Antifa-Aktivist über Nazi-Treffen: „Ein internationales Massenevent“

Am Samstag wollen Tausende Neonazis durch Ungarn marschieren. Diese „Wandertage“ seien nicht zu unterschätzen, erklärt Florian Gutsche.

taz: Herr Gutsche, an diesem Wochenende kommen in Budapest Neonazis aus ganz Europa zusammen. Wie bedeutsam ist das Treffen an diesem sogenannten „Tag der Ehre“?

Florian Gutsche: Für militante Neonazis gehört es zu den größten und wichtigsten Vernetzungstreffen. Auf eine Art könnte man behaupten, dass das auch am antifaschistischen Widerstand liegt.

Wie meinen Sie das?

Das Treffen in Budapest hat für die europäische Neonazi-Szene auch deshalb an Bedeutung gewonnen, weil es bei ähnlichen Veranstaltungen andernorts in Europa starken antifaschistischen Gegenprotest gab und diese an Attraktivität verloren haben. In Deutschland gilt das beispielsweise für den Rudolf-Heß-Gedenkmarsch in Wunsiedel und den sogenannten Trauermarsch zum Jahrestag der Bombardierung Dresdens. Widerspruch und Verbote nerven die Rechten. In Budapest haben sie es einfacher.

Die Veranstaltung dort ist offiziell als eine Art Wandertreffen organisiert, nicht als politische Demonstration. Was steckt dahinter?

Solche Events zielen nicht nur als Zeichen der Stärke nach außen, sondern sollen vor allem stabilisierend nach innen wirken. Auch in Deutschland lassen sich regelmäßig Wanderungen beobachten: In Norddeutschland beispielsweise kamen im Sommer VertreterInnen aus dem Umfeld der ehemaligen Partei NPD, des neonazistischen „III. Wegs“, aber auch der Identitären Bewegung zusammen. Mit Mario Müller war ein Rechtsextremist dabei, der für einen AfD-Bundestagsabgeordneten arbeitet und auch durch seine Teilnahme an dem Geheimtreffen mit AfD- und CDU-PolitikerInnen in Potsdam aufgefallen ist. Es sind Treffen, die in Deutschland die Zugehörigkeit der AfD zur extremen Rechten belegen.

Neueste Enthüllungen von RTL betreffen die Junge Alternative (JA) in Sachsen, den Nachwuchsverband der AfD, und drehen sich auch um eine Wanderung: Da sollen sich Teilnehmende antisemitisch und rassistisch geäußert und von Arbeitslagern gesprochen haben. AfD und JA dementieren das.

Mich überraschen die Äußerungen leider nicht und auch nicht, dass sie auf einer Wanderung gefallen sein sollen. In lockerem Rahmen kann man sich eines Gemeinschaftsgefühls vergewissern und gleichzeitig neue rechte Netzwerke knüpfen. In Budapest kommt nun hinzu, dass es ein internationales Massenevent ist, dem in den letzten Jahren kaum etwas entgegengesetzt wurde. Das motiviert, schafft ein Gefühl der Stärke und ist nicht zu unterschätzen.

Wie viele Leute sind in Budapest zu erwarten?

Es werden mehrere Tausend Neonazis unterwegs sein. Bereits seit Anfang der Woche läuft ein Begleitprogramm mit Rechtsrock-Konzerten. Das Hauptevent ist am Samstagnachmittag eine Wanderung, die aus der Stadt hinaus führt. Stundenlang trotten dann Menschen in Militäruniformen mit faschistischen Abzeichen oder in Funktionskleidung von der Budapester Burg los und bis zu 60 Kilometer weit durch die Budaer Berge. Es ist beängstigend.

Reisen auch Rechte aus Deutschland an?

In den vergangenen Jahren nahmen regelmäßig Menschen aus dem militanten Spektrum der „freien Kameradschaften“ teil, aus Vorpommern, Brandenburg und aus Bayern und auch von den Parteien „Die Rechte“ oder III. Weg.

Welchen Hintergrund hat der „Tag der Ehre“?

In geschichtsrevisionistischer Weise wird sich auf einen „Ausbruchsversuch“ faschistischer Kräfte in Budapest während des Zweiten Weltkrieges bezogen. In der Nacht vom 11. auf den 12. Februar 1945 versuchten Angehörige der Wehrmacht, der Waffen-SS und ungarische Kollaborateure, die Blockade der Roten Armee von der Budapester Burg aus zu durchbrechen. Sie weigerten sich zu kapitulieren, weil das nicht in ihr Weltbild passte und sehr viele kamen bei dem Versuch ums Leben. Zwei Tage später wurde Budapest befreit.

Seit wann gibt es das rechte Gedenken?

Wir sehen diese NS-Verherrlichung in Budapest nun seit 1997. Organisiert wird sie aktuell von der paramilitärischen Truppe „Légió Hungária“ und dem ungarischen Ableger von Blood&Honour.

Der deutsche Ableger von Blood&Honour ist seit 2000 verboten.

Ja. Lange galt Blood&Honour als ein internationales Netzwerk, über das vor allem Konzerte organisiert und damit NS-Propaganda verbreitet wurde, aber es ist auch das Umfeld, aus dem die Unterstützer des NSU-Terror kommen.

Der neonazistische Charakter der Veranstaltungen in Budapest steht also außer Frage?

Man sieht es an den Uniformteilen der Teilnehmenden, es gibt auch Stationen für Stempelbücher an der Wanderroute, mit Stempeln mit Hakenkreuzen, SA-Logo und anderer eindeutig faschistischer Symbolik. Bei einer Kundgebung am Vormittag mitten in der Stadt wurden regelmäßig Hitler-Zitate verbreitet. Es ist ein Schaulaufen der schauerlichsten Gestalten. In Ungarn können sie eine Verherrlichung des Nationalsozialismus ausleben, die in Deutschland verboten wäre. Gleichzeitig reicht das bis in die „bürgerliche“ Mitte hinein.

Inwiefern?

Bis 2022 wurde das Treffen vom Ungarischen Wanderverband gefördert. Man hat versucht, es als „normale“ Veranstaltung darzustellen. Der Geschichtsrevisionismus, bei dem der Sowjetunion mindestens eine Mitschuld am Zweiten Weltkrieg gegeben werden soll, wird auch von der Orbán-Regierung betrieben.

Es ist also kein Zufall, dass sich Europas Neonazis gern in Ungarn treffen?

Das Event wäre andernorts so wohl nicht mehr möglich. Aber in Ungarn passt die Stimmung: Hier patrouillieren rechte Bürgerwehren mit Billigung des Staates an den Außengrenzen und unternehmen illegale Pushbacks von MigrantInnen. Neonazis greifen Angehörige der Roma-Minderheit an, und der Staat schaut zu. Die antifaschistische Szene ist marginal, und militante Neonazis werden von der Gesellschaft nicht ausgegrenzt.

Wie stark ist der linke Protest?

Erst in den letzten Jahren wuchs der Protest zum „Tag der Ehre“ auf bis zu 400 GegendemonstrantInnen. Das ist für ungarische Verhältnisse schon wirklich groß. Zuvor waren es teilweise nur 20 Leute.

Im letzten Jahr hat auch die Stadt Budapest die rechte Kundgebung in der Stadt verboten.

Ja. Budapest hat einen liberal-grünen Bürgermeister. Die Neonazis sind dann an den Stadtrand ausgewichen. Die Wanderung allerdings ist keine Demonstration und nicht verboten. Sie findet weiter statt. Es braucht deshalb mehr Druck vom Staat. Die VVN-BdA wird mit dem Verband der sozialdemokratischen Freiheitskämpfer und dem KZ-Verband aus Österreich sowie einem ungarischen und einem slowakischen Partisanenverband der ungarischen Regierung einen Brief übergeben. Wir fordern das Verbot der Veranstaltung.

Ihr Verband, die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN), mobilisiert 2024 stärker für den Gegenprotest. Wieso jetzt?

Wir waren auch in den letzten Jahren dort vertreten, aber mussten erst mal Erfahrungen sammeln. In diesem Jahr organisieren wir eine gemeinsame Anreise. Wir beteiligen uns an einer Kundgebung zum Gedenken an die Opfer der Shoah, auf der die Überlebende Katalin Sommer sprechen wird.

Kann das gefährlich werden, mit Tausenden Neonazis in der Stadt?

Man muss immer im Kopf haben, dass etwas passieren kann. Als der Gegenprotest in den letzten Jahren zunahm, versuchten die Neonazis auch Angriffe und warfen beispielsweise Flaschen.

Wie reagiert die ungarische Polizei?

Die Polizei lässt die Neonazis mehr oder minder gewähren. Ich weiß in den letzten Jahren von keiner einzigen Festnahme.

Gegen AntifaschistInnen läuft derzeit ein Prozess in Budapest.Sie sollen vor einem Jahr beim „Tag der Ehre“ mehrere Neonazis teils schwer verletzt haben. Ein Angeklagter hat bereits gestanden.

Auf Bildern aus dem Prozess konnten wir sehen, wie die italienische Antifaschistin, eine 39-jährige Lehrerin, in Hand- und Fußfesseln in den Gerichtssaal gebracht wurde. Ihr drohen bis zu elf Jahre Haft. Sogar Italiens Außenminister fordert, sie freizulassen. Es wird nach weiteren deutschen Verdächtigen gefahndet. Für sie darf es keine Auslieferung geben. Die Haftbedingungen in Ungarn sind katastrophal und unmenschlich.

Auch Sie selbst waren bereits von Repression betroffen – man ließ Sie nicht nach Bulgarien ausreisen.

2023 wollte ich in Sofia den antifaschistischen Protest gegen einen Nazi-Aufmarsch unterstützen. Das hat mir die Bundespolizei verweigert, ich erhielt ein Ausreiseverbot für das Wochenende. Man warf mir vor, ich könnte dem „Ansehen der Bundesrepublik im Ausland“ schaden. Ich klage noch dagegen.

 

taz