Brandbrief aus dem Erzgebirge: Hitler, Hakenkreuze und Rassismus alltäglich

Ein Lehrer und ein Schüler berichten anonym aus zwei sächsischen Schulen über extrem rechte Klassenzimmer. Die Zustände seien nicht mehr auszuhalten.
Etwa zwei Jahre ist es her, dass sich Lehrer einer Gesamtschule in Burg im Spreewald an die Öffentlichkeit gewandt haben. Im April 2023 erreicht eine anonyme Mail zahlreiche Redaktionen in Berlin und Brandenburg. Enthalten ist eine lange Auflistung von rechtsextremen Vorfällen an der betroffenen Schule. In dem Brandbrief machen die Absender Hakenkreuz-Schmierereien und Hitlergrüße von Schülerinnen und Schülern öffentlich. Es folgt eine breite Debatte über den Umgang mit Rechtsextremismus in der gesamten Region, das Interesse der Medien ist groß.
Wenig später treten jene aus der Anonymität heraus, die die Missstände öffentlich machten. Die Lehrer Laura Nickel und Max Teske geben Interviews und prangern weiterhin die Zustände an ihrer Schule an. Das ruft nicht nur positive Reaktionen hervor. Drohaufrufe kursieren, im Spreewald kleben plötzlich Sticker mit den Konterfeis der beiden. Die Anfeindungen und Bedrohungen reißen nicht ab, Nickel und Teske ziehen im Juli 2023 Konsequenzen und verlassen die Schule. Die AfD feiert.
Vergangene Woche erreichten den Tagesspiegel anonyme Schilderungen aus dem Erzgebirge, die unhaltbare, rechtsextreme Zustände in ihren jeweiligen Schulen anprangern. Es ist ein Hilferuf, der es in sich hat. Inklusive Beispielen drastischer rassistischer, antisemitischer und homophober Sprache. Der Redaktion sind sowohl die Schulen, als auch die Identität der Hinweisgeber namentlich bekannt. Zu Ihrer eigenen Sicherheit haben wir beide Personen verfremdet, die Erzählungen jedoch nicht.
Der Lehrer
Jan Nolte unterrichtet naturwissenschaftliche Fächer an einer Oberschule im Erzgebirge. Mitten im Unterricht seiner damaligen zehnten Klasse bekommt er mit, wie das Smartwatch-Display eines Schülers in der ersten Reihe aufleuchtet. Zu sehen ist ein großes schwarzes Hakenkreuz auf weißem Grund. „Ich traute meinen Augen nicht“, sagt Nolte. Der Schüler zeigt schließlich sogar seinem Sitznachbarn das Hintergrundbild seiner digitalen Armbanduhr. „Der hat keine Miene verzogen“, erzählt Nolte.
Nach der Stunde bittet Nolte den Jungen zum Gespräch und meldet den Vorfall Eltern und Polizei. Die ermittelt und stellt die Uhr sicher, doch das Verfahren wird im Februar eingestellt. Das angezeigte Verhalten erfülle keinen Straftatbestand, da das Verwenden des verfassungswidrigen Kennzeichens nicht im öffentlichen Raum stattgefunden hat. Das Klassenzimmer umfasst keine „unüberschaubare Anzahl von Personen“, argumentiert die Staatsanwaltschaft in einem Schreiben, das dem Tagesspiegel vorliegt.
Immer wieder kommt es in der gleichen Klasse zu Vorfällen. Ein Junge wird regelmäßig von seinen Mitschülern als „Jude“ bezeichnet, in der Folge werden mehrere Teenager von der geplanten Klassenfahrt ausgeschlossen.
Das Schuljahr zuvor besuchte die Klasse die KZ-Gedenkstätte Buchenwald bei Weimar. Auf der Fahrt dorthin schickt einer der Schüler eine verfremdete Karikatur der US-Serie „South Park“ in den Klassenchat. Zu sehen ist ein „South Park“- Charakter mit Hakenkreuzbinde, Hitlerbart und gehobenem rechten Arm. „Sieg Heil! Sieg Heil!“, steht darunter.
Auch dieser Schüler wird schließlich von der Fahrt ausgeschlossen. Nolte sagt, dass die Lehrerschaft und auch die Schulleitung die rechtsextremen Umtriebe ernst nehmen. Regelmäßig sei das Thema präsent in Lehrerkonferenzen. Bei den Schülern sehe es anders aus. „Es gibt de facto niemanden, der was dagegen sagt“, erzählt der Lehrer, „der ganze Grundton ist so verroht, die stehen komplett darauf“.
In einer neunten Klasse der Schule sei im Kontext der Landtagswahl über Politik gesprochen worden. Bei einer Klassen-internen Abstimmung gaben 75 Prozent der Schüler an, die AfD wählen zu wollen. Schüler mit Migrationshintergrund gibt es auf der Oberschule keine. Ein weiterer Schüler sei der Schule verwiesen worden, nachdem er einen Lehrer als „linke Zecke“ beschimpft hatte.
Nolte erzählt von einer Aufklärungsstunde über Aids, die in einer seiner Klassen stattgefunden hat. Zu Besuch war ein Mann, der über seine eigene Erkrankung und Ansteckung erzählte. „Als er gesagt hat, er ist schwul, habe ich ihm nicht weiter zugehört“, soll ein Schüler in der Nachbesprechung laut des Lehrers geäußert haben.
Der Schüler
Er geht in die achte Klasse eines Gymnasiums im Erzgebirge. Wir nennen ihn hier Paul. Er sagt, in seiner Klasse ist er in der absoluten Minderheit. Rassismus, Antisemitismus, Homophobie und NS-Propaganda seien bei seinen Mitschülern an der Tagesordnung. Im Herbst 2023 zeigt eine Lehrerin im Vertretungsunterricht den Film „Erich Kästner und der kleine Dienstag“, in dem es auch um die Zeit der Machtergreifung der Nationalsozialisten geht.
Nach dem Film zeigen fünf Mitschüler in der Pause im Klassenzimmer den Hitlergruß und fotografieren sich gegenseitig, erzählt Paul. „Zu diesem Zeitpunkt begannen fast tägliche Witze und Bemerkungen über Migranten und Homosexuelle“, sagt Paul. In der Öffentlichkeit, außerhalb der Schule, zeigt ein Junge den Hitlergruß und verschickt das Foto davon via Snapchat.
Zwei Schüler melden die wiederholten Vorfälle einer Lehrerin, berichtet Paul. Die wird aktiv, setzt sich mit anderen Lehrern zusammen. Im Geschichtsunterricht wird nun verstärkt die Zeit des Nationalsozialismus behandelt. Wirkung zeigt das keine. Im Gegenteil, sagt Paul.: „Die Schüler, die die Vorfälle meldeten, werden nun zum Opfer“.
Hakenkreuzschmierereien auf Blöcken, Hefterrändern und Tischen gehörten zum Alltag, ebenso wie das Zeigen des Hitlergrußes hinter dem Rücken der Lehrperson während des Unterrichts. Schüler melden diese Vorfälle nicht mehr, erklärt Paul, weil die Sorge vor körperlichen Übergriffen gegenüber den „Denunzianten“ groß ist.
Nach dem Besuch einer KZ-Gedenkstätte sollen mehrere Schüler die ermordeten Lagerinsassen als „Gesindel“ bezeichnet haben. Sogenannte White-Power-Gesten oder rechtsextreme Codes wie „88“ oder „AH“ werden von Paul als „alltäglich“ beschrieben. Wird im Unterricht das Thema Homosexualität angesprochen, seien ausgeteilte Arbeitsblätter, die das Thema behandeln, von Mitschülern durchgestrichen worden.
Mehrere Schüler hatten zwischenzeitlich in ihrem WhatsApp-Status „Heil Hitler“ oder „Sieg Heil“ stehen. Dem Tagesspiegel liegen verschiedene Screenshots des Klassenchats auf WhatsApp vor. Regelmäßig teilen unterschiedliche Teenager rechtsextreme Sticker. Gegenrede gibt es keine.
Ein Sticker zeigt einen rauchenden Schornsteinschlot. Daneben ist Adolf Hitler zu erkennen, der sich die Hände wärmt. „Umso größer der Jude, desto wärmer die Bude“, steht darunter. Ein weiteres Bild zeigt einen schwarzen Jungen in einem Erdloch. Dazu die Zeile „Negatief“. Hitler mit rechtem Arm zum Gruß vor einem DJ-Pult, „Drop the Gas!“, ist zu lesen.