„Deutsche Jugend Voran“ : Neonazi, 12, will Zecken jagen

Sie trainieren im Wald, überfallen ihre Opfer abends im Supermarkt. Ein Vorbild: die SA. Überall bilden sich rechtsextreme Gruppen. Auf den Spuren einer militanten Jugend
“Wir tragen keine Nikes in unserer Szene (…) Nikes sind Kanackenschuhe. Das ist der Tod für einen Rechten.“” – Zitat aus dem rechtsextremen WhatsApp-Chat „Trupp Deutscher Falken“
Julian M. und seine sechs Begleiter kommen gleich zur Sache, als sie Raphael K. an diesem Freitagabend im September 2024 aus einem Supermarkt im Berliner Stadtteil Marzahn kommen sehen. K. ist in einigen Lebensbereichen eingeschränkt und trägt eine Orthese am Ellenbogen. Er hat sich ein Regenbogenband um den Arm gebunden. Die Gruppe um M. beschimpft ihn als „Schwuchtel“. „Warum stehst du nicht zu Deutschland?“, wollen sie wissen. Dann schlägt einer K. ins Gesicht, zweimal gegen die Schläfe, bevor sie ihn zwingen, sein T-Shirt mit der Aufschrift „Antifaschistische Aktion“ auszuziehen.
Später rennen die Angreifer lachend davon, posten später aus einer Kneipe ihre „Trophäe“ auf Instagram. So schildert es K. der ZEIT, und so werden es später auch die Ermittler des Berliner Landeskriminalamtes rekonstruieren.
Raphael K. wurde zum Opfer einer neuen Neonazigruppe namens „Deutsche Jugend Voran“ (DJV), einer rechtsextremen Bande Jugendlicher. Ihr Ziel: politische Gegner einschüchtern, die Straßen Ostberlins für sich gewinnen. Der Rädelsführer der DJV ist Julian M., ein 24-jähriger Sportartikelverkäufer. Anfang April sitzt er im Landgericht Berlin in einem Glaskasten auf der Anklagebank.
Er trägt ein schwarzes Hemd, New-Balance-Sneaker, den Scheitel streng gegelt. Für diesen Überfall und drei weitere Taten verurteilt das Gericht M. zu drei Jahren und drei Monaten Haft. Die Staatsanwaltschaft hat Revision eingelegt, das Urteil ist damit noch nicht rechtskräftig.
Als die Richterin ihn fragt, ob er sich von der Naziideologie und der DJV distanzieren wird, kaut er auf seinem Kaugummi und antwortet: „Das ist mein privater Freundeskreis“, natürlich werde er die Personen weiter treffen und auch wieder auf rechte Demos gehen. Julian M.s Freunde, das sollen laut Ermittlern 50 junge Männer und Frauen in Berlin sein. Sie organisieren sich in geschlossenen WhatsApp-Gruppen, gehen mit Schlagringen und Quartzhandschuhen auf Nichtrechte los und tragen Gaspistolen.
In ganz Deutschland sind in den vergangenen drei Jahren solche jungen Neonazikameradschaften entstanden. Für die Öffentlichkeit wurde das Phänomen im vergangenen Sommer sichtbar. Drei damals 17-Jährige sind angeklagt, Matthias Ecke, einen SPD-Kandidaten zur Europawahl in Dresden, beim Plakatieren krankenhausreif geschlagen zu haben.
Schwarz gekleidete Jugendliche, manche mit rasierten Glatzen, andere mit Springerstiefeln, versuchten die Pride-Paraden in Bautzen, Leipzig oder Zwickau zu stören. Teilweise kamen 700 Gegendemonstranten zu den Regenbogen-Umzügen. Ende März erst wollten fast 900 extrem Rechte durch Berlin marschieren, teilweise vermummt und den Hitlergruß zeigend. Aus dem Stand eine der größten Neonaziversammlungen seit Jahren, organisiert von Menschen, die vor Kurzem keine Sicherheitsbehörde kannte.
Die Demoteilnehmer trugen T-Shirts mit der Aufschrift „Ich bin auch ohne Sonne braun“ oder „Jugend ohne Migrationshintergrund“, sie skandierten „Hurra, hurra, die Nazis, die sind da!“.
Sie treffen sich zu 50-Kilometer-Leistungsmärschen, Boxtrainings im Wald oder reisen zu mythischen deutschen Orten wie den Externsteinen oder dem Kyffhäuser-Denkmal. Ihre Gruppen nennen sie „Pforzheim Revolte“, „Jung und Stark“, „Gersche Jugend“, „Der Störtrupp“, „Mecklenburg verteidigen“, „Freischar Westfalen“ oder „Nordfeuer“. Überall im Land entstehen sie, nach Zählungen der ZEIT gibt es aktuell ungefähr 120 dieser Gruppierungen.
“Kampfsport und kanacken zusammengeschlagen” – Zitat aus dem rechtsextremen WhatsApp-Chat „Jung und Stark Vorgruppe“
Enrico ist Mitarbeiter eines Aussteigerprogramms für Rechtsextreme in Ostdeutschland, sein echter Name soll anonym bleiben. Üblicherweise sind die Klienten Parteifunktionäre oder tätowierte Männer, die jahrelang in der rechten Szene unterwegs waren. Aber seit einiger Zeit ändert sich etwas in Enricos Arbeit: Die Leute, denen er helfen soll, werden immer jünger. Teilweise kämen schon besorgte Eltern von Zwölfjährigen in seine Beratung.
Und es werden immer mehr: 2024 verdoppelten sich die Anfragen nahezu, von 40 Fällen im Jahr auf mehr als 70. Enrico sagt: Für einen Teil der Kids seien die neuen Gruppen „der heiße Scheiß“, die Jungen in Bomberjacke und Springerstiefeln seien auf den Schulhöfen nun die Coolen. Das liegt auch daran, wie sie vorgehen.
Wenn die Aktivsten nachts illegal Sticker verkleben, Graffiti sprühen, am Lagerfeuer stehen oder im Gym gegen einen Boxsack schlagen, verbreiten sie dies in schnell geschnittenen Videos auf Instagram und TikTok, oft mit treibenden Elektrobeats oder Rapmusik unterlegt, manchmal auch martialisch inszeniert mit rauchenden Bengalos und brennenden Fackeln. Das spricht Jugendliche an. Die Jungnazis sind in bestimmten Regionen zu Influencern geworden, sagen Sozialarbeiter. Aber dieser öffentliche Auftritt ist nur eine Seite.
Alexander Ritzmann vom Counter Extremism Project forscht seit Jahren zu dem Phänomen, er sieht die Gefahr, dass aus einigen der Gruppen Schattenmilizen entstehen könnten, die am Tag X zuschlagen. Tag X, das soll die Machtübernahme eines rechten Diktators sein. Historisches Vorbild eines Teils der Bewegung sei die Sturmabteilung (SA) der NSDAP. Auch bei Julian M.s Männern in Berlin. Im Oktober 2024 schreibt ein DJV-Mitglied in einem Chat an seinen Führer, er wolle jetzt seine eigene „Untergruppe so in Richtung SA“ aufbauen.
Es scheint, als seien die Baseballschlägerjahre zurück
Die Sicherheitsbehörden nennen die Klientel „aktionsorientiert“, „Lifestyle-Rebellion“ oder „gewaltbereite subkulturelle Nationalsozialisten“.
Ein kleiner Ausschnitt von Gewaltdelikten aus dem vergangenen Jahr:
Januar 2024. Sechs Jugendliche attackieren einen 20-Jährigen in Berlin, schlagen ihm ins Gesicht, treten gegen seine Beine und beleidigen ihn als „Zecke“.
Mai 2024. Beim Plakatieren werden Politiker von SPD und Grünen in Dresden von einer Gruppe rechter Jugendlicher angegriffen, der SPD-Politiker Ecke wird dabei schwer verletzt und muss operiert werden. Gegen drei 18-Jährige aus dem Umfeld der Gruppe „Elblandrevolte“ wird Anklage erhoben.
Juni 2024. Zehn Rechte in Uniformen im Alter von 18 bis 20 Jahren sollen Menschen in einem Park in Leipzig angegriffen haben. Die Betroffenen erleiden Prellungen, einige auch Platzwunden am Kopf.
Juli 2024. Die Berliner Polizei hindert eine Gruppe unter anderem von DJV-Mitgliedern und Jungen Nationalisten der Partei Die Heimat daran, einen koordinierten Angriff auf den Christopher Street Day zu verüben. 14 Minderjährige sind unter den Festgenommenen.
August 2024. Bei zwei Mitgliedern der Chatgruppe „Jung und Stark“ hält die Polizei eine Gefährderansprache in Nürnberg. Sie sollen eine fremdenfeindliche Gewalttat geplant haben.
September 2024. Zwei junge Männer werden nachts von „nationalen Jugendlichen“, wie sie sich auf Telegram selbst nennen, an einer Haltestelle in Erfurt getreten und geschlagen.
Oktober 2024. Zwei 15-jährige Neonazis der Gruppe „Letzte Verteidigungswelle“ sollen ein Kulturhaus in Altdöbern angezündet haben.
Dezember 2024. Teenager zwischen 16 und 19 von „Deutsche Jugend Zuerst“ sollen eine SPD-Politikerin in Berlin angegriffen haben. Sie attackieren auch Polizisten, die hinzukommen.
Dezember 2024. Sechs bis acht Rechtsextreme überfallen am Silvestertag zwei Linken-Politikerinnen und ihre Freunde in Görlitz mit Pyrotechnik, Tränengas und Schlägen. Der Anführer ist der 18-jährige Leiter der Gruppe „Elblandrevolte“.
Es scheint, als seien die Baseballschlägerjahre zurück, die Zeit nach der Wiedervereinigung, in der Neonazis No-go-Areas errichtet hatten, Jagd auf Ausländer, Obdachlose und Andersdenkende machten und Brandanschläge auf Häuser von Migranten in Mölln, Solingen und Rostock-Lichtenhagen verübten. Eine aufgeheizte Situation, die rechtsextreme Parteien wie die NPD in die Parlamente spülte und die späteren Rechtsterroristen des NSU radikalisierte; eine Gruppe, die aus dem Untergrund zehn Personen umbringen sollte.
Aus diesen Erfahrungen haben die Sicherheitsbehörden gelernt. Sie lassen die Gewalt nicht laufen wie in den Neunzigern. Seit 2022 tauschten sich die Behörden im Terrorismusabwehrzentrum schon mehrere Dutzend Male über die Gruppen aus. Der Staatsschutz und einige Verfassungsschutzämter beobachten die extrem rechten Jugendlichen seit vergangenem Jahr intensiv.
Kurz nach Übergriffen auf Politiker von SPD und Linkspartei sowie auf Homosexuelle durchsuchten Ermittler mehrmals Wohnungen in Niedersachsen, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Berlin und Brandenburg. Einige der jugendlichen Gewalttäter sitzen nur wenige Monate nach den Taten bereits in Untersuchungshaft oder im Gefängnis.
Aber wie konnte dieser Rechtsextremismus wieder zur Jugendkultur werden? „Das ist ohne das gesellschaftliche Grundrauschen der letzten zehn Jahre nicht zu erklären“, sagt eine Frau, die Rechtsextremen beim Ausstieg hilft und schon einige der jungen Kader kennengelernt hat. Sie ist zur Verschwiegenheit verpflichtet, weshalb auch ihr Name hier nicht genannt wird.
Auffällig sei, dass gerade in jenen Regionen, in denen Bewegungen wie Pegida und die AfD früh Fuß fassen konnten, extrem junge Neonazis zum ersten Mal auffällig geworden seien. Im Jahr 2020 seien ihren Kollegen zum ersten Mal zwölfjährige Neonazis in Ostsachsen aufgefallen. Ein Teil der Kinder komme aus einem rechtsoffenen bis radikalen Milieu. Die Eltern wählten, seit die Kinder auf der Welt sind, AfD. Die Kinder fühlten sich nun ermutigt, den Protest der Elterngeneration ins Extreme zu treiben.
Ein anderer Teil begehre gegen liberale Elternhäuser auf. „Das sind Jugendliche auf Identitätssuche“, sagt die Sozialarbeiterin. Junge Männer, für deren Aufwachsen die soziale Isolation im Coronalockdown prägend gewesen sei und die sich nach der Pandemie ihren Raum auf den Marktplätzen der Kleinstädte sichern wollten. Nur treffen sie dort auf junge Migranten, auf Regenbogenfahnen an Kirchtürmen – und auf Christopher-Street-Day-Demos, die im vergangenen Sommer zum ersten Mal in die Breite der ostdeutschen Provinz vordrangen. Ihre Identität fänden die jungen Männer in der Abgrenzung, im Gegenangriff, in der maximalen Provokation.
Hinter einigen Gruppen steckt die ehemalige NPD
Wir bewerben uns undercover in Chatgruppen von „Der Störtrupp“, „Jung und Stark“, „Patriotisch Aktiv Deutschland“ und „Trupp Deutscher Falken“ und lesen einige Wochen mit, worüber sich Leon aus Bayern, Timo aus der Nähe von Schwerin und all die anderen austauschen. Um Ideologie geht es selten und wenn, dann häufig um die Ablehnung queeren Lebens, des Feminismus und die angebliche Furcht vor Transpersonen und Antifaschisten.
Die sehr jungen Neonazikameradschaften entstehen aus Freundeskreisen, man trifft sich in der Schule oder im Fußballstadion, manchmal auch über TikTok oder Instagram. Interessenten werden dann privaten WhatsApp-Gruppen hinzugefügt.
Die Gruppen gibt es von Kiel bis ins Vogtland, von der Schwäbischen Alb bis in den Taunus. Sie agieren lokal, aber sie übernehmen Codes und Aktionsformen voneinander, verlinken sich in ihren Chatgruppen, und teilweise kennen sich die Aktivisten auch persönlich. Als der Berliner Julian M. zwei Monate nach dem Raub des Antifa-T-Shirts in einer S-Bahn einen weiteren jungen Mann zusammenschlug, waren auch Neonazis aus Halle und Sachsen mit dabei. Und als sich vergangenes Jahr in Bautzen der größte extrem rechte Protest gegen den lokalen CSD formierte, reisten Gruppen dafür aus Dresden, Zittau, Berlin und sogar Pforzheim an.
“Zecken wirst Du hier keine finden, hier sind nur Rechte, ich bin sogar rechtsextrem”
– Zitat aus der rechtsextremen Chatgruppe „Trupp Deutscher Falken (Elite)“
Und noch etwas fällt in den Chatgruppen auf: Unter die Jugendcliquen mischen sich auch rechtsextreme Parteien wie Der Dritte Weg und Die Heimat, die in den vergangenen Jahren Probleme hatten, Nachwuchs zu finden. Stößt man bei Telegram auf „Württemberg verteidigen“, erfährt man von einer WhatsApp-Chatgruppe. Schreibt man der dazugehörigen Handynummer, meldet sich jemand mit „Moin“. Wir fragen, was dies für eine Gruppe sei.
Die Person spricht vom „Gefühl der Zusammengehörigkeit und Verbundenheit“ und schickt Bilder von Kampftrainings mit Jungs mit freiem Oberkörper. Dann bekommen wir einen Mitgliedsantrag geschickt, für die Jungen Nationalisten, die Jugendorganisation der Partei Die Heimat. Die ZEIT hat 13 solcher Tarngruppen identifiziert, hinter denen die ehemalige NPD steckt, die seit Jahren damit kämpft, dass ihr die Anhänger zur AfD überlaufen. Die jungen Männer und Frauen, die sich nun in ihrem Heranwachsen an rechtsextremen Symbolen ausprobieren, sind die Hoffnung der Alten.
In der Oberpfalz blickt ein Urgestein der rechtsextremen Szene sehr genau auf die neuen Jugendkameradschaften. Patrick Schröder ist Die-Heimat-Vize in Bayern, hatte mal ein rechtes Modelabel und wählt heute AfD. Der 41-Jährige sitzt in einer Rockbar im bayerischen Weiden in der Oberpfalz, in der man ihn freundlich begrüßt. Er hat kurze, blonde Haare, ein kantiges Gesicht, trägt eine schwarze North-Face-Regenjacke, so wie die fast dreißig Jahre jüngeren Nachwuchsnazis auch.
Patrick Schröder hat die rechtsextreme Kameradschaftsszene in Deutschland verblühen sehen. Nun möchte er sie wiederbeleben. Mit einer Idee aus den USA, die sich ein verurteilter Neonazi ausgedacht hat: Active Clubs. Es sind als harmlose Jugendgruppen getarnte Kampfsportkader. Über 20 solcher Gruppen vom Westerzgebirge bis an den Niederrhein betreiben aktuell Accounts in den sozialen Medien. Wie viele Menschen dahinterstehen, ist unklar.
„Der nationale Widerstand war in den letzten Jahren nicht mehr auf der Straße, das ändert sich gerade wieder“, sagt Schröder. „DJV und Co.“ seien in „ihrer Sturm-und-Drang-Phase, die geben gerade richtig Gas“. Aber er nennt den Nachwuchs auch etwas abfällig „Division TikTok“, ein virales Video sei noch nicht nachhaltig.
Außerdem sehe der Skinheadlook der Neunzigerjahre, den die Jugendlichen nachahmten, doch „scheiße aus“. Er verurteilt die Jugendlichen dafür, dass sie bei ihren Aufmärschen saufen und pöbeln. Er sagt aber auch: Der größte Erfolg der 90er-Jahre-Kameradschaften sei es gewesen, am Ende in jedem kleinen Ort eine Gruppe gehabt zu haben
„Wir wollen langfristig selbst eine Jugendkultur aufbauen“, sagt Schröder. Und ja, er habe schon Versuche unternommen, sich mit den Neuen zu vernetzen. Auf seine Anfrage nach Kooperation hätten die Jungnazis jedoch bisher nicht reagiert.
Die Bilder auf dieser Seite stammen aus öffentlichen Telegram- und WhatsApp-Gruppen der rechten Szene. Mitglieder der Gruppen veröffentlichen sie dort auch, um für ihre Aktivitäten zu werben.
Mitarbeit: Paulina Albert, Astrid Geisler
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