Ehemaliger JVA-Leiter aus Sachsen: „Gefängnisse gehören abgeschafft“
Rund 58.000 Menschen sitzen in deutschen Gefängnissen. Doch fast jeder Zweite wird nach der Entlassung wieder straffällig. Der frühere Gefängnisdirektor Thomas Galli sieht im geschlossenen Strafvollzug ein System, das so nicht mehr funktioniert. Verhindern Einzelhaft, Isolation und die mangelnde Vorbereitung auf das Leben nach dem Gefängnis eine erfolgreiche Wiedereingliederung in die Gesellschaft? Forscherinnen und Betroffene stützen seine Kritik – und fordern neue Wege im Umgang mit Straftätern.
Gefängnisse sind Institutionen, die selten kritisch hinterfragt werden. Davon ist zumindest Thomas Galli überzeugt. Der ehemalige JVA-Leiter ist mittlerweile der Meinung, dass Gefängnisse abgeschafft gehören: „Insgesamt muss man sagen, dass das System Gefängnis dysfunktional ist.“
Rückfallquote und Kritik am System
Für Galli zeigt sich das Problem im aktuellen Strafvollzug vor allem in der unzureichenden Wiedereingliederung der Inhaftierten. Diesen Eindruck unterstützen auch aktuelle Zahlen: Schätzungen zufolge befinden sich etwa 58.000 Menschen derzeit in Deutschland in Haft. Nach der Rückfallstatistik des Bundesjustizministeriums liegt die Rückfallquote nach drei Jahren bei 45 Prozent – nach zwölf Jahren sogar bei 66 Prozent.
Warum wird die Zahl der Gefängnisinsassen geschätzt?
Für die Gesamtzahl der inhaftierten Menschen in Deutschland hat das Bundesjustizministerium keine offiziellen Zahlen. Das liegt den Angaben zufolge daran, dass Gefängnisse in der Verantwortung der einzelnen Bundesländer liegen und die Bundesländer unterschiedliche Statistiken über Inhaftierte haben.
„Gefängnisse gehören abgeschafft“
Nach 15 Jahren im Justizvollzug sagt Galli rückblickend: „Überrascht hat mich, dass es eben nicht funktioniert, wie es funktionieren sollte.“ Die aktuellen Haftbedingungen in geschlossenen Einrichtungen würden die Resozialisierung behindern. Einzelhaft, Isolation und ein streng regulierter Alltag sorgten dafür, dass die Inhaftierten vom Leben außerhalb der Mauern entfremdet würden.
Galli beschreibt seine Beobachtungen so: „Diese geschlossenen Anstalten, in denen Hunderte Menschen auf engstem Raum über Monate oder Jahre zusammenleben, wo dann eine Parallelkultur entsteht oder gefördert wird – solche Gefängnisse gehören abgeschafft.“
Erfahrungen eines Inhaftierten
Manuel verbrachte mehr als sechs Jahre im Gefängnis – davon vier Jahre im geschlossenen Vollzug. Den Großteil dieser Zeit in der JVA Zeithain. Verurteilt wurde er wegen Raubes, Betrugs und Körperverletzung. „Es ist schon nichts, wo ich sage, das ist geil oder so, also das nicht. Aber es ist ein Teil meines Lebens, der passiert ist“, sagt er.
Während seiner Haftzeit erlebte er nach eigenen Angaben Selbstverletzungen, Psychosen und Suizide unter Mitgefangenen. Das Gefängnis sei ein eigener Kosmos, erklärt er. Die Zeit in Haft habe ihm Angst gemacht: „Es war meine größte Angst, dass ich dumm werde über meine Haftzeit. Alles, was in meiner Macht stand, habe ich versucht zu unternehmen, dass das nicht passiert.“
Auswirkungen der Haft auf die Psyche
Der Alltag im Gefängnis ist geprägt von Reizarmut, monotonen Tagesabläufen und einem Mangel an sozialen Kontakten. Ob die eintönige Gefängnis-Umgebung die geistige Leistungsfähigkeit nachhaltig beeinträchtigt, erforschen Johannes Fuß und Susanne Bründl am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Sie analysieren mithilfe von MRT-Untersuchungen die Gehirne von Langzeitinhaftierten während und nach der Haftzeit. Ergebnisse dazu werden im kommenden Jahr erwartet.
Aber bereits eine norwegische Studie aus dem Jahr 1996 belegt, dass die Inhaftierung das Gefühl gesellschaftlicher Ausgrenzung verstärkt – mit negativen Folgen für die Rückkehr in ein normales Leben. Der ehemalige Inhaftierte Manuel verbrachte zweieinhalb Jahre im offenen Vollzug. Für ihn sei das die Rettung gewesen.
„Gefängnisse sind unverzichtbar“
René Müller, Gewerkschaftsvorsitzender der Gefängnisbediensteten und selbst 20 Jahre im Strafvollzug tätig, hält Gefängnisse trotzdem für unverzichtbar. Er verweist auf die drei tragenden Säulen des Justizsystems: Schutz der Allgemeinheit, Resozialisierung und Gerechtigkeit.
„Wie soll der Schutz der Bevölkerung geschehen, wenn es keine Freiheitsstrafen mehr gibt?“, fragt er. Auch der Aspekt der Gerechtigkeit sei essenziell. Müller betont: „Wenn es keine Hafteinrichtung geben würde, dann würde der Staat nicht mehr das Recht ausüben, sondern wir würden ganz schnell wieder in die Anarchie verfallen. Wir würden schnell dazu kommen, dass das Recht der Stärkeren gilt.“
Neue Ansätze im Strafvollzug
Der Wunsch nach Vergeltung sei bei vielen tief verankert, meint der ehemalige JVA-Chef Thomas Gallli. Wer ein Verbrechen begeht, solle bestraft werden – ein Gerechtigkeitsverständnis, das bis zu den frühesten menschlichen Kulturen zurückreiche. Doch Galli fordert ein Umdenken: „Wir müssen diesen Urinstinkt reflektieren und an unsere heutige Zeit anpassen.“
Galli zufolge sind Gefängnisse für Schwerverbrecher weiterhin notwendig. Diese machen jedoch nur einen geringen Teil der Gefangenen aus. Für leichtere Straftaten fordert er jedoch alternative Strafformen. Bei Dresden in Sachsen existiert beispielsweise ein Modellprojekt, bei dem Inhaftierte auf einem Bauernhof arbeiten.
Offener Vollzug als Alternative
In der Realität sei der offene Vollzug schwer umsetzbar, erklärt Galli. Weniger als 20 Prozent der Gefangenen in Deutschland seien in einer offenen Einrichtung untergebracht. Die Ursache dafür sieht er im System: Die Entscheidung über offenen oder geschlossenen Vollzug liege bei den einzelnen Justizvollzugsanstalten.
Galli erklärt: „Wenn entschieden wird, einer wird im offenen Vollzug untergebracht und dann passiert irgendwas – der haut ab oder begeht vielleicht sogar Straftaten – dann hat derjenige die Schuld, der das entschieden hat.“ Das führe dazu, dass die Entscheidung zu offenem Vollzug zurückhaltend getroffen würden.