Zeit zum Nachdenken
Mehr als ein Dutzend Antifa-Gruppen haben einen Aufruf mit dem Titel »Zeit zum Handeln!« veröffentlicht. Andere Gruppen kritisieren den Text: Er sei zu sehr einem revolutionären Antifaschismus verschrieben und ignoriere politische Differenzen in der radikalen Linken.
Die bald anstehenden Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg hätten das Potential, zu einem »historischen Moment für die neue faschistische Bewegung« zu werden. So beginnt der Aufruf, den mehr als ein Dutzend Antifa-Gruppen im Juni auf einer eigenen Website veröffentlichten. »Zum ersten Mal seit der Befreiung im Mai 1945« bestehe die Gefahr, dass »Faschisten als stärkste Kraft in ein deutsches Parlament einziehen«. Deshalb gelte: »Die Zeit zu handeln ist jetzt.«
Die Unterstützer des Aufrufs liefern auch gleich einige Überlegungen mit, was zu tun sei. Zuvorderst erachten sie eine »ehrliche Zusammenarbeit aller, die es ernst meinen«, als notwendig – und schieben den bemerkenswerten Zusatz »auch und gerade über Lager- und Strömungsgrenzen hinweg« hinterher.
Viele aus der antiimperialistischen Strömung
Die unterzeichnenden Gruppen sind größtenteils in Westdeutschland beheimatet. Unter ihnen finden sich auffallend viele aus der antiimperialistischen Strömung, zum Beispiel die Perspektive Kommunismus oder die Antifaschistische Aktion Süd. Weniger gut vertreten sind postautonome Gruppen – darunter die North-East Antifascists aus Berlin oder die CAT Marburg. Letztere ist auch die einzige Gruppe aus dem bundesweiten Bündnis »Ums Ganze«, die den Aufruf unterzeichnet hat.
In den weiteren Punkten der Erklärung wird schnell klar, dass das angeblich strömungsübergreifende Projekt ziemlich klare inhaltliche Vorstellungen hat. Das Gespenst eines revolutionären Antifaschismus geistert durch jede Zeile des Aufrufs: Gegen den Aufstieg der AfD soll eine offensiv linksradikale Politik verfolgt werden statt einer breiten Front mit bürgerlichen Demokraten. »Ein Antifaschismus ohne soziale Frage, ohne Kritik an den herrschenden kapitalistischen Verhältnissen, ohne die Perspektive einer klassenlosen Gesellschaft wird in diesen Zeiten zahnlos bleiben«, heißt es kämpferisch.
Dabei würde die eigene Bestandsaufnahme doch eigentlich nahelegen, dass ein defensiver Abwehrkampf gegen die Etablierung einer faschistischen Massenpartei ansteht. Doch die »liberalen und sozialdemokratischen Parteien« seien »selbst Teil des Problems und nicht der Lösung«. Diese Absage an breite Bündnisse wird – etwas widersprüchlich – kombiniert mit dem Aufruf, sich bei zukünftigen Massenprotesten gegen die AfD einzumischen und »den Kampf um die Hegemonie« aufzunehmen. Denn dort vermutet man eine mögliche Basis für eine neue antifaschistische Bewegung.
»Auf allen Ebenen, mit allen Mitteln«
Wenn dann im vierten Punkt die altautonome Phrase »auf allen Ebenen, mit allen Mitteln« bemüht wird, drängt sich endgültig der Verdacht auf, dass womöglich eine neue Antifaschistische Aktion/Bundesweite Aktion (AA/BO) entstehen soll. Dieser breite Zusammenschluss vereinte in den neunziger Jahren bundesweit Antifa-Gruppen. Er brach um die Jahrtausendwende auseinander, vor allem am sich zuspitzenden Konflikt zwischen antideutschen und antiimperialistischen Gruppen.
Die Landtagswahlen im Osten sind für die Initiatoren nur eine Gelegenheit, ihr neues Projekt an die interessierte antifaschistische Kundschaft zu bringen. »In allem, was wir tun, müssen wir deshalb vor allem für Kontinuität, Organisierung und Ansprechbarkeit sorgen«, schließt die recht kurz gehaltene Proklamation und verweist damit noch einmal deutlich auf das eigentliche Interesse, mehr Mitglieder in die Strukturen zu integrieren, um den eigene Organisierungsgrad zu erhöhen.
Wie genau eine solche Strategie den ostdeutschen Antifaschisten helfen soll, bleibt schleierhaft. Auf der Plattform Indymedia äußerten sich dementsprechend einige anonyme »ostdeutsche Antifas« und formulierten ihre Bedenken. Anstatt die »Orientierungslosigkeit der radikalen Linken in inhaltlichen Fragen als Problem« zu benennen, so die anonymen Kommentatoren, wird »ein diffuser Mangel an irgendetwas« ausgemacht. Dieser solle durch organisatorische Anstrengungen behoben werden. Dabei seien zuvörderst inhaltliche Debatten dringend nötig.
Die ostdeutschen Antifaschisten weisen auch darauf hin, dass »die aktuelle Debatte hinter die Überlegungen aus den Neunzigern« zurückfiele – inhaltlich und popkulturell. Sie bemängeln außerdem, dass linksradikale Gruppen ähnlich wie Markenprodukte darauf bedacht seien, sich »irgendwie populär zu machen; dementsprechend wird sich auch der gleichen Werbemittel und Marketingstrategien bedient«.
»Die Analyse und Handlungsappelle aus dem Paper können wir so nicht teilen«, sagt Tina Marx, Pressesprecherin von Dissens – Antifa Erfurt, der Jungle World. Weder das Gerede von einem »Klassenkampf von oben« noch die Perspektive eines revolutionären Antifaschismus, der die soziale Frage in den Fokus rückt, werde »den Zuständen hier gerecht«. Es entstehe der Eindruck, »dass man hier von außen versucht, eine Praxis zu etablieren, die vielleicht in Stuttgart oder Frankfurt Perspektiven bietet, aber im Osten nicht greift«.
Einen Begriff machen
Tina Simons von der Basisgruppe Antifaschismus aus Bremen findet, dass die kämpferische Rhetorik im Text »zwar der Dramatik der Situation angemessen«, aber nicht einlösbar sei. Grund dafür sei, »wie die Aufrufenden auch richtig feststellen«, neben »der offensichtlichen aktuellen Schwäche der radikalen Linken in der BRD« auch die Tatsache, dass den Initiatoren des Aufrufs »eigentlich nichts richtig einfällt, was sich praktisch gegen den Rechtsruck stellen ließe«.
»Antifaschisten aus dem Westen, die einmal am Wahlwochenende durch Erfurt marodieren, um guten Gewissens wieder zurückzufahren, in dem Wissen, endlich mal gehandelt zu haben«, brauche es nicht, sagt Tina Marx. Es gelte neben der »klassischen Antifa-Arbeit« vor allem eine Kritik der Gesellschaft, »um sich überhaupt einen Begriff davon machen zu können, was hier gerade passiert«.
Von dem Aufruf bleibe am Ende nur »ein allgemeiner Aufruf zu einer linken Einheit«, so Simons, dem »die gewichtigen inhaltlichen Differenzen in der radikalen Linken zwischen autoritären und antiautoritären Linken und bezüglich der Einschätzung des Staats, von Nationalismus, Rassismus, Patriarchat und Antisemitismus« entgegenstünden.
Das Papier hänge der illusorischen Vorstellung an, dass, »wenn nur die paar verbliebenen radikalen Linken zusammengehen würden«, schon vieles »gegen den Rechtsruck geschafft« sei. So richtig es sei, angesichts zunehmender staatlicher Repression und rechtsextremer Bedrohung sich grundsätzlich solidarisch aufeinander zu beziehen, meint Simons: »Dem Rechtsruck werden wir mit einer falschen Scheineinheit nicht beikommen.«
Weil »die antiautoritäre radikale Linke in den vergangenen Jahrzehnten ihre marginale gesellschaftliche Interventionsfähigkeit verloren hat«, sagt Tina Marx, sei die Situation weit verzwickter als in den Jahrzehnten zuvor. Die Gruppe Dissens halte es für notwendig, das Eingeständnis der eigenen Wirkungslosigkeit als Ausgangspunkt zu nehmen, um überhaupt eine emanzipatorische und kommunistische Perspektive zu entwickeln.