Gedenkpolitik und Nahostkonflikt: Von Gaza nach Neuengamme

Die Gedenkorte in Deutschland werden zunehmend zum Schauplatz des Nahostkonflikts. Das gefährdet eine ohnehin fragile Erinnerungskultur.

Es ist eines dieser unzähligen Handyvideos, die im Netz auftauchen und nach wenigen Sekunden vom nächsten abgelöst werden. Der Inhalt ist schnell vergessen, doch dieses hier prägt sich durch einen Slogan besser ein: „Deutschland, Land der Lügen“, tönt es aus den verwackelten Aufnahmen.

Sie zeigen Jugendliche im nächtlichen Dunkel vor einem „Stolperstein“, der an einen jüdischen Emigranten erinnert. Aufgebracht schlägt einer auf das Mahnmal. In der Messingplakette im Boden ist das Fluchtziel „Palästina“ eingraviert. Für den wütenden Sprecher ein klarer Beweis, dass es dieses Land einst im Nahen Osten gegeben habe – und nicht Israel.

Nicht immer bleibt es bei so einer kurzen Social-Media-Erregung. Auf das Mahnmal für die Berliner Kindertransporte wurden schon die Umrisse der Al-Aksa-Moschee geschmiert. Jüngst fand sich auf dem Gelände der Hamburger KZ-Gedenkstätte Neuengamme in großen Lettern „From the River to the Sea“ gesprüht, die Parole, hinter der die Palästina-Solidarität Israel zum Verschwinden bringen will.

Der Ort ist exponiert, wer hier sprüht, handelt gezielt. Von der Gedenkstätte wurde Anzeige gestellt und eine kurze Notiz veröffentlicht. Ohne Bild, um der Aktion nicht unnötig Reichweite zu verschaffen, heißt es auf Nachfrage.

Wie viele Gedenkorte hat man auch in Neuengamme Erfahrung mit Angriffen jeder Art. Es gebe etwa Jugendliche, die sich beim Hitlergruß fotografierten. Erst im April hatte der Gedenkstättenleiter Oliver von Wrochem in einem Interview von zunehmenden Provokationen vor und auf dem Gelänge berichtet.

Zugleich schmähe die AfD die Einrichtung, sie betreibe „Schuldkult“. Die aktuelle Schmiererei zeigt jedoch, dass das Problem nicht nur bei der extremen Rechten beheimatet ist. In Hamburg wurden auch schon Plakate zu Veranstaltungen über NS-Verbrechen mit Palästina-Parolen beschmiert oder Stolpersteine mit roter und grüner Farbe übersprüht.

Seit dem 7. Oktober 2023 häufen sich solche Meldungen aus dem ganzen Land. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um Mahnmale handelt, die nichtjüdischer Opfergruppen gedenken und bei denen sich eine Verbindung mit Israel noch schwieriger gestaltet als bei den Orten der Shoah.

Das Erinnern scheint dem Kampf für Gaza insgesamt im Weg zu sein, weshalb auch die Phrase von der „German Guilt“ weitverbreitet ist, die auf Palästina gemünzte Variante der „Schuldkult“-Behauptung.

In Frankreich vermutet man russische Provokateure hinter antisemitischen Schmierereien

Selbst die Gedenkstätte Buchenwald wurde schon zum Austragungsort des Nahostkonflikts. Aus Anlass des 80. Jahrestages der Befreiung des Lagers hatte die Sprecherin eines internationalen Jugendprojekts plötzlich über Gaza gesprochen und mit der Parole „No Paseran“ eine Brücke vom spanischen Bürgerkrieg in den Nahen Osten geschlagen.

Die Gedenkstättenleitung distanzierte sich umgehend von dieser Instrumentalisierung, zuvor war sie selbst wiederum seitens der israelischen Botschaft unter Druck geraten, der der ebenfalls eingeladene Philosoph Omri Boehm zu regierungskritisch war.

Nicht immer wird die politische Herkunft der Attacken deutlich. Im hessischen Babenhausen wurde 2024 der Gedenkstein für die von den Nazis vernichtete jüdische Gemeinde mit roter Farbe übergossen. Über den Antisemitismus hinaus blieb der weitere weltanschauliche Hintergrund unklar.

Im niedersächsischen Ahlem verschandelten Unbekannte eine Gedenkwand für jüdische Deportierte mit Aufklebern, die israelfeindlich, propalästinensisch und neonazistisch waren. Die Grenzen sind auf diesem Terrain fließend, auch international.

In Frankreich kam es regelmäßig zu Schändungen mit Gaza-Bezug, etwa am Shoah-Mahnmal in Paris. Eine Reihe anderer antisemitischer Schmierereien war französischen Behörden zufolge auf Provokateure zurückzuführen, die im Auftrag Russlands mit Davidstern-Schmierereien an jüdischen Einrichtungen Unruhe stiften sollten.

Andere üben sich in Aneignung und Umdeutung des Gedenkens. Bei einer großen Frankfurter Palästina-Demonstration im August filmten sich Aktivisten dabei, wie sie „im Namen der Demonstration“ Blumen am Mahnmal neben dem Jüdischen Museum ablegten. Es sei traurig, sagt ein Sprecher mit Hamas-grüner Kufija, dass sie „als Palästinenser“ zeigen müssten, die Geschichte „besser verstanden“ zu haben.

Man wolle ein „extrem deutliches Zeichen“ setzen, und spreche daher „mehr im Namen“ der Shoah-Opfer als jene, die heute in Deutschland das Leid nutzten „um die Menschen in Gaza abzuschlachten“.

Die Palästinenser oder gleich alle Muslime, so die Botschaft, sollen als neue Juden gesehen werden – und die Israelis als die neuen Nazis, mit den alten Nazis, den Deutschen, an ihrer Seite. Über die Verbrechen der Hamas an Israelis und der palästinensischen Bevölkerung fiel kein Wort.

Das Pathos dieses historischen Enteignungsversuchs einer konkreten Verfolgungserfahrung wurde allerdings durch hasserfüllte Parolen und die Präsenz zahlreicher Islamisten auf der Demonstration konterkariert. In dieselbe Kerbe hieb die Berliner Palästina-Aktivistin Yasemin Acar, die kürzlich zu Protokoll gab, keinen Unterschied zwischen Hamas und den jüdischen Aufständischen des Warschauer Ghettos machen zu wollen.

Eine zentrale Meldestelle für die Gedenkstätten mit klaren Kategorien von Angriffen wäre wünschenswert

All das zeugt von der schwierigen Situation, in der sich Gedenkorte befinden. Zu den Angriffen von rechts, mittlerweile mithilfe der AfD zusätzlich in existenziell bedrohlichen Sparvorgaben, kommt nun der Krieg in Gaza hinzu. Auf Seite der Betroffenen spürt man das.

Seit 2021 gibt es den Verband der Gedenkstätten in Deutschland, einen bundesweiten Zusammenschluss von Gedenkorten. Dessen Sprecher Jonas Kühne berichtet von wiederholten Angriffen und Vandalismus im Kontext des Nahostkonflikts.

Allerdings führe der Verband keine eigene Statistik, entsprechende Daten würden dezentral und nach unterschiedlichen Kriterien von den Polizeibehörden der Länder oder den Einrichtungen selbst gesammelt. Eine zentrale Meldestelle für die Gedenkstätten mit klaren Kategorien wäre wünschenswert.

Als Vorbild nennt Kühne die Berliner Monitoring-Stelle für Antisemitismus Rias. Mangels hauptamtlicher Strukturen könne sein Verband das nicht leisten. Gedenkstättenarbeit sei oft genug wirtschaftlich prekär und niemand damit glücklich, nun auch noch als Statthalter einer kaum näher bestimmten „Staatsraison“ gesehen zu werden. Man bemühe sich vielmehr, offene Lernorte zu schaffen.

Wenig hilfreich seien dabei Vorwürfe, wie sie der Genozid-Forscher A. Dirk Moses aus den USA erhoben habe. Dessen Polemik, das deutsche Gedenken unterliege einem „Katechismus“ von vergangenheitspolitischen „Hohepriestern“, zeuge von grober Unkenntnis der pädagogischen Praxis vor Ort.

Tatsächlich wird bei der immer wieder erhobenen Kritik der NS-Erinnerung als zu staatstragend vergessen, dass diese oftmals gegen die Institutionen und gesellschaftlichen Mehrheiten durchgesetzt werden musste.

Die heutige Landschaft an Gedenkorten ist noch sehr jung, neben Überlebenden und deren Angehörigen waren es meist örtliche Bürgerinitiativen oder Geschichtswerkstätten, die mit der Aufarbeitung begonnen hatten. Nicht selten bemühten sie sich auch um die kolonialgeschichtlichen Verwicklungen ihrer Städte und örtlichen Unternehmen und stießen dabei auf wenig Gegenliebe. Sie alle sind jetzt von den aktivistischen Epiphänomenen eines komplexen internationalen Konflikts betroffen.

Der Prozess der Aneignungen und Umdeutungen setzt sich auch auf anderen Ebenen fort. A. Dirk Moses hat kürzlich als Fortführung seines Kampfes gegen die Erinnerungskultur einen Essay publiziert, den er in Anlehnung an Theodor W. Adorno „Erziehung nach Gaza nach der Erziehung nach Auschwitz“ nannte, ein Text, der sich durchaus als akademischer Vandalismus bezeichnen lässt.

Moses beklagt sich darin, in Frankfurt Bilder der jüdischen Frankfurterin Anne Frank gesehen zu haben, hingegen keine des palästinensischen Mädchens Hind Rajab, das in Gaza durch israelische Soldaten getötet wurde. Für ihn ist das deutscher Eigennutz, der die Palästinenser unsichtbar mache, damit „Juden sich sicher fühlen, sodass Annes heranwachsen und schließlich den Jochens und Katrins für den Holocaust mit dem Geschenk der Freundschaft Absolution gewähren können“.

Das große Verbrechen des Westens, unter das auch die Shoah einzuordnen sei, ist der „Siedlerkolonialismus“. Mit der Debatte um den Antisemitismus als Kern der NS-Ideologie sei es den christlichen deutschen „Machthabern“ jedoch gelungen, dieses Moment vom Holocaust zu trennen, „um ein völlig anderes, größeres Übel zu konstruieren“.

Letztlich steht jeder, der sich in Deutschland nicht vorbehaltlos für Palästina und gegen Israel positioniere, in der Tradition der Nazis: „Die Mischung aus Kälte und Selbstgerechtigkeit – Anständigkeit im Gewand der Härte – ist exemplarisch für einen spezifisch deutschen Typus.“

Die Hamas, das hat nicht erst der 7. Oktober gezeigt, ist kaum das „mögliche Andere“, das Marcuse beschwor

Vordergründig geht es Moses um die Frage einer universellen und einer partikularen Lehre aus der Shoah, wofür er in sehr freier Interpretation Adorno bemüht. Der geforderte Universalismus, den sich auch die Frankfurter Gaza-Aktivisten auf die Fahne schreiben, lässt die jüdischen Opfer in einem universellen verschwinden.

So legitim der Anspruch ist, dass niemand mehr Opfer werden soll, wird damit die spezifische Erfahrung des europäischen Judentums unterschlagen. Folgerichtig bleiben Akteure jenseits von Israel unsichtbar, Katar, Iran und Hisbollah, die arabischen Staaten sowie die Hamas, die den Krieg ausgelöst hat, und die seit Jahrzehnten ihre Interessen auf dem Rücken der Zivilbevölkerung durchsetzen.

Durch diese blinden Flecken und die Aneignung des jüdischen Opfers bewegt sich ausgerechnet der Diskurs antikolonialer Kräfte selbst in kolonialer Logik.

In der Kritischen Theorie wurde die Frage nach der universalistischen Konsequenz der Massenvernichtung tatsächlich intensiv diskutiert, allerdings unter Vorzeichen, die bei Moses verschwinden.

Wenn Adorno mit Verweis auf Auschwitz, Hiroshima und Vietnam vor einem „Rückfall in die Barbarei“ warnte, wandte er sich gegen die Fortzeugung von Gewalt in der Zivilisation und wollte kaum die einzelne Erfahrung einebnen.

Vor allem war ihm der „hohle Ton“ des Märtyrertums und erzwungener einseitiger Parteinahme suspekt, die in seiner Zeit von einer antiimperialistischen Linken ausging und nun in Gestalt der Gaza-Proteste wieder auflebt.

Als Herbert Marcuse, der in Moses’ Text neben Adorno als Kronzeuge dienen muss, die Kriegsverbrechen amerikanischer Soldaten in Vietnam in einem Satz mit Auschwitz verband, sprach er eigentlich über das Scheitern, nach 1945 eine andere Welt zu schaffen, in der Gewalt kein Normalzustand sei.

Diesen Faden aufzugreifen, würde jedoch bedeuten, neben der exzessiven Kriegsführung Israels auch die Gegenseite in die Kritik einzubeziehen. Die Hamas, das hat nicht erst der 7. Oktober gezeigt, ist kaum das „mögliche Andere“, das Marcuse beschwor.

Ihre Weltanschauung und Kampfform sind selbst Elemente einer Wirklichkeit, die Kritische Theorie zu überwinden trachtete. All das klammert Moses aus, der neben der jüdischen Opfererfahrung nun auch eine jüdisch geprägte Philosophie-Tradition instrumentalisiert.

Es ist nur konsequent, dass dieser Aktivismus das Massaker vom 7. Oktober beschweigt, ist es doch Zeichen dafür, dass nicht nur historische Juden, sondern auch zeitgenössische Israelis Opfer sein können.

Diese fragwürdige Form der Solidarität führt unweigerlich zu Angriffen auf die ohnehin prekäre Gedenkpraxis. Mangels realer Fortschritte im Nahen Osten, so scheint es, hat sich die Palästina-Bewegung die deutsche Erinnerungskultur als ein leichteres Ziel ausgesucht.

Deren Zerstörung hilft zwar niemandem in Gaza oder der Westbank, dafür aber wird ein Fünkchen historisch-kritischer Aufklärung ausgetreten, eine Spur des „Anderen“, dessen Existenz für manche offensichtlich unerträglich ist.