Leipzigerin erlebt Nazi-Überfall 2016: „Ich dachte, die prügeln uns tot“

Vor fast zehn Jahren randalieren mehr als 200 Rechtsextreme einer Nazi-Demo in Geschäften, Bars und Kneipen in der Wolfgang-Heinze-Straße in Leipzig-Connewitz. Sie schlagen Läden kurz und klein, zünden Autos an und verletzen Menschen. Eine Barkeeperin erlebt das alles damals mit, versucht verzweifelt, den Nazi-Überfall auf die Bar aufzuhalten. Bis heute leidet sie unter den Folgen des brutalen Angriffs.
11. Januar 2016: Es ist kühl an diesem Tag in Leipzig. Maria*, die anonym bleiben will, arbeitet wie auch sonst alleine in der Bar Zwille als Tresenkraft in Leipzig-Connewitz. Sie erinnert sich, dass an diesem Tag eine Demo des fremdenfeindlichen Legida-Bündnisses in der Innenstadt war, gegen die linke Gegendemonstranten protestierten.
*Der Name ist MDR SACHSEN bekannt.
Schwarzgekleideter Mob zieht randalierend durch Straßen
Auf der Straße und in der Bar sei es ruhig gewesen. „Es saßen zwei Männer an der Bar und ein Pärchen weiter hinten“, sagt die 34-Jährige. Sie sei noch in ein Telefonat vertieft gewesen, als es vor dem großen Schaufenster der Bar auf einmal sehr laut geworden sei. „Wir haben gesehen, dass da ein schwarzer Mob kommt. Es sah aus wie im Film.“
Die Straße habe sich in Nebel gehüllt, Bengalos und Feuerwerkskörper seien geflogen. „Es hat richtig laut geknallt“, erzählt Maria. Die schwarze Masse habe „Hooligans! Hooligans!“ gerufen. Sie sei schon auf vielen Demos gewesen, sagt die Leipzigerin. „Aber das hatte einen ganz anderen Charakter, weil sie im Chor geschrien haben, die Straße hinauf marschiert sind und mit Feuerwerkskörpern auf Autos geschossen hatten.“
Panische Angst ums eigene Leben
Dann habe der Demo-Zug die „Zwille“ erreicht. Ein Mann mit Sturmhaube habe direkt reinstürmen wollen. Sie und zwei weitere Gäste hätten sich gegen die Tür gestemmt, während von außen zwei Männer dagegen traten, schildert Maria. Die Rechtsextremen hätten dann ein Werbeschild als „Rammbock“ genutzt, um gegen die Scheibe zu schlagen. „Ich dachte, die kommen hier rein und prügeln uns tot.“ Dann auf einmal: Ein Riss in der Scheibe. „Was kann ich mir nehmen, um mich zu verteidigen?“, habe sie gedacht.
Gäste retten sich über Toilettenfenster ins Freie
Marias Stimme wirkt aufgeregt, während sie spricht. „Ich habe schwitzige Hände und mein Herz schlägt schneller, wenn ich das erzähle.“ Damals hätten sich die Gäste über das Gäste-WC ins Freie gerettet, während sie bei ihrer Chefin Alarm geschlagen habe, erzählt Maria weiter. Das Loch in der Tür sei immer größer geworden. „Durch dieses haben sie von draußen Pfefferspray hineingesprüht. Ich konnte gar nichts mehr sehen.“
Hustend habe sie sich der Tür genähert und gemerkt: Es war vorbei. Die rund 200 rechtsradikalen Demonstrierenden seien in einer Nebenstraße von der Polizei eingekesselt und nach und nach abgeführt worden. Später habe Maria erfahren, dass die Angreifer teilweise mit Äxten und Baseballschlägern auf die Schaufenster eingeschlagen und Geschäfte bis zur Unkenntlichkeit zerstört hatten. Maria kritisiert, dass nach dem Vorfall keine Hilfe oder Betreuung für die Opfer angeboten worden sei.
Unangenehmes Gefühl beim Polizeigespräch
Doch danach war der Schrecken für Maria nicht vorbei. Sie habe eine Zeit lang weiter in der Bar gearbeitet, weil sie Geld für ihr Studium brauchte. Und: Weil sie Zuspruch und Mitgefühl von den Gästen und ihrem Team bekam. Aber sie habe bei der Polizei aussagen wollen, um den Vorfall aufzuklären. „Schon da habe ich mich extrem unwohl gefühlt, weil sie einem kein gutes Gefühl gegeben haben“, erinnert sich Maria an das erste Polizeigespräch.
Die Polizisten hätten ihre Angst nicht ernst genommen, meint sie. „Sie hatten kein Mitgefühl für meine Situation. Es war eine kühle Stimmung.“ Aus ihrer Sicht war es ein Fehler, sich nicht schon damals Beistand für das Polizeigespräch zu holen.
Vor Gericht: Den Angeklagten in die Augen schauen müssen
Beistand hatte sie auch nicht, als sie vor Gericht aussagte, erinnert sich Maria. „Da waren auf einmal fünf Angeklagte, die hereingeführt wurden. Als ich die Gesichter sah, wurde es richtig schlimm.“ Mit den Gesichtern der Täter sei ihr erst bewusst geworden, was passiert war. Die Folge: Große Angst allein nach Hause zu gehen oder vor kleineren Gruppierungen. „Ich hatte minutenweise Blackouts, weil ich Panik hatte.“
Sie habe sich psychologische Hilfe und Unterstützung der Opferhilfe Leipzig gesucht, sagt Maria. Bei einer weiteren Zeugenaussage vor Gericht habe sie sich wohler und sicherer gefühlt, weil eine professionelle Opferbegleitung mit dabei war. Doch die Anspannung vor den Gerichtsterminen sei geblieben. Ihr Arzt habe schließlich bei ihr eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert. Von weiteren Zeugenaussagen sei Maria freigestellt worden.
Solche Gewalterfahrungen haben noch Jahre danach Auswirkungen auf Betroffene, erklärt die Stellvertretende Landesvorsitzende und Landespräventionsbeauftragte des Weißen Rings Sachsen, Mandy Hennig. „Mit so einem körperlichen Trauma geht oft eine seelische Belastung einher, die ganz lange anhalten kann.“
Schon leichte Reize, wie etwa Geräusche oder Gerüche, können an die Tat erinnern und zum Beispiel Depressionen, Angst- oder Schlafstörungen auslösen, verdeutlicht Hennig. In besonders schlimmen Fällen könnten Menschen nicht einmal mehr am sozialen Leben teilnehmen.
Entscheidend nach einer Gewalterfahrung sei, dass es schnelle ambulante Hilfe gibt, betont Hennig. Sie nennt dabei die Trauma-Ambulanzen als Anlaufstellen. „Im besten Fall können dort Betroffene sehr schnell in eine therapeutische Arztbehandlung gehen, um dort aufgefangen zu werden.“
Starkes Unwohlsein: Bewusst Veranstaltungen meiden
Der Überfall wirkt bei Maria seit Jahren nach: „Es fühlt sich noch immer furchtbar schrecklich an. Ich weiß nicht, wie Menschen auf die Idee kommen, so etwas zu machen“, erklärt Maria und fügt hinzu: „Wie viel Hass in einem Menschen stecken muss, um so zu sein, ist mir komplett unverständlich.“
Bei Kundgebungen, Demonstrationen, Gruppen schwarz gekleideter Personen oder Fußballfans werde ihr heute immer noch schlecht und schwindelig, schildert Maria und: „Ich bekomme das Gefühl, mich gleich verstecken zu wollen.“ Dabei sei es ihr immer wichtig gewesen, ihre Meinung auf Demos kundzutun. Dennoch meidet sie nun solche Veranstaltungen.
Welche Strafen erhielten die Angeklagten?
Im Zusammenhang mit den Ausschreitungen am 11. Januar 2016 sind bisher 217 Strafverfahren gegen Beschuldigte geführt worden. Das teilte die Staatsanwaltschaft Leipzig auf Anfrage von MDR SACHSEN mit. In den meisten Fällen wurden die Angeklagten wegen Landfriedensbrüchen schuldig gesprochen. Erwachsene Straftäter seien wegen schweren Landfriedensbruchs verurteilt worden.
Wie aus einer Antwort des Justizministeriums auf die jüngste Kleine Anfrage der Linken-Politikerin Juliane Nagel hervorgeht, sind von den 217 Angeklagten 209 rechtskräftig verurteilt. Nagel hatte in den vergangenen Jahren regelmäßig Kleine Anfragen an das Justizministerium zum Verfahrensstand gestellt.
Großteil der Verurteilten muss Haftstrafe nicht antreten
Ein Großteil der Vefahren erfolgte über das Amtsgericht Leipzig. Wie das Amtsgericht auf Anfrage bestätigt, wurde der größte Teil der verhangenen Freiheitsstrafen zur Bewährung ausgesetzt. Lediglich zwei Personen mussten demnach ihre Haftstrafen antreten.
Unter Berücksichtigung weiterer Straftaten wurde laut Staatsanwaltschaft ein Angeklagter zu drei Jahren und sechs Monaten Haft, ein weiterer Angeklagter zu zwei Jahren und sechs Monaten nach Jugendstrafrecht verurteilt. Ein Teil der gesamten Verurteilten musste Geldstrafen zahlen.
Linken-Politikerin Nagel kritisiert „teils irritierende Verfahren“
Nagel kritisierte zu Beginn des Jahres die aus ihrer Sicht „trägen“ und „teils irritierenden Verfahren“. Die Verfahren seien meist nach dem gleichen Schema abgelaufen, sagte die Linken-Politikerin: „Die Angeklagten machten halbherzige Einlassungen und behaupteten, nichts von dem geplanten Angriff gewusst zu haben. Dafür wurden sie mit milden Strafen ‚belohnt‘.
Das Gros der Beteiligten habe ausgesagt, während des Aufmarschs ganz hinten mitgelaufen zu sein, eigentlich nichts mit dem Angriff zu tun gehabt oder gar mit der rechten Szene gebrochen zu haben. Dazu sagte Nagel: „Unglaubwürdig ist dies vor dem Hintergrund, dass viele von ihnen zu organisierten Strukturen gehörten. Keiner sagte zu Hintergründen des Angriffs aus.“
Gesamtschaden von 113.000 Euro
Einige Verfahren sind nach Angaben der Staatsanwaltschaft Leipzig noch nicht abgeschlossen. Die Behörde beziffert den Gesamtschaden durch die Ausschreitungen auf rund 113.000 Euro.
Sich die eigene Zuversicht nicht nehmen lassen
Mit dem Blick auf die Urteile sagt Maria: „Zu wissen, dass diese Leute draußen noch herum laufen, macht es nicht besser.“ Aber sie sagt auch mit entschlossener Stimme: „Ich möchte mir nicht durch so ein negatives Ereignis etwas kaputt machen lassen wollen.“ Sie gehe gestärkt aus dieser Erfahrung: „Ich lasse mich von so etwas nicht unterkriegen!“