Proteste, Anträge, Fake-News: Wie Windkraft-Gegner Sachsens Lokalpolitik aufmischen

Friedrich Merz findet sie hässlich. Alice Weidel will sie am liebsten abreißen: Die Diskussion über Windräder wird emotional geführt. Auch in den Kommunen. In Sachsen sollen neue Anlagen entstehen. So mancher Politiker fühlt sich unter Druck gesetzt.

Guido Mai weiß, dass ihm ein schwieriger Abend bevorsteht. Als der Bürgermeister von Belgershain die Ratssitzung in seiner Gemeinde eröffnet, ist der Saal proppenvoll. Auf der Tagesordnung steht ein Thema, das die Region derzeit bewegt und zerreißt wie kaum ein anderes – die Windkraft.

Konkret geht es um ein Bürgerbegehren, das sich dagegen ausspricht. Die Gemeinde, so der Vorstoß, soll verpflichtet werden, künftig alle Planungen und Baumaßnahmen zu verweigern. Sie soll sogar rechtlich dagegen vorgehen. Das kleine Belgershain, fordern die Unterstützer, soll im Zweifel gegen eine Energie-Politik klagen, die in Brüssel und Berlin längst beschlossen wurde. Und die in Sachsen eigentlich schnell umgesetzt werden soll.

Es geht Kritikern um Vögel, Aussicht – aber auch um Falschbehauptungen

300 Menschen haben das Bürgerbegehren unterschrieben, mehr als nötig. Eine wichtige Hürde für einen Bürgerentscheid scheint also genommen zu sein. Bürgermeister Mai wird an diesem Abend trotzdem seine Zustimmung verweigern. Als Einziger. Unter anderem, weil er den Inhalt für rechtswidrig hält. Man wird ihm deswegen vorwerfen, undemokratisch zu handeln.

Das, was sich an diesem Abend in Belgershain abspielt, ist exemplarisch für die Auseinandersetzungen, die gerade überall im Land geführt werden: Sachsen will Tempo machen beim Ausbau der Erneuerbaren Energien. Der regionale Planungsverband ist gerade dabei, Vorrangflächen für Windräder festzulegen. Ende März werden erste Pläne veröffentlicht. Die Zustimmung für den Ausbau ist da, auch in Sachsen. Das zeigen Studien.

Doch je konkreter alles wird, umso lauter melden sich auch Kritiker und Gegner zu Wort. In vielen Regionen haben sich Bürgerinitiativen gegründet. Sie nennen sich „Gegenwind“, organisieren Proteste und versuchen, Einfluss auf die Kommunalpolitik zu nehmen. Denn die hat jetzt schon die Möglichkeit, eigene Flächen auszuweisen, sich mit potenziellen Investoren zu einigen.

Roswitha Brunzlaff hat gegen die Corona-Schutzmaßnahmen demonstriert. Jetzt gehört sie zu den zentralen Figuren, die sich in Belgershain gegen Windräder engagieren. Sie war früher bei den Linken. Jetzt sitzt sie für die AfD im Gemeinderat. Bei der Sitzung hat sie sich an den Kopf des Tisches platziert, ihre Unterstützer im Rücken.

„Die Windindustrie“, sagt sie, habe nicht die „Manpower“, alle Projekte gleichzeitig voranzubringen. „Sie bauen dort zuerst, wo am wenigsten Widerstand der Bevölkerung ist. Es ist wichtig, dass wir zeigen: Wir wollen die von der Regierung verordnete Energie-Politik nicht. Wir wollen ein Umdenken“, sagt Brunzlaff. Sie bekommt an diesem Abend viel Jubel und Applaus.

Diese Zeitung hat Brunzlaff gefragt, was sie und die anderen umtreibt. Die Fragen beantwortet sie schriftlich: Es geht um Vögel und Insekten, eine gestörte Aussicht und Lärmbelästigung, den mangelnden Netzausbau. Einiges ist erstmal verständlich, vieles aber auch getrieben von Falschbehauptungen, die die Bürgerinitiative auch im Internet verbreitet: Windräder würden Dürre und Trockenheit vorantreiben, setzten toxische Chemikalien frei, die Boden und Menschen vergiften. Es bestehen gesundheitliche Beeinträchtigungen durch Infraschall. Es klingt, als seien Windräder nicht nur ein Störfaktor, sondern zudem eine Gefahr für Leib und Leben.

Für Michael Heckel sind sie vor allem Alltag. Er wohnt in Sitten, einem kleinen Dorf bei Leisnig, knapp 400 Einwohner. Direkt hinter dem Haus stehen mehrere Anlagen auf dem Feld. Ihre Flügel drehen sich langsam im Wind. Es rauscht ein bisschen: „Das ist die Autobahn“, sagt Heckel. Er weiß, worauf Kritiker achten.

Heckel hat die Windkraft nach Sitten geholt. Und das zu einer Zeit, in der sich noch wenige über die Klimakrise Gedanken machten, der Ausstieg aus fossilen Brennstoffen undenkbar zu sein schien: 1994 reiste er als Bürgermeister mit seinen Gemeinderäten durch Dänemark. Sie schauten sich Windparks an. Wenige Jahre später begann die Firma Eurowind Energy, auf den Feldern in Sitten zu bauen. „Die Ausmaße haben mich schon erschreckt. Aber wir haben uns daran gewöhnt“, sagt Heckel.

Nicht alle im Dorf sehen das so locker wie der 73-Jährige. Aber Widerstand oder Protest hat es nie gegeben. Im Gegenteil: Vor zwei Jahren hat Eurowind Energy zwei neue Windräder gebaut. Die Anlagen des Typs Vestas V150-6.0MW ersetzen veraltete Anlagen. Sie sind leistungsfähiger und leiser. Sie sind aber auch größer: Turm und Rotorblatt kommen zusammen fast auf eine Höhe von 250 Metern. Die Einweihung feierten 150 Besucher: Geladen waren Landespolitiker, Vereine, die Freiwillige Feuerwehr. Die Schule öffnete zum „Windfest“ ihre Türen.

Bei der Akzeptanz hat Zeit eine Rolle gespielt. Aber auch Geld: Eurowind Energy finanzierte den Spielplatz im Ort, übernahm Patenschaften. Weitere Windparks entstanden. Die Gemeinden wurden finanziell beteiligt: Sie bekommen 0,2 Cent pro eingespeiste Kilowattstunde. Insgesamt 360.000 Euro jährlich. Künftig wird es noch mehr.

Heckel ist heute Ortsvorsteher von Sitten, aber auch vielen umliegenden Gemeinden. Das Geld aus der Windkraft stecken sie zum Beispiel in die Reparatur von Straßen und Vereine. „In Zeiten klammer Kassen kann die Windkraft eine Chance sein“, sagt Heckel.

Aber auch er weiß, dass der Ton rauer geworden ist, Erneuerbare Energien zum Feindbild geworden sind: Der künftige Bundeskanzler, Friedrich Merz, findet Windräder „hässlich“. AfD-Chefin Alice Weidel forderte: „Nieder mit den Windmühlen der Schande.“ Bürgermeister und Kommunalpolitiker in Sachsen, die die Windkraft unterstützen, drohen unter Beschuss zu geraten. In Waldpolenz gab es bereits konkrete Pläne für den Bau mehrerer Windkraftanlagen. Doch nach heftigen Protesten einer Bürgerinitiative lehnte der Stadtrat in Brandis das Projekt mehrheitlich ab. Zuvor hatten Vertreter erklärt, sie fühlten sich bedroht.

Auch in Belgershain brodelt es schon lange: Im Sommer 2023 kamen Vertreter des regionalen Planungsverbandes Westsachsen und erklärten, was ihnen Bund und Land vorgeben: Zwei Prozent Fläche sollen sie innerhalb ihres Zuständigkeitsbereichs ausweisen, der die Stadt Leipzig sowie die Landkreise Leipzig und Nordsachsen umfasst. Die Stimmung war so aufgeheizt, dass Bürgermeister Guido Mai mehrfach zur Ordnung rufen musste. Er drohte mit Saalverweisen.

Seit Wochen beschäftigt Belgershain nun ein mögliches Bürgerbegehren, dessen Inhalt Unterstützer gegen jede Kritik knallhart verteidigen. Auch, wenn sie juristisch fundiert ist.

„Sind sie dafür, eine windindustriefreie Landschaft in allen Gemarkungen der Gemeinde Belgershain einschließlich Ortsteile zu erhalten und dass die Gemeinde deshalb ihr gemeindliches Einvernehmen zu Planungen und Baumaßnahmen für die Errichtung von Windkraftanlagen im Gemeindegebiet verweigert und alle rechtlich zur Verfügung stehenden Maßnahmen ergreift, um die Errichtung von Windkraftanlagen auf dem Gemeindegebiet zu verhindern?“

So lautet der genaue Text. Guido Mai hat eine Anwältin beauftragt, ihn zu prüfen. Sie hält das Ganze für rechtswidrig, weil hier mehrere Fragen zu einer zusammen gezogen werden – und damit am Ende etwas zur Abstimmung steht, worauf nicht einmal der Gemeinderat Einfluss hat.

Guido Mai trägt all das in der Sitzung noch mal vor. Und selbst wenn man es auf eine Klage ankommen ließe: Die Gemeinde müsste Hunderttausende Euro aufbringen, sie wäre nicht mehr in der Lage, ihren Aufgaben nachzugehen, sagt Guido Mai. Der Bürgermeister wird immer wieder unterbrochen: „Das ist keine Demokratie.“ Jemand sagt, die Anwältin sei bei der CDU. „Zufall?“

Zwischenrufe, Gelächter und Vorwürfe im Gemeinderat

Guido Mai schlägt vor, den Text umzuformulieren – Gemeinderätin und Windkraft-Gegnerin Roswitha Brunzlaff besteht auf der Abstimmung, wendet sich an jene am Tisch, die bisher schweigend und teilweise mit gesenktem Kopf dagesessen haben. Sie stellt sie vor die Wahl: „Die Gemeinderäte müssen jetzt wissen, ob sie hinter den Bürgern stehen oder nicht“, sagt sie. Sie stimmen dafür, den Inhalt für ein Bürgerbegehren zuzulassen – Guido Mai ist der Einzige, der bei der Gegenprobe den Finger hebt, sein Veto einlegt. Jetzt muss die Rechtsaufsicht des Landkreises entscheiden.

Nach der Gemeinderatssitzung findet man Guido Mai nebenan im Rathaus. Er versucht, das eben Geschehene gelassen zu nehmen: Die Zwischenrufe, das Gelächter, die Vorwürfe, sich gegen die Bevölkerung zu stellen. Dann sagt er: „Wissen Sie, ich mache das hier alles ehrenamtlich.“

Guido Mai ist in der Freien Wählervereinigung, seit etwa zwei Jahren Bürgermeister in Belgershain, ein Pragmatiker, auch beim Thema Windkraft: „Wir haben die Wahl: Entweder gestalten wir selbst oder werden gestaltet.“ Der regionale Planungsverband hat bis Ende 2027 Zeit, das Zwei-Prozent-Ziel zu erreichen. Wenn es nicht gelingt, weil sich Gemeinden weigern, können alle Nutzungsflächen für den Bau von Windkraftanlagen freigegeben werden.

Mai will das eigentlich verhindern. Bei ihm hat sich schon ein Investor gemeldet: Juwi will nahe Belgershain sechs bis acht Windräder bauen. Doch um zu verhandeln, braucht der Belgershainer Bürgermeister die Zustimmung des Gemeinderates. Dass er sie bekommt, ist unwahrscheinlich.

Andererseits hat sich ja auch woanders die Stimmung mittlerweile gedreht: In Brandis gibt es nun eine neue Initiative. Sie hat ausreichend viele Stimmen gesammelt für ein Bürgerbegehren: Es spricht sich für den Ausbau von Windkraft aus.