Unbekannte Aussagen der NSU-Terroristin – Was Beate Zschäpe über ihre 14 Jahre im Untergrund verrät

Fünf Tage lang berichtete Beate Zschäpe dem BKA von den Morden und dem Alltag des NSU, der SPIEGEL hat die Vernehmung rekonstruiert. Die Aussagen werfen ein neues Licht auf die Terrorzelle. Werden die letzten Geheimnisse gelüftet?
Die beiden Uwes, so erinnert sich Beate Zschäpe, hätten längst von ihrem Raubzug wieder da sein müssen, zurück in ihrem Versteck in der Frühlingsstraße in Zwickau. Da habe sie in der Küche im Radio die Nachrichten gehört.
Ein Banküberfall, ein brennendes Wohnmobil, darin zwei Leichen. Sie habe an jenem 4. November 2011 sofort gewusst, was die Meldung bedeute: Uwe und Uwe sind tot. Suizid. So hatten sie es ausgemacht für den Fall, dass ihre rechtsextreme Terrorgruppe, der »Nationalsozialistische Untergrund« (NSU), auffliegt.
Beate Zschäpe wusste genau, was zu tun war, so erzählt sie es. Wie ein »Roboter« habe sie das Programm abgespult, das mit Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos verabredet gewesen sei.
Die Umschläge mit den DVDs aus einem Schrank in der Abstellkammer holen. Die Wohnung nach Geld durchsuchen, zwischen den Polstern der Wohnzimmercouch und unter Böhnhardts Bett; gefunden habe sie nichts, sagt Zschäpe. Aus einem Kanister, der für diesen Fall bereitgestanden habe, überall Benzin verschütten und anzünden. Und dann nichts wie weg.
In der Nähe des Hauses habe sie die Umschläge in einen Briefkasten gestopft, sagt Zschäpe, gefühlt »ewig« habe das gedauert. Die DVDs erreichten später das türkische Generalkonsulat in München, eine Moschee in Hamburg, Medienhäuser und weitere ausgewählte Adressaten. Darauf verhöhnen die Neonazis ihre Opfer, Bilder zeigen die Menschen beim Sterben, fotografiert von ihren Mördern.
Die Details über den Untergang des NSU stammen aus bislang unbekannten Aussagen Zschäpes. Im August und Oktober 2023 haben drei Beamte und eine Beamtin des Bundeskriminalamts die Terroristin insgesamt fünf Tage lang im Gefängnis in Chemnitz vernommen.
Die Aussagen sind auf mehr als 340 Seiten protokolliert, nur wenige Passagen kamen bisher an die Öffentlichkeit . Nach monatelangen Recherchen kann der SPIEGEL die Inhalte der Vernehmungen nun rekonstruieren.
Die Aussagen gehen weit über das hinaus, was Zschäpe von 2013 bis 2018 im NSU-Prozess in München über ihre Anwälte erklären ließ. Und auch über das, was sie im Mai 2023 einem Untersuchungsausschuss des bayerischen Landtags berichtete, der sie im Gefängnis befragte.
Zschäpes Aussagen werfen ein neues Licht auf das Innenleben des Terrortrios und offenbaren zahlreiche Details, die den Strafverfolgern so nicht bekannt waren.
So berichtet sie von Schwarzpulverlieferungen, die vielleicht den Nagelbombenanschlag in der Keupstraße in Köln 2004 erst ermöglichten. Der Sprengsatz verletzte 23 Menschen teils schwer, viele von ihnen haben türkische Wurzeln.
Sie offenbart bis dato unbekannte Verbindungen des NSU in die Schweiz und behauptet, Mundlos habe dort eine heimliche Beziehung mit einer Neonazi-Frau geführt.
Sie schildert, wie der Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter in Heilbronn 2007 abgelaufen sein soll und warum die Terroristen die junge Beamtin erschossen.
Und sie übernimmt Verantwortung für die Verbrechen des NSU, auch wenn sie darauf beharrt, bei keinem Anschlag am Tatort gewesen zu sein. Zschäpe wurde zu lebenslanger Haft verurteilt. Ihre Freiheitsstrafe akzeptiere sie, sagt sie, schließlich hätte sie sich jederzeit der Polizei stellen und das Morden stoppen können. Sie sei keine Mitläuferin gewesen, kein »unterdrücktes Weibchen«. Sie habe sich bewusst für das Leben mit Böhnhardt und Mundlos in der Illegalität entschieden.
Ob ihre Beichte vor dem BKA die ganze Wahrheit ist? Schwer zu sagen. Manches scheint Zschäpe, heute 50, immer noch zurückzuhalten. Doch ihre Aussagen haben neue Ermittlungen ausgelöst. Und sie haben zu einer weiteren Anklage der Bundesanwaltschaft beigetragen, gegen die engste Freundin, die Zschäpe während der Zeit im Untergrund hatte.
Die wichtigsten Erkenntnisse zu acht Stationen des Trios, das mehr als ein Jahrzehnt lang mordete, raubte und Bomben legte.
Die Anfänge im Untergrund
Februar 1998, Chemnitz
Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe sind in der Zweizimmerwohnung eines Neonazis untergekommen. Ein Aktivist des rechtsextremen »Blood and Honour«-Netzwerks, Thomas S., hat ihnen die Bleibe in dem Plattenbauviertel vermittelt. Die drei verstecken sich vor der Polizei, nachdem ihre Bombenbauwerkstatt in einer Garage in Jena aufgeflogen war. Von nun an leben sie im Untergrund.
Im NSU-Prozess hat sich das Gericht intensiv mit dieser Anfangsphase des Terrortrios beschäftigt. Die drei finanzierten sich vor allem durch Raubüberfälle und wechselten wiederholt die Unterkunft. Das 3025 Seiten lange Urteil listet allein drei Umzüge in Chemnitz auf. Doch was Zschäpe nun Jahre später dem BKA erzählt, ist den Ermittlern so nicht bekannt. Demnach nutzten die Terroristen nach Überfällen ein Versteck.
Wenige Tage vor Weihnachten 1998 überfielen Böhnhardt und Mundlos einen Edeka-Markt in Chemnitz und erbeuteten mindestens 20.000 D-Mark. Einem Zeugen, der ihnen hinterherrannte, schossen sie knapp am Kopf vorbei. Um der Fahndung der Polizei zu entgehen, hätten sich die beiden Neonazis in einer unvermieteten Wohnung versteckt, berichtet Zschäpe.
Es habe damals viel Leerstand in Chemnitz gegeben. Bei einer Wohnungsbaugesellschaft hätten sie sich zum Schein als Mietinteressenten ausgegeben und einen Schlüssel für die Wohnungsbesichtigung erhalten. Davon hätten sie heimlich eine Kopie gemacht – und sich nach Überfällen in dem Plattenbau verborgen. In dem leeren Apartment hätten sie dann den Polizeifunk abgehört und ausgeharrt, bis die Luft wieder rein war und sie mit ihrer Beute abziehen konnten.
Später nutzten Böhnhardt und Mundlos Wohnmobile, um sich zu verstecken, bis die Fahndung abflaute. Zweimal hätten sie aber auch Transporter gestohlen, berichtet Zschäpe. Auch das war den Ermittlern noch nicht bekannt gewesen.
Das gilt auch für eine Bahnreise, von der Zschäpe dem BKA erzählt. Sie sei in den Anfangsjahren im Untergrund allein mit dem Zug nach Berlin gefahren, um in zwei Banken Geld aus den Raubüberfällen zu wechseln – weit weg von den Tatorten.
Einige der so gewaschenen Scheine, so erzählt Zschäpe es, steckte das Trio in einen anonymen Umschlag mit Brief an Unterstützer aus der rechtsextremen Szene. Im Herbst 2001 ging das Schreiben bei den Machern des Neonazihefts »Der Weiße Wolf« ein. Erstmals tauchte darin der Name der Terrorgruppe auf: NSU. Beigelegt waren 1000 D-Mark.
Das Morden beginnt
9. September 2000, Nürnberg
Böhnhardt und Mundlos schießen dem türkischen Blumenhändler Enver Şimşek, 38, mehrmals in den Kopf. Er hat an einer Straße im Stadtteil Langwasser seinen Stand aufgebaut. Zwei Tage später stirbt der Vater zweier Kinder. Es ist der erste rassistische Mord des NSU. In den Jahren danach töten Mundlos und Böhnhardt sieben weitere Männer türkischer Herkunft und einen Mann griechischer Herkunft.
Zschäpe bleibt in den Vernehmungen dabei, dass sie von dem Mord an Şimşek erst hinterher erfahren habe. Mundlos habe verändert gewirkt, in sich gekehrt. Als sie ihn gefragt habe, was los sei, habe er ihr von dem Mord erzählt. Zschäpes Angaben bleiben karg. Die BKA-Ermittler nehmen ihr nicht ab, dass sie nicht mehr dazu sagen kann. Der Moment, in dem sie erstmals von einem Mord erfahren haben will, müsse sich ihr doch ins Gedächtnis gebrannt haben.
Zschäpe windet sich, weicht aus, erzählt nun, dass Mundlos sich nach manchen Morden übergeben und Böhnhardt sich darüber lustig gemacht habe. Sie habe daraus geschlossen, dass Mundlos weniger kaltblütig getötet habe als Böhnhardt. Ausführliche Gespräche über die Morde habe es nie gegeben, behauptet sie. Es habe ihr das Leben erleichtert, dass sie keine Details erfragt und vieles verdrängt habe.
Die BKA-Ermittler reden auf Zschäpe ein, appellieren an sie, ihr Wissen endlich vollständig preiszugeben. Sie erinnern sie an die Familien der Ermordeten, die noch immer nach Antworten suchten. Ohne Erfolg.
Die Befragung wird unterbrochen. Zschäpe bespricht sich mit ihrem Anwalt, der bei den Vernehmungen anwesend ist. Dann sagt er den Beamten, dass es seiner Mandantin noch nicht möglich sei, über alles zu reden. Manche Informationen habe sie tief in ihrem Inneren weggeschlossen. Um darüber sprechen zu können, müsse Zschäpe diese Dinge im Gefängnis erst mit einer Psychologin aufarbeiten.
In den Vernehmungen gibt Zschäpe zu, zumindest von einem Mord »definitiv« vorher gewusst zu haben. Welcher Mord? Auch das will sie vergessen haben.
So geht das immer weiter. Zschäpe deutet Wissen an und blockt ab, sobald Nachfragen kommen. Zum Beispiel zum Mord an Theodoros Boulgarides am 15. Juni 2005 in München.
Zschäpe sagt, Mundlos und Böhnhardt hätten ihn für einen Türken gehalten und sich geärgert, als sie erfuhren, dass er Grieche war. Als die BKA-Beamten wissen wollen, wie dieses Gespräch zwischen den dreien konkret abgelaufen sei, weicht Zschäpe wieder aus. Es sei ja offensichtlich, sagt sie, dass die Morde aus »Türkenhass« geschehen seien und diese Tat nicht in die Serie passe.
Zschäpe sagt, sie habe mittlerweile eingesehen, dass sie Mitschuld an den Morden trage, auch wenn sie selbst niemanden erschossen habe. Spätestens nach dem ersten Mord hätte sie zur Polizei gehen müssen. Dann »hätten viele Morde verhindert werden können«.
Die Bombe in der Keupstraße
9. Juni 2004, Köln
Mundlos schiebt ein Fahrrad mit einem Motorradkoffer auf dem Gepäckträger in die Keupstraße. Vor dem Friseurgeschäft »Kuaför Özcan« stellt der Neonazi das Rad ab. In dem Koffer befinden sich mehr als 700 Zimmermannsnägel und eine Campinggasflasche, gefüllt mit bis zu 5,5 Kilogramm Schwarzpulver.
Aus sicherer Entfernung zünden Mundlos und Böhnhardt die Bombe. Fensterscheiben bersten, die Stahlnägel fliegen bis zu 150 Meter weit. Ein junger Mann, 21 Jahre alt, wird zu Boden gerissen, seine Haare brennen, neun Nägel bohren sich in seinen Körper. Nur durch Zufall gibt es keine Toten.
Den Beamten des BKA berichtet Zschäpe, die Neonazis hätten die Straße gezielt ausgewählt. Wegen der vielen türkischstämmigen Anwohner sei sie als »Klein-Istanbul« bekannt gewesen. Mundlos und Böhnhardt seien vor dem Anschlag schon einmal in Köln gewesen. Es habe sie fassungslos gemacht, dass es »eine solche Straße« in Deutschland gebe.
Dann werden die Ermittler hellhörig. Zschäpe erzählt ihnen, wer einen zentralen Bestandteil der Bombe beschafft haben könnte: Thomas S., einst Aktivist des rechtsextremen »Blood and Honour«-Netzwerks.
Er war auch als V-Mann für das Landeskriminalamt Berlin tätig, von November 2000 bis Januar 2011 spitzelte er für die Polizei. Die Ermittlungen gegen ihn wurden längst eingestellt, heute trägt Thomas S. einen neuen Nachnamen.
Vor dem Abtauchen der NSU-Terroristen hatten Zschäpe und er eine Affäre. Im Untergrund war Thomas S. der Erste, den Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt um Hilfe baten, er besorgte ihnen eine Bleibe. 25 Jahre später bezichtigt Zschäpe ihn, er habe das Schwarzpulver für den Anschlag in der Keupstraße und zwei weitere Bombenanschläge des NSU beschafft.
Bereits am 23. Juni 1999 war in einer Nürnberger Kneipe eine mit Schwarzpulver gefüllte Taschenlampe explodiert und hatte einen jungen Türken verletzt.
Am 19. Januar 2001 detonierte in einem Lebensmittelgeschäft in der Kölner Probsteigasse die nächste Bombe. Der Sprengsatz war in einer Christstollendose versteckt. Die damals 19-jährige Tochter des iranischen Ladeninhabers wurde schwer verletzt und lag lange im Koma.
Die genaue Herkunft des Sprengstoffs war bislang nicht geklärt. Nun behauptet Zschäpe, Thomas S. habe ihnen das Schwarzpulver noch während ihrer Zeit in Chemnitz besorgt. Sie selbst sei bei der Übergabe nicht dabei gewesen. Böhnhardt und Mundlos hätten ihr erzählt, dass es von S. stamme.
Zschäpe zufolge nahmen die NSU-Terroristen das Schwarzpulver bei jedem ihrer Umzüge mit. Demnach lagerten sie den explosiven Stoff zunächst in Tupperdosen im Keller, in ihrer letzten Wohnung in Zwickau dann in einem Glaskolben in der Vorratskammer. Weil das Schwarzpulver über die Jahre immer weniger geworden sei, gehe sie davon aus, so Zschäpe, dass es für sämtliche Bombenanschläge verwendet wurde.
Bekannt ist, dass Thomas S. dem Trio schon vor dem Untertauchen gut ein Kilogramm TNT besorgt hatte. Der Sprengstoff wurde 1998 in Zschäpes Garage in Jena sichergestellt. Thomas S. hat die Lieferung 2012 gegenüber dem BKA zugegeben. Von Anschlagsplänen habe er nichts gewusst, sagte er damals.
Dass Zschäpe nun behauptet, Thomas S. habe dem NSU nach dem Abtauchen Schwarzpulver geliefert, kommt für das BKA überraschend. Zschäpe vermutet, er habe auch gewusst, dass sie ihr Leben durch Raubüberfälle finanzierten.
Stimmt das? Oder rächt sich die verurteilte Terroristin an einem früheren Polizeispitzel?
Der Generalbundesanwalt hat das Ermittlungsverfahren gegen Thomas S. wegen Verdachts der Terrorunterstützung vor drei Jahren eingestellt. Es gebe keinen hinreichenden Tatverdacht, hieß es damals. Die Aussagen Zschäpes reichen den Fahndern offenbar auch nicht für neue Ermittlungen.
Für eine Verurteilung wegen Beihilfe zum versuchten Mord müsste S. nachgewiesen werden, dass er das Schwarzpulver besorgte und wusste, dass die Terroristen damit Anschläge auf Menschen verüben wollten. Andere denkbare Straftatbestände wären verjährt. Thomas S. reagierte nicht auf eine Anfrage.
Der NSU und die Waffen
Anfang der Nullerjahre, Zwickau
Über den Chef eines Computerspielladens besorgt sich Mundlos eine Repetier-Schrotflinte. Wie Zschäpe in ihrer BKA-Vernehmung sagt, hätten die Neonazis eine »große Waffe« haben wollen, um bei Raubüberfällen mehr Eindruck zu schinden. Den Kauf in der Stadt abzuwickeln, in der sie sich versteckten, sei sehr riskant gewesen.
Zum Zeitpunkt ihres Auffliegens verfügen die NSU-Terroristen über 20 Schusswaffen, die sie meist über Mittelsmänner auf dem Schwarzmarkt erstanden haben. Eine schallgedämpfte Česká-Pistole verwenden sie für ihre rassistischen Morde. Zudem bunkern sie unter anderem eine Maschinenpistole, mehrere Revolver sowie zwei Pumpguns.
Wenn Böhnhardt und Mundlos Verkleidungen mit Sturmhauben anprobiert hätten, sei das für sie ein Hinweis gewesen: bald schlagen sie wieder zu, sagt Zschäpe den Ermittlern. Manchmal seien die Neonazis nur »zum Gucken« losgefahren, manchmal »zum Machen«.
Während Mundlos eher den »Propagandaminister« des NSU gespielt habe, den ideologischen Kopf, sei Böhnhardt auf Waffen fixiert gewesen. Laut Zschäpe schlief er am Ende über einem Gewehr, es war im Bettkasten unter seiner Matratze. Beim Computerspielen habe immer eine Waffe auf dem Tisch gelegen, griffbereit neben der Tastatur.
Wenn die beiden das Haus verließen, hätten sie sich stets Bauchtaschen umgeschnallt, in denen Handfeuerwaffen steckten. Selbst zum Joggen habe Mundlos eine Pistole mitgenommen. Die Waffen seien unterschiedlicher Qualität gewesen: Über die Frage, wer von beiden die ordentlich funktionierende Waffe haben durfte, sei es ständig zum Streit gekommen.
In den Tagen um Silvester, so erzählt Zschäpe dem BKA, hätten Böhnhardt und Mundlos immer ihr Arsenal getestet. Sie seien mit ihren Rucksäcken in ein Waldstück losgezogen und hätten Schießübungen veranstaltet. Das Knallen sei wegen der Silvesterböllerei nicht so aufgefallen.
Danach sei Frust ausgebrochen, weil »fast alles Schrott« gewesen sei, wie es Zschäpe formuliert. Die Waffen hätten Ladehemmung gehabt oder aus anderen Gründen nicht funktioniert. Böhnhardt und Mundlos hätten deshalb überlegt, wie sie an zuverlässigeres Schießgerät gelangen könnten.
Tod einer Polizistin
25. April 2007, Heilbronn
Die Polizistin Michèle Kiesewetter , 22, parkt ihren Streifenwagen neben einem Trafohäuschen auf der Theresienwiese. Essenspause. Neben ihr sitzt ihr Kollege Martin A. Die Sonne scheint, sie öffnen die Fenster ihres Wagens. Von hinten nähern sich Mundlos und Böhnhardt. Die Polizistin stirbt durch einen Kopfschuss. Der Polizist überlebt schwer verletzt.
Böhnhardt habe Kiesewetter getötet, so berichtet Zschäpe es den BKA-Beamten. Mundlos dagegen habe auf Martin A. geschossen. Ihren Angaben zufolge habe Böhnhardt hinterher geprahlt, im Gegensatz zu Mundlos »ins Schwarze getroffen« zu haben.
Bisher war vermutet worden, dass es Mundlos war, der Kiesewetter ermordet hat. Denn im letzten Versteck des NSU fanden die Ermittler Blut der Polizistin an einer Jogginghose, die sie Mundlos zuordnen. Die Terroristen hatten die Hose über all die Jahre ungewaschen aufbewahrt – wohl als eine Art Trophäe.
Zschäpe sagt, dass sie die Uwes hinterher zur Rede gestellt habe, weil diesmal kein Migrant, sondern eine deutsche Polizistin starb. Sie habe sich gefragt, was nach der rassistischen Mordserie und der Ermordung einer Beamtin denn noch kommen sollte. Seien als nächstes Homosexuelle dran? Mundlos habe ihr erklärt, dass es bei der Tat allein darum gegangen sei, an zwei verlässliche Polizeiwaffen zu kommen.
Das BKA wird noch durch eine andere Aussage überrascht. Laut Zschäpe haben Mundlos oder Böhnhardt am Tatort den Schriftzug »NSU« hinterlassen. Bislang hatten die Ermittler die Buchstaben an der Wand des Trafohäuschens als Abkürzung für Neckarsulm interpretiert, der Nachbarstadt Heilbronns, und damit als irrelevant.
Nach dem Mord seien Mundlos und Böhnhardt laut Zschäpe nur um Haaresbreite entkommen. Demnach gerieten sie mit ihrem gemieteten Wohnmobil in eine Polizeikontrolle, wurden aber durchgewinkt. Ihm sei »das Herz in die Hose gerutscht«, soll Mundlos ihr berichtet haben.
Tatsächlich wurde damals eine Ringfahndung eingeleitet. Rund 20 Kilometer vom Tatort entfernt passierten die Neonazis einen Kontrollpunkt. Ein Polizist notierte das Kennzeichen ihres Wohnmobils: C-PW 87.
Innenleben einer Terrorzelle
Sommer 2004, Ostseeküste
Alles wirkt wie ein entspannter Urlaub. Zschäpe sitzt in der Sonne und liest einen John-Grisham-Roman. Böhnhardt hat seinen Kopf in ihren Schoß gelegt. Mundlos steht in Badehose in der Ostsee. Die Fotos sind auf einer CD gespeichert, die Fahnder im Brandschutt der letzten NSU-Wohnung entdeckten.
Gegenüber dem BKA beschreibt Zschäpe ihren Alltag im Untergrund hingegen als »sehr anstrengend«. Ständig habe sie aufpassen müssen, nicht aufzufliegen. Schon früh hätten ihre Komplizen ihr klargemacht, dass sie sich eher selbst töten würden, als ins Gefängnis zu gehen. Sich zu erschießen, sei für Zschäpe nie infrage gekommen. Sie habe aber mit Mundlos über andere Suizidmethoden gesprochen.
Sie seien »keine fröhlichen Untergrundler« gewesen, sagt die verurteilte Terroristin. Das Trio sei weitgehend isoliert von der Außenwelt gewesen, immer wieder habe es Streit gegeben. In der Anfangszeit sei Böhnhardt sogar einmal auf Mundlos losgegangen.
Der habe zum Hammer gegriffen, um sich zu verteidigen, danach sei er vorübergehend ausgezogen. Schließlich aber, berichtet Zschäpe, sei das Trio »auf Gedeih und Verderb« immer wieder gemeinsam in einer konspirativen Wohnung gelandet.
Wenn die Neonazis in Urlaub fuhren, sei sie aus gutem Grund für das Bezahlen der Rechnungen zuständig gewesen, erzählt Zschäpe den Ermittlern. Als Einzige habe sie gefahrlos ihre Tasche öffnen können: weil sie, anders als ihre Komplizen, keine Pistole mit sich herumtrug.
Stets hätten sie größere Mengen Bargeld mit sich geführt, sie selbst mindestens 800 bis 1000 Euro, die Männer bis zu 20.000 Euro.
Die Urlaube habe Mundlos laut Zschäpe auch dafür genutzt, oberflächliche Beziehungen mit Frauen einzugehen, trotz des Risikos, erkannt zu werden. Erst zögerlich, dann immer konkreter berichtet Zschäpe dem BKA, dass es nur eine Frau in Mundlos’ Leben gegeben habe, die ihm wichtiger gewesen sei.
Erika habe sie geheißen und in der Schweiz gewohnt. Den Vornamen habe sie, Zschäpe, sich eingeprägt, weil er sie an »Heidekraut« erinnert habe. Mundlos und Erika hätten sich über Jahre getroffen. Mal drei Tage lang, mal knapp zwei Wochen. Manchmal sei er in die Schweiz gereist, manchmal sei Erika nach Deutschland gekommen.
Bei der Überprüfung von Zschäpes Angaben stieß das BKA schnell auf eine Rechtsextremistin namens Erika , die jahrelang in der Schweizer Neonaziszene aktiv war und enge Kontakte zum rechtsextremen »Blood and Honour«-Netzwerk pflegte. Im März 2024 durchsuchten Schweizer Ermittler die Wohnung der Frau im Kanton Zürich. In einer Zeugenbefragung im Beisein deutscher Beamter bestritt sie, Mundlos gekannt zu haben.
Lügt Erika? Oder Zschäpe?
Im Bunker
1. April 2008, Zwickau
Nach zehn Morden ziehen Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe in eine neue Wohnung. Sie liegt im ersten Obergeschoss eines Altbaus im Stadtteil Weißenborn. In ihrer alten Bleibe wären die Neonazis fast aufgeflogen. Nun bauen die drei ihre Wohnung in der Frühlingsstraße 26 in eine Art Bunker um.
Sie verstärken die Eingangstür, sichern den Keller mit einer Alarmanlage, bauen Kameras in den Türspion und in Blumenkästen.
Auf einem viergeteilten Bildschirm, so berichtet es Zschäpe der Beamtin und den Beamten des BKA, habe sie aus ihrem Zimmer jederzeit verfolgen können, was sich draußen abspielte. Wenn Mundlos und Böhnhardt weg gewesen seien, habe sie den Monitor eingeschaltet. Verließen alle drei das Haus, hätten sie einen Bewegungsmelder aktiviert, sagt Zschäpe.
Die 125 Quadratmeter waren einst in zwei Wohnungen aufgeteilt, die das NSU-Trio zusammenlegte. Wenn die drei in Urlaub fuhren, gewährten sie einer Katzensitterin nur Zugang zum unverfänglichen Teil. Die Tür zum geheimen Teil war hinter einem Schrank verborgen.
Die konspirativen Räume hätten nur wenige Vertraute gekannt, sagt Zschäpe: Matthias D., der als offizieller Mieter fungierte und dessen Name auf dem Klingelschild stand. Und das Ehepaar André und Susann E., die engsten Freunde des Neonazitrios im Untergrund.
Susann E., so schildert es Zschäpe, habe etwa von dem Überwachungsbildschirm in der Wohnung gewusst. Auch von den Banküberfällen will sie ihrer Freundin erzählt haben.
Diese und weitere Aussagen haben dazu beigetragen, dass die Bundesanwaltschaft nach Jahren doch noch Anklage gegen die langjährige Zschäpe-Vertraute erhob. In welchem Umfang sie zugelassen wird, beschäftigt noch die Gerichte. Der Anwalt von Susann E., Uwe Schadt, teilte auf Anfrage mit, die Vorwürfe gegen seine Mandantin seien unzutreffend. Sie habe weder von Raubüberfällen noch von Morden oder der Existenz einer terroristischen Vereinigung gewusst.
In der Wohnung in der Frühlingsstraße lagen laut Zschäpe stets Waffen bereit, auf dem Schrank, im Flur, im Wohnzimmer. Weitere Waffen seien in einem Geheimfach hinter einer Gipskartonwand versteckt gewesen. Für sie sei klar gewesen: Sollte jemand dem NSU »in die Quere« kommen, würden Böhnhardt und Mundlos ihn oder sie umbringen, »ohne Rücksicht auf Verluste«.
Vor ihrem Suizid hatten die Terroristen weitere Attentate vorbereitet. Sie bauten einen Holzkasten, in dem eine Waffe versteckt werden konnte, »zur unauffälligen Begehung von Morden in der Öffentlichkeit«, wie es im NSU-Urteil heißt. Böhnhardt habe den Apparat im Keller getestet, berichtet Zschäpe. Sie sei damals hinuntergegangen, weil sie Schüsse gehört habe.
Das Ende des NSU
4. November 2011
Als das Haus in der Zwickauer Frühlingsstraße in Flammen steht, macht Zschäpe sich daran, das Terrorwerk des NSU zu vollenden. Die Welt soll erfahren, dass Neonazis in Deutschland jahrelang unentdeckt morden konnten. Sie steckt die Umschläge mit den Bekenner-DVDs in den Briefkasten. Dann flieht sie.
Ihre Flucht dauerte vier Tage. Zschäpe ließ sich von André E., einem engen Vertrauten des NSU-Trios, mit dem Auto abholen und später zum Bahnhof bringen, das weiß das BKA schon. Doch nie zuvor hat sie erzählt, dass sie an jenem Tag noch einen zweiten Mann getroffen habe.
Matthias D. sei an jenem Tag als Lkw-Fahrer unterwegs gewesen; wo genau sie sich getroffen hätten, wisse sie nicht mehr. Zschäpe sagt, sie habe ihn warnen wollen, dass demnächst die Polizei vor seiner Tür stehen werde. Er war Hauptmieter der Wohnung in der Frühlingsstraße, die sie gerade abgefackelt hatte. Im Beisein von André E. habe sie Matthias D. alles erzählt: vom Tod der Uwes, auch von den Morden. Seine Gesichtszüge seien »komplett entglitten«.
Zwei Tage später, am 6. November 2011, ging Matthias D. zur Polizei. Dort erzählte er nichts von einem Treffen mit Zschäpe. Laut dem Protokoll seiner Vernehmung sagte er stattdessen, sein Kumpel André E. habe ihn angerufen und ihm von der Explosion in der Frühlingsstraße berichtet. Matthias D. gab zu, dem Trio nicht nur diese Wohnung, sondern auch schon die vorherige überlassen zu haben. Er legte der Polizei die Untermietverträge vor, Mundlos hatte sie mit falschem Namen unterschrieben.
Von der wahren Identität der drei Terroristen habe er nichts gewusst, beteuerte Matthias D. damals, auch wenn er hin und wieder bei ihnen übernachtet habe. Er habe die drei als »Max«, »Liese« und »Gerry« gekannt, sagte er, so nannten sie sich im Untergrund.
Im Dezember 2011 kam Matthias D. wegen des Verdachts der Terrorunterstützung vorübergehend in Untersuchungshaft. Vor dem Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs ließ er seinen Anwalt erklären, er habe nichts von den Verbrechen des NSU gewusst.
2022 wurde das Verfahren eingestellt. Ob Zschäpes Aussagen zu neuen Ermittlungen gegen ihn führen, ist fraglich: Etwaige Vorwürfe dürften längst verjährt sein. D. reagierte nicht auf eine Anfrage.
Auf ihrer Flucht durch Deutschland, so erzählt es Zschäpe den BKA-Beamten, habe sie darüber nachgedacht, sich vor einen Zug zu werfen. Doch Suizid, wie ihre beiden Komplizen. Beate Zschäpe entschied sich anders. Am 8. November 2011 stellte sie sich in Jena auf einer Polizeiwache .
Quelle: https://archive.ph/FCTdG