Wie Maja T. um einen fairen Prozess kämpft

Maja T. wurde rechtswidrig von Deutschland in ein Gefängnis nach Ungarn überstellt, weil sie dort Neonazis verprügelt haben soll. Mit dem SPIEGEL hat die Inhaftierte über die Zustände am Gericht gesprochen.
Am Mittwoch dieser Woche versammelt sich in Budapest eine Gruppe linker Aktivistinnen und Aktivisten vor einem Gerichtsgebäude, Transparente mit der Aufschrift »Free Maya« werden ausgebreitet. Ein tönender Bass schallt durch die Straße. Die Demonstranten spielen den Popsong »I like« von Keri Hilson. »Gerade jetzt verliere ich die Kontrolle und es fühlt sich richtig an, mir gefällt’s, mir gefällt’s«, heißt es in dem Lied.
Kontrollverlust, darum geht es in den Vorwürfen, derentwegen sich die non-binäre Person Maja T. aus Thüringen in Ungarn vor Gericht verantworten muss. Brutal, geplant und aus dem Hinterhalt soll eine Gruppe von linken Aktivisten aus mehreren europäischen Städten 2023 auf Neonazis eingeschlagen haben, auch auf deren Köpfe – mitten in Budapest. Hintergrund der Geschehnisse ist der jährlich in Budapest stattfindende »Tag der Ehre«, bei dem sich Neonazis aus ganz Europa versammeln.
In dieser Woche fanden erneut Prozesstage statt. Obwohl es um eine Gruppe von mehr als zehn Tatverdächtigen geht, sitzt auf der Anklagebank weiterhin allein Maja T., 24 Jahre alt. T. ist nun seit fast einem Jahr in ungarischer Untersuchungshaft. Der Fall, der europaweit für Aufsehen sorgt, spielt sich inmitten der Auseinandersetzung der Europäischen Union mit dem ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán ab.
Opfer politischer Verbündeter von Orbáns Partei
Unabhängig von der Frage, ob Maja T. schuldig ist, Teil einer kriminellen Vereinigung war und schwere Körperverletzungen verursacht hat, gibt es erhebliche Zweifel daran, ob die Schuld in Budapest tatsächlich in einem fairen, rechtsstaatlichen Verfahren geklärt werden kann.
Am Mittwoch und Freitag dieser Woche sollte darüber entschieden werden, ob Maja T. nach der langen Untersuchungshaft unter Hausarrest gestellt werden kann. Doch der Richter vertagte die Entscheidung. Stattdessen wurde etwa ein Augenzeuge angehört, der die Tat beobachtete, aber Maja T. nicht identifizieren konnte. Ebenso wurden unzählige Schnipsel von Überwachungsvideos im Prozess gezeigt, wie Menschen in Winterkleidung und mit Coronamasken offenbar einen Neonazi in der Innenstadt konspirativ verfolgten, bevor er angegriffen wurde. Auch in diesen Videos ist die angeklagte Person nicht zu erkennen.
Am Freitag sagten drei Polen aus, die auf offener Straße angegriffen worden waren. Als er schon am Boden lag, hätten die Angreifer demnach weiter mit Stöcken auf den Kopf des einen Mannes eingeschlagen. Die drei – ein Paar und ein Freund – sagten aus, sie seien nicht wegen eines Neonazi-Treffens angereist, sondern um sich die Stadt anzuschauen. Mit dem Neonazi-Treffen in Budapest hätten sie nichts zu tun gehabt.
An dieser Aussage gibt es jedoch Zweifel:
Einer der Geschädigten trat 2024 bei der EU-Parlamentswahl als Kandidat für die polnische Neonazi-Partei Ruch Narowodny in einem rechtsextremen Wahlbündnis an. Vor Gericht wird diese Tatsache, die an der Glaubwürdigkeit des Zeugen zweifeln lässt, nicht erwähnt; auch der Strafverteidiger von Maja T. thematisiert sie nicht. Ruch Narowodny ist eine Partnerpartei von Orbáns Fidesz Partei im EU-Parlament, beide gehören der »Patrioten«-Fraktion an.
Am Freitag versammelten sich vor dem Gerichtsgebäude Rechtsextremisten und filmten die Unterstützerinnen und Unterstützer von Maja T. Sie brüllten auf Deutsch »Ausländer raus«, beleidigten die Prozessbesucher als »Antifa-Abschaum« und als Menschen, die wie »Obdachlose« aussähen. Vereinzelt schrien die linken Demonstranten zurück.
Die Italienerin Ilaria Salis, die ebenfalls zu der Tätergruppe gehören soll, wurde 2024 ins EU-Parlament gewählt und erhielt so politische Immunität. Sie bestreitet die Vorwürfe und war nach 15 Monaten ungarischer Haft in den Hausarrest entlassen worden. Wohl auch, weil die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni in einem persönlichen Telefonat mit ihrem Amtskollegen Orbán Druck ausgeübt hatte; beide waren zu dem Zeitpunkt auf EU-Ebene noch verbündet.
Maja T. erklärte nun, sie wolle bis auf unbestimmte Zeit in einen Hungerstreik treten, bis auch sie unter Hausarrest gestellt werde. Der SPIEGEL konnte mit ihr am Donnerstag telefonieren. Maja T. beklagt Ungeziefer wie Ratten und Bettwanzen in ihrer Zelle, außerdem Isolationshaft, und sie habe keine Beschäftigungsmöglichkeiten wie Bücher.
Das Schlimmste sei das »ständige Alleinsein«, und sie könne ihre Familie, Freunde, ihre Verlobte nicht unbeobachtet in den Arm nehmen. Überall seien Kameras, anfänglich sei sogar eine in der Zelle installiert gewesen. Sie komme nicht zur Ruhe, sagte T.
Im Februar war Maja T. an einer Leine vor Gericht geführt worden. »Der Prozess wirkt für mich, als würde man ein bereits stattgefundenes Urteil versuchen zu legitimieren«, sagt T. Es gebe eine »Ignoranz gegenüber der Unschuldsvermutung«. Auf die konkreten Vorwürfe will sie nicht eingehen.
Nazi singt über abgeschlachtete jüdische Kinder
Ihre Unterstützer, die vor dem Gericht stehen, sagen, die Opfer hätten dem Holocaust gehuldigt. Einer, der bei der Attacke schwerste Körperverletzungen erlitten hat und deswegen für kurze Zeit erblindet war, ist der Ungar László Dudog, ein in der rechten Szene bekannter Musiker. Auch er hat bereits im Prozess ausgesagt.
In einem der brutalen Liedtexte seiner Band wird bejubelt, wie jüdische Kinder und Frauen in Konzentrationslagern abgeschlachtet werden. »Der Berg der Leichen reicht bis zum Himmel, den jüdischen Staat gibt es nicht mehr.« Auf seinem Instagram-Profil zeigt Dudog sich mit T-Shirts der in Deutschland verbotenen Gruppierung »Blood and Honour« oder dem Konterfei des NS-Verbrechers Rudolf Heß, er teilte ein Foto mit einem blutigen Schneemann mit Messer in der Hand. »Gute Nacht, linke Seite«, steht daneben. Beim Prozess tauchten bei seiner Vernehmung bekannte Neonazis auf, darunter ein verurteilter Rechtsterrorist.
Doch die menschenverachtenden Äußerungen und Taten rechtfertigen keine Gewalt. »In meiner Idealvorstellung gibt es keine Gewalt vom Staat und zwischen Menschen. Doch dieses Ideal gibt es nicht«, sagt Maja T. »Wir leben in einer Gesellschaft voller Gewalt. Aber von mir erwarte ich, dass mein Handeln der Utopie einer gewaltfreien Gesellschaft gerecht wird.« Das hört sich wie eine Distanzierung von den Taten an, die ihr vorgeworfen werden.
Der ungarische Anwalt von Maja T., Tamás Bajáky, sagt, es sei nicht absehbar, wann ein Urteil gefällt wird, voraussichtlich noch dieses Jahr. Er beklagt, dass T. vor dem ersten Prozesstag nicht sämtliche Unterlagen in deutscher Sprache zur Verfügung gestellt wurden. Ebenso sei das belastende Videomaterial erst rund drei Wochen vorher für die Angeklagte zugänglich gemacht worden. Wie solle sich Maja T. so auf einen Prozess vorbereiten und verteidigen? Da er nur in einem Raum mit einer Trennscheibe zur Mandantin gesprochen hat, konnte Maja T. das Videomaterial nicht sehen.
»Ich arbeite seit 25 Jahren als Anwalt in Ungarn. So was habe ich noch nicht erlebt«, sagt er. Wieso er die offenkundig falschen Aussagen der Zeugen zu deren faschistischem Hintergrund nicht thematisiert? Das Gericht müsse politisch unabhängig agieren, sagt er.
Wie frei Strafverteidiger in Ungarn sprechen können, ist fraglich. Seit Jahren gibt es in Ungarn Klagen über Versuche von staatlichen Behörden, die Justiz zu beeinflussen; die Anwaltskammer berichtet von politischem Druck. 2021 etwa wurden mehrere Oppositionellen-Anwälte von Geheimdiensten mithilfe der israelischen Spähsoftware »Pegasus« überwacht.
Wer einige Tage den Prozess in Budapest beobachtet, stellt fest, wie fragwürdig hier vorgegangen wird. Der Richter trägt belastende Protokolle vor, als sei er selbst der Staatsanwalt. Es gibt keinerlei Zurechnung, wer auf den Fotos wo zu erkennen ist und wer was getan haben soll. Die Nachfragen von Staatsanwaltschaft und Verteidigung wirken wie ein Schauspiel.
Die Europäische Kommission hat in ihrem Rechtsstaatsbericht 2024 erhebliche Mängel an der richterlichen Unabhängigkeit und eine Dominanz der Staatsanwaltschaft in Ungarn beklagt. Ein rechtsstaatliches Strafverfahren in einem Fall mit politischem Hintergrund ist offenkundig nicht mehr möglich.
Maja T. wünscht sich eine Hochzeit im Gefängnis
Dass Maja T. überhaupt von deutschen Behörden nach Ungarn überstellt wurde, hat das Verfassungsgericht inzwischen als nicht rechtens erklärt. Der Prozess hätte in Deutschland stattfinden müssen, doch nun ist eine Rücküberstellung nicht mehr möglich.
Der Vater von Maja T., ein Biologie-Lehrer, kann, so sagt er, selbst immer noch nicht fassen, in welche Situation seine Familie da hineingeraten ist. Begleitet wird er zu den Prozesstagen von seiner Frau, einer seit zehn Jahren in Deutschland lebenden Ukrainerin. Er sagt: »Ich will doch einfach nur, dass mein Kind ein faires Verfahren bekommt.« Mit Gewalt sympathisiere er nicht.
Maja T. hat kürzlich über das Konsulat das Geschlecht in »nonbinär« im Pass gewechselt und wünscht sich eine Hochzeit mit ihrer Verlobten noch im Gefängnis. Das Leben soll weitergehen. Die Staatsanwaltschaft drohte mit 24 Jahren Haft, die dann aber eigentlich in Deutschland abgesessen werden sollen. Ob da auf die ungarischen Behörden Verlass ist, wenn es zum Urteil kommt, ist offen.
Deutschland weigert sich inzwischen, weitere Tatverdächtige nach Ungarn zu überstellen. Der politische Konflikt der EU mit Orbán spitzt sich seit Monaten weiter zu. Die nächste Eskalation wird Ende des Monats erwartet, wenn in Budapest gegen das LGBTQI-Pride-Verbot demonstriert werden soll.
Maja T. sagt am Telefon noch, sie plane, Forstwirtschaft zu studieren. Neulich habe sie geträumt, wie sie auf einer Couch mit ihrer Verlobten sitzt und den Hund streichelt.