Angesichts der russischen Bedrohung geben einige Linke die Gesellschaftskritik auf – Deutschland ist nun Antifa
Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine machen Linke ihren Frieden mit Staat und Nation, manche bislang antideutsch Gesinnte fordern sogar die Aufrüstung Deutschlands. Ihre Verteidigung der herrschenden Ordnung geht inzwischen so weit, dass sie jede radikale Kritik an ihr aufgeben.
Während Russland seit drei Jahren versucht, die Ukraine zu unterwerfen, rüsten Bundesrepublik und Nato auf. Katja Woronina kritisierte illusionäre linke Friedensforderungen in Bezug auf die Ukraine (»Jungle World« 31/2025). Ewgeniy Kasakow forderte, im Krieg Russlands gegen die Ukraine keine Partei zu ergreifen, sondern für Kriegsuntauglichkeit auf beiden Seiten zu kämpfen (33/2025).
Die Gruppe Antideutsche Kommunisten Leipzig argumentierte, bürgerliche Republiken müssten auch mit militärischen Mitteln gegen aggressive Autokratien verteidigt werden (40/2025). Julian K.-Duschek forderte, das Ziel einer friedlichen Welt nicht aufzugeben, aber die Gründe ihrer derzeitigen Unmöglichkeit zu reflektieren (41/2025). Paul Simon kritisierte, dass viele Linke vor den Verhältnissen in Russland und Osteuropa die Augen verschlössen, um angesichts der russischen Aggression neutral bleiben zu können (42/2025). Jörn Schulz argumentierte, eine Armee sei zur Verteidigung demokratischer Staaten notwendig, Linke sollten sich aber eher für die Destabilisierung autoritärer Regime einsetzen (43/2025).
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Antideutsche, die die Aufrüstung Deutschlands fordern? Kommunist:innen, die sich über die Stabilität der kapitalistischen Weltordnung Sorgen machen? Es sind komische und einsame Zeiten. Auf der einen Seite eine Linke, die in ihrer Palästina-Solidarität vor lauter postkolonialer Identitätssuche den Antisemitismus und die Hamas-Kumpanei in ihren Reihen nicht sehen will und immer gewalttätiger gegen alles auftritt, was als »antideutsch« oder »zionistisch« gilt.
Auf der anderen Seite die Reste der antideutschen Strömung, aus der sich bereits vor Jahren viele von Gesellschaftskritik verabschiedet und der Verteidigung des Westens verschrieben haben, wozu nun offenbar auch gehört, seinen Frieden mit Deutschland zu schließen.
Auch wenn die Bezeichnung als »antideutsch« mittlerweile fast nur noch als Projektionsfläche für Israel hassende Linke existiert – und viele, die die Bezeichnung für sich in Anspruch genommen haben, ihren Anteil am Verfall des Begriffs hatten –, soll hier doch nochmal daran erinnert werden, warum diese Bewegung entstanden ist:
Es ging darum, sich gegen die Normalisierung Deutschlands, die mit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten 1990 an Fahrt aufnahm, zu stellen; darauf zu pochen, dass das Land der Shoah und des völkischen Vernichtungsantisemitismus kein Land wie jedes andere ist und man den Deutschen auch weiterhin nicht über den Weg trauen darf – was sich ja bald darauf in den Pogrom- und Baseballschlägerjahren zu Beginn der neunziger Jahre bestätigte.
Die Antinationalen wandten sich gegen jede, auch in der Linken bis dato beliebte, Affirmation von Volk und Nation, die Antideutschen besonders gegen die deutschen Varianten davon. »Nie wieder Deutschland« war die gemeinsame Losung. Man wollte Deutschland abschaffen oder es zumindest schwach und international gefesselt wissen.
Die Gruppe Antideutsche Kommunisten Leipzig (AKL) hingegen plädiert nun für ein starkes Deutschland, das seine »Pflichtschuldigkeit« bei der Verteidigung Europas erfüllt. Sie fordert die Wiedereinführung der Wehrpflicht und eine stärkere geopolitische Rolle für das Land. Sie will Deutschland militärisch und politisch aufrüsten, und das in einer Zeit, in der die rechtsextreme AfD in mancher Umfrage zur Bundestagswahl bereits als stärkste Partei dasteht und in absehbarer Zukunft die Befehlsgewalt über die Bundeswehr innehaben könnte.
Dies ist kein Rezept gegen die »autoritäre Formierung«, sondern gehört zu dieser. Eine »antifaschistische Volksfrontpolitik« mit »der demokratischen Bürgerschaft«, wie im Text gefordert, würde zudem bedeuten, sich auch mit den reaktionären Kräften der bürgerlichen Mitte zusammenzutun, die derzeit im Windschatten der AfD die autoritäre Formierung vorantreiben.
Der Beitrag der AKL steht stellvertretend für eine Entwicklung im untergehenden Milieu der Antideutschen, die sich seit der Rückkehr des Kriegs nach Europa mit dem russischen Angriff auf die Ukraine verstärkt beobachten lässt: Deutschland ist nicht mehr der »Hauptfeind« und eigentlich auch gar nicht so schlimm, die Nation ist, wenn es um die Ukraine geht, kein Objekt linker Kritik mehr, sondern mitsamt ihrer Kultur schützenswertes Kollektivsubjekt, und der neue Hauptfeind steht in Russland, von wo der Faschismus an die Tür Europas klopft.
Die »Wiedergutwerdung der Antideutschen«
Dadurch entstehen ganz neue Möglichkeiten: Man kann die Aufrüstung Deutschlands fordern, sogar öffentlich die eigene Bereitschaft erklären, fürs Vaterland die Waffe in die Hand zu nehmen, und das als antifaschistische Haltung verkaufen – schließlich sind »wir« ja nun die Alliierten in spe. Die AKL wollen gar alle jungen Deutschen zum antifaschistischen Wehrdienst zwingen. Die Notwendigkeit einer Wehrpflicht stellt Jörn Schulz in Frage, aber nicht die einer schlagkräftigen deutschen Armee für »die Verteidigung der Demokratie gegen eine rechtsextreme Bedrohung, derzeit vor allem aus Russland«. Dabei ist die Bundeswehr selbst mit Nazis durchsetzt und die rechtsextreme Bedrohung besteht derzeit vor allem im Inneren. Aber: Deutschland ist nun Antifa.
Diese Umdeutung funktioniert aber nur, wenn man behauptet, Deutschland sei jetzt ein ganz normales Land und die Deutschen seien ein ganz normales Volk, und man hierfür die bis heute einflussreiche völkische Gemeinschaftsvorstellung als Grundlage der deutschen Nation unsichtbar macht. Auf entlarvende Weise zeigt sich dies in der französischen Überschrift des Textes der Gruppe AKL: »Aux armes, citoyens!« Für das deutsche Volks- und Gesellschaftsverständnis war aber eben nicht der republikanische Citoyen konstitutiv, sondern – in expliziter Abgrenzung vom französischen Staatsbürger – der völkisch denkende und definierte Untertan.
Die Normalisierung der deutschen Nation, wie sie solchen Wortmeldungen unauflöslich innewohnt, hat immer zur Voraussetzung, alles, was Deutschland und die Deutschen Singuläres verbrochen hatten, als bewältigt zu historisieren; zu behaupten, der Nationalsozialismus habe keinerlei Einfluss mehr auf das Bewusstsein, die Konstitution und die Wirtschaftskraft des geläuterten Deutschlands. Das ist gemeinhin das, was man als Schlussstrichgebaren bezeichnet, oder in diesem Fall, um es mit den Worten Eike Geisels zu sagen, die »Wiedergutwerdung der Antideutschen«.
Begründetes Misstrauen
Der Wunsch, den Menschen in der Ukraine gegen die die russische Kriegsgewalt beizustehen, ist bloß menschlich, und ein nachvollziehbares – interessanterweise von den AKL nicht angebrachtes – Argument wäre, dass Deutschland, als Land der Täter, in dessen Namen Millionen Menschenleben auf dem Gebiet der Ukraine ausgelöscht wurden, hierbei besonders in der Pflicht stehe. Waffenlieferungen kann aber nur fordern, wer kein Problem mit deutscher Rüstungsindustrie hat, und das ist immer noch etwas ganz anderes als die Forderung, Deutschland wieder kriegstüchtig zu machen.
Es ist eben noch keine 100 Jahre her, dass deutsche Soldaten ihren völkischen Vernichtungsfeldzug im Osten Europas begannen. So hat es nichts mit falsch verstandenem Pazifismus zu tun, wenn man darauf hinweist, dass man selbst diesen Massenmord nicht als verjährt betrachtet und es ein begründetes Misstrauen gibt, Deutschland sowohl militärisch als auch geopolitisch wieder zu alter Stärke zu verhelfen. Die deutschen Zustände liefern hier wahrlich keinen Grund zur Entwarnung.
Für solche Zweifel ist aber in der Debatte kaum Platz, es dauert meist nicht lange, bis man als »Putin-Versteher« oder Unmensch, dem das Leid der Menschen in der Ukraine egal sei, diffamiert wird. Dabei ist das, was abwertend als »Äquidistanz« kritisiert wird, bloß die Einsicht, dass die radikale Linke in geopolitischen Konflikten nur verlieren kann.
Die nachgeschobenen Sätze, dass man ja um die Gewalt der westlichen Friedensordnung wisse und eigentlich auch Staat und Nation ablehne, sind nicht mehr als Schutzbehauptungen, wenn sich dieses angeblich noch vorhandene gesellschaftskritische Wissen nicht in der Analyse wiederfindet, wenn diese, um realpolitisch anschlussfähig zu sein, sich jeder Kritik entledigt.
Sich ins Handgemenge begeben
Was interessiert es die Macht, was kleine linksradikale Gruppen zur europäischen Außen- und Sicherheitspolitik zu sagen haben? Geopolitik ist im Kapitalismus ein Spiel zu unwürdigen wie unmenschlichen Bedingungen. Wer hier mitmachen will, muss die Spielregeln akzeptieren, und das geht nur unter der Aufgabe jeder radikalen Kritik. Jene Bedingungen zu verändern, ist daher die Grundmotivation linker Politik.
Da dies in absehbarer Zeit nicht auf der Tagesordnung steht und es konkretes Leid konkreter Menschen gibt, was man bis dahin zumindest abmildern will, ist es richtig, sich ins Handgemenge zu begeben. So könnte man ukrainische (und russische) Deserteure oder feministische Projekte vor Ort unterstützen, den rassistischen Diskurs gegen ukrainische Bürgergeldempfänger:innen hierzulande bekämpfen oder sich, wenn man die Gefahr einer russischen Invasion hierzulande tatsächlich für realistisch hält, darüber Gedanken machen, wie man dann sich und seine Freund:innen schützt – oder gemeinsam Pläne schmieden, wohin man abhaut.
Das ist aber etwas grundlegend anderes, als Geopolitik zu spielen, Nationen und Staaten – statt Menschen – verteidigen zu wollen und sich Sorgen über die Weltordnung zu machen, die für den Großteil der Menschheit nicht Frieden und ein glückliches Leben, sondern Ausbeutung, Armut und Gewalt bedeutet. Das Wissen darüber, dass die bürgerlich-demokratische Ordnung negativ aufgehoben werden kann, dass es noch Schlimmeres als den unerträglichen Normalzustand gibt, zwingt nicht dazu, die herrschende Ordnung zu verteidigen.
Unfairerweise wird genau das im Text der AKL den »Streiter:innen der Pariser Kommune und der Räterepublik« (auch der russischen?) unterstellt, als Beispiele »des bewaffneten Kampfs für einen Staat, den es trotz Kritik gegen das Schlechtere zu verteidigen gilt«. Dabei waren beides revolutionäre Ereignisse, die gegen den Status quo gerichtet waren, es ging in ihnen darum, den historischen Moment zu nutzen, um etwas Neues, Besseres zu schaffen.
Wer hingegen das Bestehende affirmiert und seine Überwindung bloß als abstrakte Option für eine ferne Zukunft bewahrt wissen will, hat sich mit den Verhältnissen arrangiert – und mit Deutschland, wenn man das Land aufrüsten will – und nicht mehr abschaffen.