Macheten-Attacke in Chemnitz: Verstümmelung, Versicherungsbetrug und rechte Netzwerke
Vor dem Landgericht Chemnitz wurde Stanley S. am Donnerstag wegen schwerer und gefährlicher Körperverletzung zu drei Jahren Haft verurteilt. Er hatte einem Neonazi mit einer Machete drei Finger abgetrennt – Hintergrund der Tat war ein geplanter Versicherungsbetrug. Die „Freien Sachsen“ hatten kurz nach der Tat „die Täter in den Reihen der Antifa“ vermutet.
Am dritten Verhandlungstag wurde das Urteil verkündet: drei Jahre Haft für Stanley S. wegen schwerer Körperverletzung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung – allerdings im minderschweren Fall. Der Richter begründete dies damit, dass der Neonazi Alexander W. „förmlich darum gebettelt hätte“, sich selbst zu verletzen.
Die Staatsanwaltschaft sah den Fall als klar an und forderte in ihrem Plädoyer sechs Jahre Haft. Sie argumentierte, dass trotz W.s Aufforderung keine Milderung der Strafe gerechtfertigt sei.
Die Verteidigung von Stanley S. plädierte auf Freispruch. Ihr Hauptargument war, dass nicht eindeutig geklärt werden konnte, wer die Tat letztlich ausführte. Der rechtsmedizinische Gutachter stellte fest, dass die Verletzungen zwar zu einem Machetenangriff passten, jedoch nicht ausgeschlossen werden könne, dass W. sich die Verletzungen auch selbst zufügte. Zahlreiche Zeugenaussagen ließen jedoch Zweifel an dieser Behauptung aufkommen.
Der Angeklagte Stanley S. ließ am ersten Prozesstag Ende November eine Einlassung durch seinen Verteidiger verlesen. Darin behauptete S., die Tat nicht selbst ausgeführt zu haben. Er gab zu, sich anfangs bereit erklärt zu haben und mit Alexander W. auch zum Tatort gegangen zu sein. Alexander W. habe sich die Finger schließlich selbst abgetrennt, da S. im letzten Moment Skrupel gekommen seien.
Der bizarre Plan: Eine Hand für staatliche Leistungen
Die Tat ereignete sich am 15. August 2023 im Chemnitzer Stadtpark. Laut Anklage legte Alexander W. seine linke Hand auf einen Metallbehälter, während S. mit einer knapp 1,4 Kilogramm schweren Machete zuschlug. Drei Finger wurden abgetrennt – der ursprüngliche Plan, die gesamte Hand zu verstümmeln, scheiterte. Anschließend entsorgte der Angeklagte die Finger in einem Braunglascontainer und versteckte die Machete.
Noch kurz nach der anschließenden Notoperation behauptete W. gegenüber der Polizei, von drei bis fünf Unbekannten attackiert worden zu sein, die ihn wegen seiner Kleidung der rechten Marke „Thor Steinar“ verfolgt hätten. Kurz darauf erschien die Geschichte auch im Telegram-Kanal der rechtsextremen „Freien Sachsen“, inklusive eines Fotos von W. mit bandagierter Hand und dem Vorwurf, „Linke“ hätten ihn angegriffen.
Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer: Das rechtsextreme Compact-Magazin, der Querdenken-Anwalt Markus Haintz oder auch der AfD-Politiker Björn Höcke – sie alle hatten den vermeintlichen Angriff Linker auf Alexander W. aufgegriffen. Der „Linksterror eskaliert weiter“, schrieb Höcke dazu auf seinen Social-Media-Kanälen.
Diese Darstellung – so zeigte es sich im Prozess – wurde von der Polizei schnell infrage gestellt. Gegen W. läuft daher u.a. ein Ermittlungsverfahren wegen Falschaussage. Die Ermittlungen, insbesondere die Auswertung von W.s Smartphone, förderten zutage, dass die ganze Geschichte erfunden war. W. hatte geplant, sich absichtlich zu verstümmeln, um staatliche Leistungen in Höhe von rund 2.000 Euro monatlich zu erhalten.
Zudem zeigten seine Google-Suchanfragen, dass er bereits seit Anfang August nach Informationen zur Versorgung von Amputationsverletzungen suchte. W. und der Angeklagte S. kannten sich durch einen gemeinsamen Bekannten, der S. als Tätowierer vermittelt hatte. W. wollte sich mehrere Tattoos überstechen lassen – darunter auch Hakenkreuze, um u.a. wieder ins Schwimmbad gehen zu können.
Vorbereitungen und widersprüchliche Aussagen
Der Prozessauftakt offenbarte Details zur Vorbereitung der Tat. Videoaufnahmen zeigen S., wie er die Tatwaffe – eine Machete des Typs Walther MachTac 3 – am Tattag erwarb. Zudem schilderte ein Bekannter, dass Alexander W. bereits zuvor mehrfach versucht hatte, sich selbst die Finger abzutrennen, jedoch den Mut verlor. Auch diesen Bekannten hätte er im Vorfeld schon mehrfach um Hilfe bei der Tat gebeten – dieser hatte jedoch abgelehnt. W. hätte laut diesem Zeugen akribisch berechnet, wie hoch die Leistungen für jeden abgetrennten Finger sein würden. Ebenso schloss er laut der Aussage eines weiteren Zeugen eine Versicherung auf seine Hand ab – diese trat jedoch erst zwei Wochen nach der Tat in Kraft.
Zu Beginn des dritten und letzten Verhandlungstages sagte der damalige Mitbewohner des Angeklagten aus, S. habe ihn gedrängt, die Tat zu filmen, und ihm dafür Crystal Meth angeboten. Der Zeuge begleitete ihn zwar in den Stadtpark, lehnte eine Unterstützung jedoch kurz vor der Tat ab. Er hörte aus einiger Entfernung den entscheidenden Schlag und einen Schrei und erhielt später ein verstörendes Foto der abgetrennten Finger.
Druck aus der Szene und ein Geständnis
Auch Alexander W. war am ersten Prozesstag als Zeuge geladen. Er erschien mit Kapuze, Sonnenbrille und einer Prothese für seine Hand vor Gericht, verweigerte jedoch die Aussage und verließ nach weniger als fünf Minuten den Gerichtssaal wieder. Er hatte den versuchten Betrug wenige Tage nach der Tat einem weiteren Rechtsextremisten gebeichtet, welcher vor Gericht als Zeuge aussagte. Nachdem Alexander W. meinte, er hätte „Scheiße gebaut“, drängte sein Bekannter ihn, zur Polizei zu gehen und auszusagen.
Der Zeuge, der angab, selbst aus der rechten Szene zu kommen, meinte, sie hätten ihm „die Pistole auf die Brust gesetzt“. Ein Tag später sagte nicht nur W., sondern auch sein Bekannter bei der Polizei über den tatsächlichen Ablauf aus.
Einblick in das Milieu: Drogen, Gewalt und rechte Netzwerke
Das Verfahren gibt auch Einblicke in das Umfeld der Beteiligten. W. lebte zuvor in Dortmund, wo er sich im Umfeld der Partei „Die Rechte“ bewegte, verbrachte dort jedoch zuletzt über vier Jahre in Haft. In Chemnitz fiel Alexander W. politisch kaum auf. Seine Zugehörigkeit zur Dortmunder Szene spielte jedoch auch in diesem Prozess eine Rolle. Bekannte von W. sagten aus, dass dieser Angst gehabt habe. Laut Zeugen wüsste er angeblich, „wo ein bis zwei Leichen liegen“.
Ebenso berichtete ein Zeuge, dass W. ins Zeugenschutzprogramm aufgenommen werden wollte. Auch bei seinem Geständnis bei der Polizei erzählte der Neonazi, dass er Angst vor der Szene in Dortmund hätte – davor, „zurückgebracht“ zu werden, da er sich nicht politisch engagierte. Diese Angst konnten jedoch wohl selbst frühere Wegbegleiter kaum nachvollziehen. Ein Zeuge, welcher angab, W. schon aus Dortmunder Zeiten zu kennen, meinte, er habe „sich nichts zu Schulden kommen lassen“ und dass er „überhaupt nicht verstehe, dass er solche Angst vor den Dortmundern gehabt hat.“
Einschlägig vorbestraft
Zeugen, darunter Polizeibeamte, sprachen auch über W.s gesundheitliche Probleme, darunter eine posttraumatische Belastungsstörung und Rückenverletzungen. W. selbst gab an, diese stammten von seiner Tätigkeit als Personenschützer vor zehn Jahren, unter anderem im Kosovo und in Uganda. Eine Panzerabwehrmine aus dem Kosovo sei für seine Verletzungen verantwortlich – eine Behauptung, die skeptisch betrachtet wurde.
Auch der Angeklagte S. ist für die Polizei kein Unbekannter: Er kommt auf insgesamt 19 Einträge im Bundeszentralregister, unter anderem wegen gefährlicher Körperverletzung, Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz, verschiedene Wohnungseinbrüche und Diebstahl, aber auch Nötigung mit einer Schusswaffe. Aktuell sitzt S. wegen eines Bewährungswiderrufes in Haft.
Die Dortmund-Chemnitz-Achse
Die Verbindungen zwischen Chemnitz und Dortmund, wie sie im Prozess um die „Macheten-Attacke sichtbar wurden, sind keineswegs neu. Seit Jahrzehnten bestehen enge Kontakte zwischen Chemnitzer und Dortmunder Neonazi-Strukturen. Im Gerichtsverfahren fielen mehrfach die Namen Michael Brück und Christoph D. – zwei Dortmunder, die wie Alexander W. nach Chemnitz gezogen sind.
Brück hat sich dort mittlerweile als einer der führenden Köpfe der „Freien Sachsen“ etabliert. Die Gruppierung hatte ein Foto von Alexander W. sowie eine Sprachnachricht von ihm veröffentlicht, um die inszenierte Tat propagandistisch auszuschlachten. Ob die „Freien Sachsen“ vom tatsächlichen Ablauf des Macheten-Angriffs wussten, ist unklar. Dennoch spricht vieles dafür, dass W.s Plan in rechten Kreisen kein unbekanntes Unterfangen war.
Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.
Quelle: https://www.endstation-rechts.de/news/macheten-attacke-chemnitz-verstuemmelung-versicherungsbetrug-und-rechte-netzwerke