Einsatzprotokolle zu „Tag X”Chaos und Widersprüche zum Leipziger Polizeikessel
Im Juni 2023 kesselte die Leipziger Polizei mehr als 1300 Menschen bis zu elf Stunden ein. Interne Unterlagen zeigen jetzt ein genaues Bild des umstrittenen Einsatzes. Für noch mehr Aufklärung zum Tag X ziehen wir gegen den Verfassungsschutz vor Gericht.
Es war einer der größten Polizeikessel in der Geschichte der Bundesrepublik. Bis zu elf Stunden mussten mehr als 1300 Menschen im Juni 2023 auf einer Wiese im Süden Leipzigs ausharren. Nachdem es aus einer Demonstration zu Angriffen auf Polizeibeamte gekommen war, setzte die Polizei einen großen Teil der anwesenden Menschen bis in die frühen Morgenstunden fest – darunter etliche friedliche Teilnehmer*innen, unbeteiligte Anwohner*innen, Jugendliche und Kinder. Die Eingeschlossenen kritisierten danach menschenunwürdige Bedingungen, fehlende Toilettenmöglichkeiten, mangelhafte Versorgung mit Essen und Trinken und berichteten von Unterkühlungen. „Man kam sich vor wie Tiere, die im Stall eingepfercht waren“, erzählte einer der Eingeschlossenen der taz.
Interne Dokumente der Leipziger Polizei geben jetzt ein genaueres Bild des Einsatzes, zu dem die Polizei bereits einige Fehler eingeräumt hatte. Wir veröffentlichen den detaillierten Verlaufsbericht des Einsatzes sowie mehrere im Nachgang erstellte Protokolle. An vielen Stellen zeigt sich ein fehlender Überblick der Polizei über die Situation und stellenweise widerspricht es dem, was die Polizei öffentlich über den Tag berichtet hat.
Die Dokumente waren ursprünglich als „Verschlusssache – nur für den Dienstgebrauch“ (VS-NfD) eingestuft. Die Polizei Leipzig hat sie auf eine Anfrage nach dem neuen Sächsischen Transparenzgesetz herausgegeben. Die Dokumente haben wir vorab mit dem MDR geteilt und ausgewertet.
„Keine Personen weglassen”
Nach dem Urteil im Prozess gegen die Studentin Lina E. und weitere Personen wegen Angriffen auf Rechtsextremisten war am 3. Juni 2023 zum sogenannten „Tag X” nach Leipzig aufgerufen worden. Stadt und Sicherheitsbehörden reagierten mit weitreichenden Demonstrationsverboten und weiteren Grundrechtseinschränkungen. Daraufhin hatte ein Leipziger Bündnis für den Abend eine Demonstration für Versammlungsfreiheit angemeldet. Diese mündete um kurz nach 18 Uhr in einen weitreichenden Polizeikessel.
Das interne Protokoll der Polizei, das wir jetzt veröffentlichen, zeigt: Schon um 17:24 Uhr, also eine gute halbe Stunde vor Beginn des Polizeikessels, ordnet der zuständige Polizeiführer erstmals an, dass die Teilnehmer der Veranstaltung „nicht unkontrolliert ablaufen dürfen“. Zu dem Zeitpunkt gibt es laut der Unterlagen zwar bereits Meldungen über vermummte Personen, jedoch noch keine Beobachtungen, dass sich einzelne in der Demonstration auf eine Auseinandersetzung vorbereiten und etwa Steine sammeln.
Dennoch lautet die offizielle Anweisung zu diesem Zeitpunkt laut Protokoll bereits: „Keine Personen […] weglassen“. Kurz darauf präzisiert der Polizeiführer, man solle nicht bei jeder Person eine Identitätsfeststellung durchführen, aber „jeder unkontrollierte Abgang“ von der Demo sei zu verhindern.
Eine knappe halbe Stunde später eskaliert die Situation kurzzeitig. Teile der Versammlung setzen sich in Bewegung, einige Vermummte bewerfen Polizist*innen und Einsatzfahrzeuge mit Steinen, Böllern und einem Molotowcocktail. Um 18:08 Uhr umschließt die Polizei eine große Personengruppe auf dem Heinrich-Schütz-Platz. Laut tabellarischem Einsatzprotokoll geht die Polizei von 500 Personen aus, die sie festgesetzt hat.
In einem weiteren Protokoll notiert die Polizei die Zahl 300 bis 400 Personen. Zwei Minuten später folgt eine Durchsage, die sich an Unbeteiligte richtet: Man solle sich von Straftätern distanzieren und das Gelände verlassen, sonst könne man ebenfalls durch polizeiliche Maßnahmen betroffen werden. Doch zu dem Zeitpunkt waren die Menschen laut Protokoll bereits eingeschlossen und konnten nicht weg. In der Umschließung waren nicht einige hundert Personen, sondern 1323 Menschen – darunter mehr als hundert Jugendliche und zwei Kinder.
Der Polizeirechtler Clemens Arzt kritisierte den Polizeikessel bereits kurz nach den Ereignissen scharf. „Eine solche Maßnahme gegen Hunderte von Menschen für eine so lange Dauer, die scheint mir rechtlich nicht zulässig gewesen zu sein”, sagte er dem MDR und riet den Betroffenen, juristisch dagegen vorzugehen. Auch dass pauschal allen Eingekesselten die Beteiligung an Straftaten unterstellt und nun gegen sie ermittelt werde, hielt er für nicht nachvollziehbar. „Das lässt sich gegenüber tausend Menschen eigentlich nicht plausibel begründen”, sagte er.
„Zahl muss nach oben korrigiert werden”
Die Polizei ist über Stunden nicht in der Lage, die Situation in dem von ihr gezogenen Kessel umfassend einzuschätzen, das zeigt das Protokoll. „300-400 westlicher Bereich Alexis-Schuhmann-Platz festgesetzt“, wird um 18:36 Uhr notiert. Gut 40 Minuten später ist von „300 Personen in Umschließung“ die Rede. Alle Eingeschlossenen werden nach Rücksprache mit einem Staatsanwalt mittlerweile als Tatverdächtige von Straftaten geführt und sollen erkennungsdienstlich behandelt werden. Doch das zieht sich. Um 22:01 Uhr notieren die Beamten, man habe 100 Personen abgearbeitet, in der Umschließung seien noch 200 weitere. Zweieinhalb Stunden später sind lediglich 250 Personen bearbeitet und auch die Zahl der Eingeschlossenen wird nach oben korrigiert. Demnach gehe man jetzt von insgesamt 500 Personen aus.
Eine gute Stunde später, um 01:45 Uhr wird die Zahl erneut korrigiert, es seien wohl noch 300 Personen im Kessel, doppelt so viele wie noch zehn Minuten vorher angenommen. Dieses Schema zieht sich auch durch den weiteren Verlauf: Die Zahl der abgearbeiteten Personen wächst und die Zahl der Verbliebenen wird stetig nach oben verändert. Selbst in den nun vorliegenden Protokollen, die erst einige Tage nach Ende des Kessels erstellt wurden, wird eine deutlich niedrigere Gesamtzahl angegeben. Von 1031 Identitätsfeststellungen ist dort die Rede. Zwischenzeitlich liegt die offizielle Zahl bei weit über 1300 Eingekesselten.
Die massive Abweichung von rund 1000 Personen zwischen der ersten Schätzung und der später erfassten tatsächlichen Gesamtzahl der Eingekesselten erklärt die Polizei in einem der Protokolle mit der Vegetation am Heinrich-Schütz-Platz. „Zahlreiche Störer“ hätten sich „in das Buschwerk zurückgezogen“.
Zivilpolizisten im Kessel – und zuvor auf der Veranstaltung
Dass die Polizei offenkundig über lange Zeit keinen Überblick über die Situation im Kessel zu erlangen vermochte, überrascht auch, weil aus den Dokumenten hervorgeht, dass es dazu durchaus Möglichkeiten gab. Denn die Polizei war mit Kräften in Zivil selbst im Kessel. Dies zeigt das Protokoll der Befragung eines sogenannten „Tatbeobachters”, der sich „über einen längeren Zeitraum ebenfalls in der freiheitsentziehenden Maßnahme befand“.
Dass Zivilpolizisten mit im Kessel waren, hatte die Polizei bereits im Sommer 2023 eingeräumt und den Einsatz damit gerechtfertigt, dass es sich nicht mehr um eine Veranstaltung gehandelt hat, die dem Versammlungsgesetz unterfiel. Die Protokolle zeigen nun aber zudem: Solche Polizisten in zivil waren zuvor bereits ab 17:06 Uhr inmitten der Versammlung im Einsatz.
„Nicht mehr benötigt”: Widersprüche und Chaos des Kessels
Auch weitere Eintragungen in den Protokollen werfen Fragen auf. So bestellte die Polizei demnach zu Beginn des Kessels Wasser und Toilettenmöglichkeiten für 800 Personen, obwohl sie zu diesem Zeitpunkt offiziell von nicht einmal halb so vielen Eingeschlossenen ausging. Im Nachgang wies die Polizei mehrfach darauf hin, dass die Versorgung der Eingekesselten sichergestellt worden sei. „Kritisch ist anzumerken, dass keine Lautsprecherdurchsagen in Bezug auf Ver- und Entsorgung, an die Personengruppe gerichtet wurden”, heißt es hingegen im Protokoll, das wir jetzt veröffentlichen.
Um 22:57 Uhr wurde angesichts der nächtlichen Temperaturen der Bedarf an Rettungsdecken wegen drohender Unterkühlung notiert. Allerdings wurden diese erst um fünf Uhr morgens vor Ort übergeben. „Nicht mehr benötigt“ heißt es im Protokoll. Verständlich, denn zu diesem Zeitpunkt war der Leipziger Kessel gerade beendet worden.
Stellenweise zeigen sich offenbar auch Polizist*innen im Einsatz genervt von der über Stunden andauernden Maßnahme. Denn auch in der Gefangenensammelstelle (Gesa) schien die Arbeit wenig effektiv voranzugehen. „Kräfte warten schon seit 3 Stunden mit Gefangenen vor der Gesa”, lautet ein entsprechender Protokolleintrag um 04:34 Uhr.
Auskunft verweigert: Wir ziehen gegen den Verfassungsschutz vor Gericht
Gegen alle 1321 strafmündigen Personen, die in jener Nacht im Leipziger Kessel ausharren mussten, laufen seitdem Strafverfahren. Sie alle sind des Landfriedensbruchs in einem besonders schweren Fall beschuldigt. Lediglich die beiden Kinder, die inmitten der Gruppe von der Polizei festgehalten wurden, sind davon ausgenommen.
Zudem gibt es Hinweise, wonach diese 1321 Personen zwischenzeitlich durch den Sächsischen Verfassungsschutz im gemeinsamen Informationsportal der Nachrichtendienste (NADIS) erfasst worden sein sollen – zugeordnet dem Phänomenbereich Linksextremismus.
Auf wiederholte Presseanfragen dazu wollte sich der Sächsische Verfassungsschutz nicht äußern. Die Begründung: Es würde Rückschlüsse auf die Arbeitsweise des Verfassungsschutzes ermöglichen, wenn der Geheimdienst eine Antwort gibt, ob die eingekesselten Personen deshalb nun auch im System der deutschen Verfassungsschutzbehörden erfasst sind. Diese Argumentation halten wir für wenig belastbar und wollen nun im Eilverfahren vor Gericht erreichen, dass der Nachrichtendienst unsere Fragen beantworten muss. Deshalb haben wir am Montag einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen Sachsens Verfassungsschutz eingereicht.
Quelle: https://fragdenstaat.de/blog/2024/02/12/chaos-und-widerspruche-zum-leipziger-polizeikessel/
13.02.2024 Arnd Groß und Edgar Lopez, MDR Investigativ
„Tag X“ in Leipzig Dokumente zeigen Einsatz von „Tatbeobachtern“ im Kessel
Die Aufarbeitung des „Tag X“ geht weiter: MDR Investigativ liegen Dokumente vor, die belegen, dass die Polizei „Tatbeobachter“ im Kessel eingesetzt hat. Außerdem könnten die Personalien fast aller eingekesselten Personen in der nachrichtendienstlichen Datei des Verfassungsschutzes als „linksextrem“ gespeichert werden.
Die Maßnahmen sorgten für mediale Beachtung: In den ersten Februartagen sperrte die Leipziger Polizei Teile der Karl-Liebknecht-Straße sowie der umliegenden Straßen in Leipzig ab.
Nach Informationen von MDR Investigativ sollen Spezialisten den Platz und die Straßen 3D gescannt haben. Was genau untersucht wurde, erklärt die Polizei auf Nachfrage des MDR aufgrund eines „laufenden Ermittlungsverfahrens“ nicht. Sie bestätigt jedoch, dass diese „kriminalpolizeilichen Maßnahmen“ im Zusammenhang „mit dem Einsatzgeschehen Tag X“ stünden.
Damit ist der 3. Juni 2023 gemeint. Damals kam es in der Leipziger Südvorstadt zu schweren Ausschreitungen. Nach dem Urteil des Oberlandesgerichts Dresden gegen Lina E. und drei Männer wegen Bildung und Unterstützung einer linksextremen kriminellen Vereinigung riefen linksextreme und linksradikale Gruppen dazu auf, gegen das Urteil zu demonstrieren. Die Stadt Leipzig untersagte dieses Protestgeschehen aufgrund von Sicherheitsbedenken weitestgehend.
Rückblick
Eine genehmigte Demonstration gegen diese Verbote erhielt daraufhin größeren Zulauf als erwartet. Über 2.000 Personen hatten sich damals nach Schätzungen von MDR Investigativ auf dem Platz befunden. In den Augen der Polizei wurde sie zur „Ersatzveranstaltung“ der untersagten Versammlungen, weswegen die Behörden auch diese auflösen wollten.
Noch während die Verhandlungen darüber liefen, griffen Vermummte jedoch die Polizei an. Es kam zu gewalttätigen Ausschreitungen. Im Anschluss wurden mehr als 1.300 Personen gekesselt. Nicht alle waren vermummt oder gewalttätig und nicht alle waren Teil der Demonstranten. Es traf auch jene, die sich nur das Spektakel anschauen wollten. Mehr als 100 Kinder und Jugendliche waren davon betroffen.
In einer gemeinsamen Recherche ist es nun der Transparenzplattform „FragDenStaat“ und MDR Investigativ gelungen, den Einsatzbericht vom 2. und 3. Juni einzusehen. Diese Unterlagen hat die Plattform veröffentlicht.
Aus den Unterlagen geht auch der Einsatz sogenannter „Tatbeobachter“ hervor. Das sind zivilgekleidete, verdeckt agierende Beamte, die sich nah am Geschehen aufhalten und Informationen an die Einsatzleitung weiterleiten. Die Diskussion über „verdeckte Ermittler“ wurde im vergangenen Sommer dadurch angeheizt, dass sich ein Leipziger Staatsanwalt vermummt am Kessel bewegte, um dort seiner Arbeit nachzugehen. Die Leipziger Polizei bestätigte dem MDR im Juni 2023 den Einsatz von Tatbeobachtern auch im Kessel.
Das Protokoll eines Tatbeobachters am Tag X
Die nun vorliegenden Dokumente zeichnen nach, dass die Polizeiführung kurz nach 17 Uhr am 3. Juni den Einsatz der Tatbeobachter freigab, weil sich „immer mehr Personen“ vermummten. Um 17:38 Uhr konnten diese dann „feststellen, wie vermummte Personen Steine aufnahmen und 30 Personen nördlich der Versammlung in der Scharnhorststraße Regenschirme aufspannten“.
Dem MDR liegt außerdem das Protokoll eines dieser Tatbeobachter vor. Darin beschreibt der Beamte der Leipziger Beweis- und Festnahmeeinheit seinen Einsatz an jenem Tag, den er mit mindestens einem weiteren Tatbeochter dieser Einheit absolviert hat. Er beschreibt, wie sie „in ziviler Kleidung unterwegs“ waren und „wir beide somit nicht als Polizeibeamter [sic!] erkennbar“ waren.
Kurz nach 18 Uhr seien seiner Schilderung zufolge „unvermittelt von [sic!] Personen auf der Scharnhorststraße in Richtung Bernhard-Göring-Straße“ gerannt. „Das führte auch dazu, dass sehr sehr viele andere Person […] mit hinterher rannten, was ich auch tat.“ Er beschreibt weiter, wie er Vermummte sieht, die Steine auf die ankommende Polizei werfen. Ein Mann fällt ihm besonders auf. „Zu diesem Zeitpunkt entschloss ich mich, den nunmehr Tatverdächtigen nicht mehr aus den Augen zu lassen“.
In den darauffolgenden Passagen beschreibt der Beamte weiteres Tatgeschehen und dass er dem Tatverdächtigen in den Kessel gefolgt ist. Dieser und weitere Personen hätten im Kessel schließlich ihre Vermummung abgelegt, dunkle mit bunter Kleidung getauscht und Vermummungsgegenstände wie „Sturmhauben, Schals und ganze? Jacken“ im Gebüsch vergraben. Dazu sei extra eine mitgeführte kleine Schaufel verwendet worden, berichtet der Ermittler weiter.
Der Ermittler meldete seine Erkenntnisse aus dem Kessel heraus an seine „Führungsgruppe“, behielt zwei von ihm als Tatverdächtige identifizierte Männer im Auge, bis seine Kollegen schließlich beide gegen 2:30 Uhr aus dem Kessel mitgenommen hatten.
Kritik an Zahlen
Das Protokoll deckt sich in dem Punkt mit dem Einsatzbericht der Leipziger Polizeiführung, dass Tatbeobachter sich über weite Strecken im Kessel befanden. Es wirft jedoch Fragen auf. Zum einen stand die Leipziger Polizei recht früh dafür in der Kritik, dass sie die Dimensionen der eingekesselten Menge völlig unterschätzt habe. Aus den anfänglich 300 bis 400 gemeldeten Personen wurden bei Nachfragen am nächsten Morgen schon doppelt so viele, ehe einige Monate später schließlich offiziell 1.321 Eingekesselte bestätigt wurden, darunter 104 Minderjährige.
Aus dem Einsatzprotokoll ist nachvollziehbar, wie die Polizei ihre Schätzungen zu den Teilnehmerzahlen stündlich korrigieren musste. Außerdem erklärt darin ein im Kessel eingesetzter Tatbeobachter: „Es muss davon ausgegangen werden, dass Informationen der Polizei nicht alle Menschen in der Umschließung erreicht hat.“ Leipzigs Polizeipräsident René Demmler hatte bereits Ende Juni 2023 für Fehler im Einsatz rund um den „Tag X“-Kessel um Entschuldigung gebeten.
Haben sich Beamte im Kessel vermummt?
Der Tatbeobachter-Einsatz wirft darüber hinaus weitere Fragen auf. Nach Informationen der Linken-Abgeordneten im Sächsischen Landtag Kerstin Köditz seien zivil gekleidete Polizeibeamte vermummt im Einsatz gewesen. Dies sei aus ihrer Sicht „ein großes Problem“. Vermummung in Zusammenhang mit einer Versammlung sei ein Gesetzesverstoß: „Wenn ich vermummt in eine Versammlung gehe, besteht die Gefahr, dass sich andere Versammlungsteilnehmer animiert fühlen, sich ebenfalls zu vermummen.“
Die Abgeordneten des Innenausschusses hätten in den Sondersitzungen das Sächsische Innenministerium explizit danach gefragt, ob Tatbeobachter sich bei ihrem Einsatz zum „Tag X“ vermummt hätten. „Das wurde nie abgestritten. Also muss ich davon ausgehen, dass es so war“, erklärt Köditz.
MDR Investigativ liegen Informationen vor, wonach Tatbeobachter bei einem Einsatz in Leipzig-Connewitz am Abend des 2. Juni vermummt aufgetreten sein sollen. Am Vorabend des Demonstrationstages kam es dort zu heftigen Ausschreitungen. Für den 3. Juni liegen der Redaktion bisher noch keine gesicherten Hinweise darauf vor.
Fredrik Roggan, Professor an der Hochschule der Polizei des Landes Brandenburg, erklärt dazu auf MDR-Nachfrage: „Das rein passive Mitlaufen in einer Versammlung, selbst wenn diese einen unfriedlichen Verlauf nimmt, ist für sich genommen unter dem Gesichtspunkt des Landfriedensbruchs unproblematisch.“ Würden sich diese Ermittler jedoch an Gewalttaten beteiligen, machten sie sich strafbar, ergänzt er. „Das darf nicht Bestandteil einer Tatbeobachtung sein“. Diese müsse ausnahmslos passiv sein.
Die Polizeidirektion Leipzig bestätigt MDR Investigativ, dass sie für die Versammlungen vom 31. Mai und dem 3. Juni den Einsatz von Tatbeobachtern freigegeben habe und dass eingesetzte Einheiten am 2. Juni im Rahmen der Strafverfolgung ihre eigenen Tatbeobachter eingesetzt haben. Weitere Fragen zum Einsatz wurden mit Hinweis auf mögliche Rückschlüsse auf polizeitaktisches Vorgehen und damit die Wirksamkeit polizeilichen Handelns nicht beantwortet.
Selbst eine teilweise Offenlegung der Umstände konkreter Vorgehensweisen könne „Rückschlüsse auf strafprozessuale oder gefahrenabwehrende Maßnahmen der Polizei zulassen, die künftige Erfolge von Maßnahmen gefährden würden“.
Wie sind die Daten der eingekesselten Personen gespeichert?
Mit einer ganz anderen Frage dürften sich womöglich bald die eingekesselten Personen beschäftigen. Deren Daten könnten nach Informationen von MDR Investigativ und FragDenStaat an das sächsische Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) weitergegeben worden sein. Dort könnten sie im Nachrichtendienstlichen Informationssystem mit dem Vermerk „linksextrem“ gespeichert werden.
Laut dem Investigativ-Journalisten Aiko Kempen, der für „FragDenStaat“ arbeitet, hat das sächsische Landesamt für Verfassungsschutz eine entsprechende Nachfrage nicht beantwortet. „FragDenStaat“ verklagt die Behörde nun auf Beantwortung der Frage. Dem MDR sagt Kempen dazu: „Der Verfassungsschutz weigert sich, eine Frage zu beantworten, zu der man nur Ja oder Nein sagen kann“. Als Begründung habe das LfV angegeben, dass die Antwort Rückschlüsse auf seine Arbeit ermöglichen würde. „Wie Rückschlüsse möglich sein sollen, wenn die Antwort ‚Nein‘ lautet, erschließt sich mir allerdings nicht und lässt eigentlich die Möglichkeit offen, dass es auf die einzig andere Antwort hinausläuft“, so der Journalist.
Valentin Lippmann, Grünen-Abgeordneter im Sächsischen Landtag, sagte dem MDR, dass die Rechtslage eine solche Daten-Speicherung bei erheblichen Straftaten hergebe und in dem Kontext sei schwerer Landfriedensbruch eine schwere politische Straftat. Allerdings habe er Zweifel, dass es rechtlich zulässig sei, die Daten von Personen zu sammeln und weiterzuverarbeiten, die sich nichts haben zu Schulden kommen lassen.
„Von den über 1.300 gekesselten Personen wird nur ein sehr geringer Teil schwerste Straftaten begangen haben. Der Rest ist mehr oder minder zufällig in diesen Kessel gelangt, auch wenn die Polizei das anders behauptet“. Speziell die Ermittlungsverfahren gegen diese Personen würden in absehbarer Zeit eingestellt werden, weswegen diese Daten dann gelöscht werden müssten, erläutert Lippmann weiter. „Eigentlich müsste man jetzt Vorkehrungen dafür treffen, dass diese Daten von den Personen gar nicht erst weiterverarbeitet werden“.