die im Dezember in Berlin verhaftet wurde, sind sie bis heute auf der Flucht.
An der Fahndung beteiligt ist die sächsische »Soko Linx«, eine Staatsschutz-Spezialabteilung des Landeskriminalamts, die nur für die linke Szene zuständig ist. Medienberichten zufolge soll es bei einigen der Gesuchten Verbindungen zur Gruppe um Lina E. geben, die im vergangenen Mai zusammen mit drei Mitangeklagten zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt wurde. Die Urteile sind noch nicht rechtskräftig. Der Gruppe um Lina E. wird vorgeworfen, tatsächliche oder vermeintliche Neonazis gewaltsam angegriffen zu haben.
Ende Januar begann in Budapest der erste Gerichtsprozess. Angeklagt sind die beiden Deutschen und die Italienerin, die kurz nach dem »Tag der Ehre« verhaftet wurden. Gleich zu Beginn des Prozesses gab es ein erstes Urteil. Der 29jährige Tobias E. gab überraschend zu, Mitglied einer kriminellen Vereinigung zu sein. Dass er an konkreten Angriffen beteiligt war, ließ sich aus Sicht der Staatsanwaltschaft nicht nachweisen. Das Gericht verurteilte ihn zu drei Jahren Haft. Sowohl Staatsanwaltschaft als auch Verteidigung legten gegen das Strafmaß Einspruch ein; darüber wird in einem weiteren Verfahren entschieden.
Die ebenfalls wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung angeklagte Anna M. war für den Prozess aus Deutschland angereist; sie befindet sich nicht in Untersuchungshaft. Bei der dritten Angeklagten handelt es sich um Ilaria S. aus Italien. Die Grundschullehrerin ist wegen potentiell tödlicher Körperverletzung in drei Fällen angeklagt, ihr drohen bis zu 24 Jahre Haft.
In Italien ist ihr Fall mittlerweile zu einem Politikum geworden, weil es heftige Kritik an ihren Haftbedingungen gibt. Die 39jährige beklagte mangelnde Hygiene, schlechte Verpflegung und eine stark eingeschränkte Kommunikation mit Familie und Anwälten. Am ersten Verhandlungstag wurde sie in Handschellen, Fußfesseln und an einer Kette vorgeführt.
Daraufhin meldeten sich sogar zwei italienische Kabinettsmitglieder zu Wort: Außenminister Roberto Tajani sprach von einer »Grenzüberschreitung« und Justizminister Carlo Nordio bekundete, man bemühe sich darum, die »harten Bedingungen« zu mildern, unter denen Ilaria S. leide. Bemerkenswert sind diese Äußerungen deshalb, weil Mitglieder einer rechten Regierung ein ebenfalls von Rechten regiertes Land wegen der Haftbedingungen für eine mutmaßliche Antifaschistin kritisieren.
Auch deutsche Linke warnen vor einem unfairen Prozess und menschenunwürdigen Haftbedingungen in Ungarn. Das Solidaritätsbündnis »Wir sind alle Linx«, das sich anlässlich der Prozesse gegen die Gruppe um Lina E. gegründet hat, möchte mit der Kampagne »No Extradition – Keine Auslieferung von Antifaschist:innen« auf die Situation aufmerksam machen. Das Bündnis beruft sich auf Amnesty International und den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, die ebenfalls vor einer eingeschränkten Unabhängigkeit der Gerichte in Ungarn gewarnt hätten.
Anlass für die Kampagne ist die Verhaftung einer »Maja« genannten Person im Dezember vergangenen Jahres in Berlin. Dabei handelt es sich um eine der zehn Deutschen, nach denen der ungarische Staat fahnden lässt. Ein Mobiles Einsatzkommando aus Thüringen nahm die 22jährige fest. Deutschland soll sie ausliefern, fordert Ungarn. Die Behörden in Deutschland prüfen dieses Gesuch derzeit. Auch in Italien wurde eine weitere Verdächtige festgenommen, über deren Auslieferung noch nicht entschieden wurde.
Mehrere Hundert Einrichtungen und Einzelpersonen haben sich der Kampagne gegen Auslieferungen bereits angeschlossen, darunter Ortsgruppen der Roten Hilfe, das Leipziger »Conne Island«, antifaschistische Gruppen sowie die Linkspartei-Politikerinnen Juliane Nagel und Katharina König-Preuss.
Unterstützung kommt auch von zehn Rechtsanwält:innen, von denen einige schon im Verfahren gegen Lina E. tätig waren. In einer gemeinsamen Presseerklärung forderten sie die Generalstaatsanwaltschaften in Dresden und Berlin dazu auf, »einer Auslieferung nach Ungarn eine dauerhafte und verlässliche Absage zu erteilen und das Strafverfahren in Deutschland zu führen«. Das ungarische Rechtssystem entspreche keinen rechtsstaatlichen Standards. Die Anwält:innen verweisen darauf, dass deutsche Gerichte schon in der Vergangenheit Auslieferungen nach Ungarn abgelehnt hätten.
Die Presseerklärung erwähnt auch, dass der deutsche Verfassungsschutz offenbar versucht hat, sich den Angehörigen der Gesuchten als »Vermittler« anzubieten. Dem Verfassungsschutz soll ein »Deal« vorgeschwebt haben: Die Staatsanwaltschaften sollten zusichern, eine Auslieferung nach Ungarn zu verweigern, wenn sich die Gesuchten im Gegenzug in Deutschland stellen. Den Anwälten zufolge habe jedoch keine der beiden Seiten Bereitschaft gezeigt, darauf einzugehen.
Besorgt zeigen sich auch Eltern der teils noch jungen Erwachsenen, denen eine Auslieferung nach Ungarn droht. In einem offenen Brief bezeichneten sie die Haftbedingungen in Ungarn als »menschenunwürdig«. Es seien »psychische und körperliche Haftschäden zu befürchten«. Zudem drohe ein »im Vergleich zu Deutschland unangemessen hohes Strafmaß«. Im schlimmsten Fall müssten die Beschuldigten mit 24 Jahren Gefängnis in Ungarn rechnen. »Wir haben große Angst und Sorge um unsere Kinder«, heißt es deshalb am Ende des Briefs. »Sie dürfen nicht nach Ungarn ausgeliefert werden!«