Geschichte, Gegenwart, Zukunft: „Ist ein anderer Fußball möglich?“

LVZ

Im Rahmen der Arbeiterfußball-Ausstellung sprach der Berliner Sport-Journalist Martin Krauss in Leipzig über Optionen aus dem Gestern für das Heute und Morgen.

Leipzig. Als vor über einhundert Jahren der Arbeiter-Turn- und Sportbund (ATSB) Fußball als eigenständige Sportart aufnahm, ging es von Beginn an auch darum, dass sich der Fußball der Arbeiterklasse von dem der bürgerlichen Vereine unterscheidet. Der vom Deutschen Fußball-Bund (DFB) zelebrierte Nationalismus samt Personenkult stand beim ATSB ebenso in der Kritik wie die Jagd nach Titeln, die Professionalisierung und die kapitalistischen Vermarktungsinteressen.

Allerdings hinderte dies den ATSB nicht daran, eine eigene Fußballsparte samt Meisterschaften einzurichten. Es kam dabei auf die Unterschiede an, wie der Berliner Sportjournalist Martin Krauss am Dienstagabend in Leipzig-Connewitz in seinem Vortrag zu „Ist ein anderer Fußball möglich? Zu Geschichte, Gegenwart und Zukunft eines eigentlich antiquierten Sports“ anhand von Fußballgeschichten erklärte.

Auch wenn je elf Spieler samt Schieds- und Linienrichter auf dem Platz mit zwei Toren standen, es existierten Unterschiede. Von Beginn an standen keine Namen in den Spielberichten. Das Kollektiv stand über den Einzelspielern, das Publikum auf den Rängen verhielt sich still und friedlich, bei Spielen von Teams verschiedener Nationen wurde „Die Internationale“ statt der Länderhymne gesungen. Innerhalb der Vereine durften Frauen und Jugendliche wählen und Funktionen ausüben. Die Mitgliedsbeiträge waren moderat gestaltet. Bürgerlich gegründete Vereine wie Bar Kochba in Chemnitz oder Magdeburg wechselten wegen Antisemitismus zum Arbeitersport.

Geschichte bietet Beispiele, um aktuelle Situation zu überdenken

Den Frauen wurden im proletarischen Fußball sehr wenig Platz eingeräumt, denn das traditionelle Denken über die angeblich dem weiblichen Geschlecht eher naheliegende Gabe zu Anmut und Grazie wurde auch von leitenden Arbeitersportfunktionären propagiert. Die Männer traten bei den Arbeiterolympiaden beispielsweise im Fußball-Dreikampf an.

Dabei wurden 100-m-Läufe, Weitstoß mit dem Ball und Dribbeln absolviert. Ein anderes Element war die Bewertung des Spiels. Nicht die geschossenen Tore waren wichtig, sondern es wurden unterschiedliche Bewertungsmuster entwickelt – zur Ästhetik, Fairness auf dem Platz oder zum Verhalten der Fans.

1933 endete das Kapitel Arbeitersport in Deutschland. Die Nazis verboten die Vereine. Nach 1945 fand sich das System in Israel, Finnland und Österreich wieder. Kollektive Selbstverwaltung führte der brasilianische Club Corinthians São Paulo zu Beginn der 1980er-Jahre ein. Der israelische Verein Hapoel Tel Aviv, gegründet 1923 von Arbeitslosen, führt bis heute Hammer und Sichel im Vereinslogo und die Fans verzichten auf Nationalflaggen.

Die Geschichte des meist vergessenen Arbeitersports bietet Beispiele, um die gegenwärtige Situation zu überdenken. Dass mit Tennisbällen und Schokotalern eine neue Form der turbokapitalistischen Vermarktung zum Erliegen kam, sei gut, so Krauss. Denn die in den letzten Jahren zu beobachtende Konzentration, Monopolisierung, der Personenkult um einzelne Spieler wie Ronaldo führe nicht nur zu einer Sättigung und Abwendung vieler Menschen vom Fußball, sondern lässt die Kritikpunkte von vor hundert Jahren am bürgerlichen Fußball aktueller denn je erscheinen.

„In der Herzkammer des Arbeitersports. 100 Jahre Arbeiterfußball. 125 Jahre Arbeitersport“: Ausstellung bis 9.3. in der Hochschulbibliothek der HTWK, Gustav-Freytag-Straße 40, 04277 Leipzig