Debattenbeitrag zur innerlinken Auseinandersetzung um Antisemitismus nach dem 7. Oktober

Wir haben in der Herbst-Ausgabe der Erfurter Zeitschrift Lirabelle eine Antwort auf einen Debattenaufschlag aus der vorherigen Ausgabe veröffentlicht.

Im Text “Wie raus aus der Sackgasse? Triggerwarnung: Nahostkonflikt” haben zwei Autor:innen “eine reflektierte Solidarität ohne dogmatische Reflexe in der innerlinken Debatte um den 7. Oktober” gefordert (Text findet sich unter dem Text von Dissens). In unserer Antwort zeichnen wir die Leerstellen im Antisemitismusverständnis linker Bündnisse der letzten Jahre nach und plädieren gegen die Vorstellung einer Friedensbewegung. In unserem Beitrag ‘Sackgassen und Vorfahrtsregeln’, argumentieren wir warum am Dogma, dass Auschwitz nicht noch einmal sei, nicht zu rütteln ist und das für Antifaschist:innen nur Solidarität mit Israel bedeuten kann.

Wir dokumentieren folgend den Debattenbeitrag:

In der letzten Ausgabe der Lirabelle haben die Autor:innen Mascha Kalakadu und Pia Puuh eine Debatte zum innerlinken Umgang mit dem Nahostkonflikt angestoßen und haben dazu eingeladen darüber zu streiten, wie wir aufhören oder besser streiten. Diese Einladung finden wir notwendig und sind den Autor:innen auch dankbar, den Stein mit ihrem Text angestoßen zu haben.

In ihrem Text haben Kalakadu und Puuh eine Bild von den Entwicklungen seit dem 7. Oktober 2023 gezeichnet, der innerlinken Auseinandersetzung und nehmen Bezug auf diverse Vorkommnisse und Entwicklungen in Erfurt, darunter das System Change Camp 2024 und die zeitgleich stattfindende Antira-Demo. Folgend soll auf den Debattentext geantwortet werden, auch in der Hoffnung das diese Debatte weitergeführt wird.

Leerstelle Antisemitismus

Dass Bündnisse und linke Vernetzungen am „Nahostkonflikt“ zerbrechen ist kein neues Phänomen. Während es irgendwann in der radikalen Linken und den Antifa-Gruppen der späteren 00er und 10er Jahre in Thüringen weitgehend Konsens war israelsolidarisch zu sein, oder wenigstens gönnerhaft dem jüdischen Staat sein Existenzrecht zuzusprechen, ist diese Gewissheit längst nicht mehr. Die Gretchenfrage lautete nicht, „Wie hältst du es mit Israel?“, sondern „Wie erklärst du Antisemitismus?“.

Und an der Notwendigkeit diese Frage zu stellen, hat sich nichts geändert. Denn viel entscheidender ist, dass eine Thematisierung von Antisemitismus, und das gar nicht mal zwangsläufig mit Nahostbezug, in linken und antirassistischen Bündnissen der jüngeren Vergangenheit keine Rolle gespielt hat. Klar, unter jedem Aufruf steht das man gegen „Rassismus, Sexismus und eben auch Antisemitismus bla bla“ ist, aber was das am Ende heißt, ist meist eher dürftig. Antisemitismus wird als eine Diskriminierungsform unter vielen verstanden, nicht als pathische (falschen, d.S) Projektion, welche die gesellschaftlichen Widersprüche im Juden und in Israel personalisiert. Antisemitismus kann so eingeebnet und seine aktuell am stärksten formulierte Form, die sogenannte Israelkritik, politisch legitimiert werden.

Dass ist nicht (nur) ein Vorwurf an jüngere Genoss:innen, nicht dies oder jenes gelesen und verstanden zu haben, sondern auch ein Problem von Strukturen wie der unseren, sich aus Bündnissen und Vernetzungen herauszunehmen, wo eine solche Auseinandersetzung fehlt. Uns ist bewusst, dass die Tatsache, dass sich die Orga der Antira-Demo im letzten Sommer explizit gegen israelbezogenen Antisemitismus aussprach, an der Arbeit von Leuten lag, die genau diese Auseinandersetzungen auf einer solidarischen Ebene eingegangen sind.

Doch dass mit dem Massaker vom 7. Oktober und dem Krieg, den die Hamas begonnen hat, die Konflikte in antifaschistischen Bündnissen und Brüche in Allianzen entstehen, zeigt das die Auseinandersetzung mit Antisemitismus zu wenig oder gar nicht stattgefunden haben. In der Konsequenz zeigte es sich dann auch in der Nicht-Umsetzung dieses Demo-Konsens. Gerade deshalb wird es um so notwendiger sein, die Kritik des Antisemitismus in all seinen Erscheinungsformen zu stärken, in Bündnissen oder Räumen, wenn diese Entwicklung gestoppt werden soll. Es soll dabei nicht um eine generelle Tabuisierung einer Auseinandersetzung mit israelischer Politik gehen, die Grenze ist zu ziehen, wenn das Gegenüber im wahnhaften Antisemitismus verfällt oder seinerseits keinerlei Differenziertheit zulässt.

Gegen selektive Kritik

Weiterhin plädieren die Autor:innen gegen eine selektive Solidarität und für Differenziertheit und Multiperspektivität. Dem können wir uns nur anschließen und würden uns das viel öfter wünschen, als wir das öffentlich zugeben würden. Aber wir sehen gleichzeitig eine selektive Kritik beim Umgang mit Antisemitismus. Kritik des Antisemitismus ist eben auch da zu üben, wo Migrant:innen und muslimische Menschen auftreten. Sicher ist es eine Frage der Art und Weise, aber aus einem (anti)rassistischen Reflex heraus diesen Antisemitismus nicht zu kritisieren, halten wir für fatal.

Sicher ist es ein Punkt von vielen, der dazu führt, dass antisemitismuskritische Positionen weniger vertreten sind. Eine Entwicklung, dass die Auseinandersetzung mit Antisemitismus zunehmend zu einem blinden Fleck wird, beobachten wir schon länger. Erinnert sei hier an die Auseinandersetzungen um die Ahmadiyya-Gemeinde und ihren Vorsitzenden, welcher regelmäßig durch antisemitisches Gepolter aufgefallen ist. Damals wurde uns vorgeworfen, dass wir noch auf jemanden verbal losgehen würden, der so massiv von Neonazis bedroht wird. Aber schon damals galt bei Angriffen auf die Ahmadiyya unsere Solidarität den Betroffenen rassistischer und neonazistischer Gewalt.

Auch Antisemit:innen können von rechter und rassistischer Gewalt betroffen sein, das heißt nicht diese Gewalt nicht zu verurteilen und zu bekämpfen, und gleichzeitig den Antisemitismus auch unverhohlen kritisieren zu können und zu müssen. Das erfordert aber nicht nur ein generelles aufgeführtes Verständnis als (post)migrantische Linke, sondern auch die Einsicht der antirassistischen und migrantischen Community Kritik und Selbstkritik zuzulassen und zu üben. Und eventuell auch die Bereitschaft in einem Hund, der in eine Melone beißt, nicht gleich eine Vernichtungsfantasie gegen Palästinenser:innen zu sehen.

Ähnlich gelagert ist es bei der Auseinandersetzung um rechten Terror beispielsweise von Halle 2019. Es ist richtig, auf die rassistischen und patriarchalen Dimensionen des Anschlags hinzuweisen, dennoch verwischt es das grundlegende Motiv des Täters, dessen Hass auf Migrant:innen und Frauen einem eliminatorischen Antisemitismus entspringt, den er zuallererst an Jüdinnen und Juden in der Synagoge in Halle ausüben wollte. Die Verwässerung von antisemitischen Motivlagen entspringt auch hier dem Unverständnis von Antisemitismus. Gerade hier braucht es eine Stärkung der Antisemitismuskritik, braucht es die Kritik an Positionen, die den Antisemitismus in einer Gemengelage der Diskriminierungen verschwimmen lassen.

Rein in die Widersprüche – aber richtig!

Den Wunsch sich ins Getümmel zu werfen und die Widersprüche zu äußern, unterschreiben wir. Auch dass die moralische Brandmarkung anderer Linker nicht nur in den Notfallkasten, sondern auf den ideologischen Müllhaufen gehört und stattdessen die gegenseitige Kritik zum alltäglichen Tool wird. Dazu gehört, den Antisemitismus weder als einen Rassismus gegen Juden zu verklären, noch als ein genuin migrantisches Phänomen zu verstehen.

Dies setzt ein Verständnis des Antisemitismus als Ideologie voraus, die dieser Gesellschaft inhärent ist und als dessen Konsequenz eine Ideologiekritik, die eine Solidarität mit Israel aus dem kategorischen Imperativ ableitet, „dass Auschwitz nicht noch einmal sei.“ Antisemitismus ist eine umfassende wahnhafte und projektive Weltsicht. Das Vereinende aller Antisemit:innen ist ihr Hass auf das Jüdische als etwas Abstraktes.

Im Antisemitismus wird die unpersonelle Herrschaft der warenproduzierenden Gesellschaft personalisiert, indem diejenigen ausfindig gemacht werden sollen, die vermeintlich für die Verwerfungen und Krisen dieser Gesellschaft verantwortlich sind. Gleichzeitig werden diejenigen Bedürfnisse und Triebe auf das Jüdische projiziert, die dem Subjekt in dieser Gesellschaft versagt bleiben. Nach der Shoah wandelte sich die Projektionsfläche des Antisemitismus.

Anstelle offener Feindseligkeit gegenüber Jüdinnen und Juden äußert sich moderner Antisemitismus heute häufig in Form des Antizionismus. Dabei wird der Hass, der früher auf „den Juden” projiziert wurde, auf Israel übertragen – „den Juden unter den Staaten”. Der Wunsch nach der Vernichtung dieses Staates ist nicht nur ein Wunsch von deutschen Neonazis, sondern erklärtes Ziel von Staaten wie dem Iran oder eben islamistischer Terrororganisationen wie der Hamas.

Dem Iran oder anderen Feinden Israels geht es nur in soweit um die Zivilbevölkerung, sofern ihr Leid der Vernichtung Israels Legitimation verleiht. Solidarität mit Israel ist gerade deshalb unabdingbar, egal welche Politik im Land regiert. Das bedeutet keineswegs, das Leid der Bevölkerung in Gaza abzusprechen oder empathielos zu sein, genau so wenig wie es bedeutet die Opfer und Geiseln der Hamas zu vergessen.

Zur eingeforderten Auseinandersetzung in den Widersprüchlichkeiten gehört auch ein Antisemitismusverständnis, das eben jene antisemitischen Projektionen auf Israel benennen muss, auch wenn es komplizierter wird als schwarz-weiß Darstellungen, auch wenn das Gegenüber nicht „die Juden“ sagt, sondern „Aber Israel…“.

Keine Friedensbewegung – bis zum Kommunismus!

Dass autoritäre und islamistische Gruppen bereit sind Menschen aufzufangen, die von der Situation in Gaza entsetzt sind, ist nicht von der Hand zu weisen. Ob es an einer von uns gelassenen Leerstelle liegt, oder vielleicht doch auch offene Türen eingerannt werden, ist eine weitere Diskussion. Dass die von Rassismus durchzogenen Repressionen gegen palästinasolidarische Gruppen und Demos keine Hilfe dabei ist, ist fraglos wahr.

Eine Friedensbewegung, die sich nicht dabei einer grundlegenden Kritik des Antisemitismus verschreibt, und in die zunehmende Polarisierung mit einsteigt, wird scheitern. Dass das, was sich in Deutschland als Friedensbewegung bislang formiert hat, keinen Funken Hoffnung birgt, wird deutlich, schaut man sich die Grundpfeiler dieser Bewegung an. Diese war und ist nach wie vor von dem Fehlschluss geprägt, der Westen sei einzig eine imperialistische koloniale Macht.

Wozu derartige Falschheiten führen, konnte man zuletzt bei der Positionierung zum russischen Angriffskrieg sehen. Es ist immer noch offensichtlich, dass viele sich weigern anzuerkennen, dass mittlerweile alle Staaten weltweit bürgerlich-kapitalistisch organisiert sind – und dadurch potenziell imperialistisch handeln können, nicht nur die USA. Dass diese Staaten anders imperial agieren als noch vor hundert Jahren macht es nicht einfacher zu verstehen, entschuldigt aber keineswegs die linke Selbstverdummung und die Weigerung zu erkennen, dass Staaten zwar unterschiedlich, dass Kapitalverhältnis jedoch überall gleich ist.

Die zweite Fehleinschätzung ergibt sich aus der Annahme, es könne einen richtigen Frieden im Falschen geben. In der Welt, wie sie bislang organisiert ist, kann und wird es keinen Frieden geben. Dass es in Europa seit dem Jugoslawienkrieg zumindest keine kriegerischen Auseinandersetzungen im Ausmaß des russischen Angriffskrieg mehr gab, liegt nicht an irgendwelchen Einsichten in den Frieden oder europäischen Werten, sondern an der geopolitischen Realität und den Veränderungen der globalen kapitalistischen Wirtschaftsweise. Eine Friedensbewegung muss eine kommunistische sein, die es ernst meint mit der Kritik am Kapitalverhältnis und für die Emanzipation aller Menschen streitet. Ohne diese Grundlage kann jede Friedensbewegung auf den reaktionären Müllhaufen zurück aus dem sie kroch.

Nie wieder Auschwitz

Wer für eine emanzipatorische Bewegung trommelt, die sich antisemitismuskritisch nennen will, der muss dem Antisemitismus ein Verständnis als Ideologie zu Grunde legen, was die Singularität der Shoah, die Bedeutung des Vernichtungsantisemitismus im NS und seiner Nachfolger in den Fokus rückt und schließlich auch erkennen, welche Konsequenz Jüdinnen und Juden zu tragen haben, wenn sie den antisemitischen Internationalen schutzlos ausgeliefert sind:

„Der Staat Israel darf nicht so erscheinen, dass er dem, was geschehen ist, Sinn verleiht. Was geschehen ist, verleiht dem Staat Israel einen Sinn, der darin besteht, die Wiederholung dessen, was geschah, zu verhindern“ (Gerhard Stapelfeldt).

So lange die Verhältnisse gegeben sind, die zu einer Wiederholung eines massenmörderischen Vernichtungsantisemitismus führen, so lange die objektiven gesellschaftlichen Voraussetzungen nicht überwunden sind, in denen sich ein antisemitisches Kollektiv wieder zum Judenmord aufschwingt, bleibt die Solidarität mit Israel das Credo für Antifaschist:innen.

Dabei ist es egal, wer in Israel regiert, was Israel tut oder lässt, die Frage ist eine andere: Sollen Jüdinnen und Juden schutzlos ihren Schlächtern ausgeliefert werden? Wer diese Frage mit „Ja“ oder „Nein, aber…“ beantwortet, ist Teil des Problems, denn am Dogma „dass Auschwitz nie wieder sei“ ist nicht zu rütteln. Wie diese Position bei einem zunehmenden Rollback der Linken und einem Erstarken des linken Antisemitismus zu verteidigen bleibt, darüber muss weiter gestritten werden.

Das dies in der Lirabelle passiert und nicht auf social Media, ist zumindest ein Anfang der Hoffnung macht.

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Wie raus aus der Sackgasse? Triggerwarnung: Nahostkonflikt

Mascha Kalakadu und Pia Puuh fordern eine reflektierte Solidarität ohne dogmatische Reflexe in der innerlinken Debatte um den 7. Oktober.

Der 7. Oktober und der anschließende Krieg zwischen Israel und der Hamas mit ihren Verbündeten, die Zerstörung des Gaza Streifens und Tötung tausender Menschenleben treibt natürlich auch die hiesige Linke um. In einer neuen Welle hat der Konflikt und der Diskurs hier Spaltungen und Verletzungen in Freundeskreise, Politikgruppen und WGs gebracht.

Wir sind traurig und frustriert, dass wir in Zeiten des aufsteigenden Faschismus nicht an einem anderen Punkt stehen. Antifaschistische und antirassistische Bündnisse und Allianzen, die in den letzten Jahren aufgebaut wurden, haben Risse bekommen und sind teilweise auseinander gebrochen. Weder das System Change Camp noch die Antira-Demo im Sommer in Erfurt sind vollständig aufgearbeitet und vielleicht werden sie das nie zufriedenstellend werden. Wie schaffen wir es, den Scherbenhaufen, vor dem wir stehen aufzukehren?

Wir sind ganz ehrlich, wir wollten uns nie eine fundierte Meinung zum „Nahostkonflikt“ bilden. Wen interessiert unsere Meinung auch? Liegen die Menschen in Israel und Palästina nachts wach und fragen sich, ob die Ollen in Erfurt Anti-D oder Anti-Imp sind?

Unsere politischen Weggefährt*innen interessiert es. Je mehr wir uns in den strengen mütterlichen Szene-Schoß zurückziehen, desto mehr wollen es die Menschen wissen: wie hältst du’s mit Israel? Israel ist nicht eine Person oder eine Idee, so wie der Zionismus mehr als eine ideologische Strömung hat. Womit genau sollen wir uns bedingungslos solidarisch erklären? Ja, wir bestehen auf das Existenzrecht Israels.

Natürlich haben wir auch schon Tränen um das Leid der palästinensischen Bevölkerung geweint. Von dem Salzwasser, das global geweint wird, wird im „Heiligen Land“ nichts gedeihen.

Wir könnten jetzt mit Kampfbegriffen um uns werfen, über Rote Gruppen, über Queers for Palestine, wir könnten uns über mehrere Seiten komplett über alles abfucken. Aber wir glauben, dass die wenigsten Leute an die diese Kritik geht, die Lirabelle lesen. Stattdessen möchten wir mit den Leser*innen streiten, darüber wie wir aufhören zu streiten. Oder besser streiten?

In anderen Städten eskaliert die Spaltung deutlich stärker als hier. Auch wenn wir nach der Antira-Demo alle völlig frustriert waren, gab es Freund*innen aus anderen Regionen Deutschlands, die berichteten, wie gut diese „Debatten“ bei uns laufen. Es gab langjährig aktive Genoss*innen, die wieder Hoffnung schöpften, darüber dass Antisemitismus und Rassismus auch „noch“ gemeinsam addressiert werden kann. Fühlen wir noch nicht, aber irgendwo bleibt auch bei uns die Idee, dass wir einen neuen Umgang entwickeln können, auch weil wir uns hier angesichts des aufsteigenden Faschismus brauchen.

Ja, dieses Wir, wer ist dieses Wir überhaupt? Viele Jüdinnen und Juden haben sich seit dem 7. Oktober entfernt von ihren linken Freund*innen, haben sich nicht mehr sicher gefühlt in Kreisen, die vorher ihre waren. Wenn Ausstellungen zu jüdischen Leben angegriffen werden, Davidsterne an Häuser gemalt werden, dann ist klar, dass es nicht um Palästinenser geht, sondern um Hass gegen Juden.

Genauso wenn auf der Antira-Demo in Erfurt der Palästina-Block „Zionisten sind Faschisten“ ruft. Wenn so getan wird, als wären alle Juden weiß, westlich, und am besten noch reich. Wenn bei jenen, die zum Freiheitskampf im Iran, zu Bombardierung im Yemen, zu der Repression gegen Kurden nie etwas zu sagen hatten, plötzlich der “Gerechtig- keitssinn“ kickt und sie ihre Wut nur auf die Straße tragen können, wenn sie gegen Juden gerichtet ist, dann entlarvt sich ihr Antisemitismus. Das „Wir“ im Sinne einer Solidargemeinschaft der Linken ist kaputt. Vor allem für diejenigen, die in diesem Krieg jemanden verloren haben oder noch jemanden zu verlieren haben.

Gegen selektive Solidarität

Was ist das bisherige Reaktionsmuster? Krieg → Palästina-solidarische Demo, die von Antizionisten organisiert ist und an der viele Personen teilnehmen, weil sie sich emotional verbunden fühlen und dann zionistische Demo, die den Antisemitismus der anderen ankreidet und die bedingungslose Solidarität mit Israel bekundet. Und zack, muss jeder frisch politisierte Mensch sich für ein Lager entscheiden. Wir sind heute in der Lage, uns ausschließlich in unserer eigenen medialen Echokammer zu bewegen, die jeweils Verzerrungen mit sich bringen.

Bei unbekannten Accounts werden sogleich die red flags gesucht, die es uns ermöglichen, sie klar auf einer Seite zu verorten und ihre Analyse oder Erfahrungen zu delegitimieren. Dabei verkürzt das Lagerdenken die Realität. Wir glauben, es gibt viele Genoss*innen, die sich in den letzten Monaten „irgendwo dazwischen“ gefühlt haben.

Die in der einen Runde Antisemitismus ansprechen und benennen und denen in der anderen Runde eine Kritik an der aktuellen Politik Israels fehlt. Wir kennen viele Personen, die es abgefuckt finden, wenn Jena for Palestine um Raisi und Sinwar trauern, die sich aber gleichzeitig nicht mit Israelfahnen auf die andere Campusseite stellen würden. Und zwar nicht, weil sie den Israelhass nicht als Antisemitismus bewerten, dem etwas entgegengesetzt werden muss, sondern weil ihnen die Perspektive zu einseitig ist. Von den Personen, die gerade nicht um ihre Angehörigen bangen, erwarten wir Differenziertheit und Multiperspektivität.

Wir können diesen Konflikt nicht hier in Thüringen lösen. Aber wir können am Umgang miteinander etwas ändern.

Die Genoss*innen der Initiative „Antisemitismus und Rassismus gemeinsam bekämpfen“ (AnRa) haben anlässlich des System Change Camps in Erfurt einen wichtigen Artikel in der analyse und kritik geschrieben. Sie fragen sich wie antisemitismuskritische und rassismuskritische Räume angesichts dringend notwendiger Allianzen in Zeiten von rechtem Terror aussehen könnten und analysieren, wie selektive Solidarität die Zusammenarbeit mit Betroffenen von rechter Gewalt erschwert.(1)

Gegen Faschismus und Islamismus können wir nur stark werden, wenn wir uns als (post)migrantische Linke verstehen. Nur wenn wir verankert sind in migrantische und auch muslimische Communities und nicht in Misstrauen und Pauschalisierungen verfallen. Es gibt so viele migrantische Genoss*innen auch in Thüringen, die Antisemitismus in der eigenen Community widersprechen und gleichzeitig von weißen Linken kritisch beäugt werden, weil man sich nicht kennt, nicht die gleichen Räume teilt oder was gesagt hat, was irgendwie nach „Antiimp“ klingt.

Rein in die Widersprüche

Ist das die Nahost-Hufeisenerzählung, wenn wir von zwei Teilen der „Extremen“ sprechen, in denen linke Positionen ins Regressive kippen? Auf Twitter, wo beispielsweise das iranische Regime massenhaft antisemitische Propaganda streut, kann man auch lesen, es gäbe keine Zivilisten in Gaza, nein, es gäbe nicht mal Menschen.

Accounts wie „the bear jew“ bieten einen nahtlosen Übergang von Solidarität mit Israel, zu Entmenschlichung von Muslimen zu Abschiebefantasien, Nationalismus und rassistischen Säuberungsfantasien. Auf Instagram stößt man schnell auf ähnliche Memes. Natürlich sind das keine linken Positionen, aber wir müssen dieses Abdriften genauso bekämpfen wie die Pipeline von „Humanitäre Hilfe für Gaza“ zu „Palästinensische Befreiung“ zur Islamismusverharmlosung zur „Achse des Widerstands“.

Parallelen der jeweiligen Feindbilderzählungen sind unübersehbar; vermeintliche Nationalisten, die Linke unterwandern, jedoch intrinsisch reaktionär sind. Wer sich in israelsolidarische Gewässer begibt, dem wird der Eindruck vermittelt, dass ja jetzt niemand im eigenen Lager Netanjahu gut findet und es ja durchaus ok ist israelische Kriegsführung zu kritisieren, nur dass es ja nicht unsere Aufgabe ist, sondern es unsere Aufgabe ist, uns dem grassierenden israelbezogenen Antisemitismus entgegenzustellen.

Woher sollen Menschen wissen, dass hier niemand Netanjahu und Trump gut findet, wenn wir dass nicht ausdrücken? Wem schadet es, aufeinander zuzugehen? Warum nicht auch das Leid in Gaza anerkennen?

Wie Autorin Joana Osman sagt: Wenn wir die leiseste Chance haben wollen, diesen Konflikt irgendwann zu lösen, dann muss es uns irgendwie gelingen, die andere Seite zu rehumanisiseren. Menschen, die wider aller Umstände für die Rehumanisierung der vermeintlichen Feinde kämpfen, werden von der israelischen Rechten als Verräter denunziert und in Gaza von der Hamas ermordet.

Entmenschlichung fängt an beim Sharepic auf dem der Hund eine Wassermelone frisst und die Kriegslogik wird wortwörtlich befeuert, wenn Israel auf Social Media Erfolg für seine Bodenoffensive gewünscht wird. Wenn sich Genoss*innen, die wissen, wie es ist im Krieg zu leben, egal woher sie kommen, dann von uns abwenden, brauchen wir uns wirklich nicht zu wundern.

Wir wünschen uns, dass sich mehr Leute trauen, ihre Widersprüche zu äußern, sich ins Getümmel zu werfen. Das bedarf Fehlerfreundlichkeit und Kompromissfähigkeit. Das muss nicht bedeuten, die klare Kante gegen Antisemitismus aufzuweichen, sondern kann bedeuten, sie mehr Menschen nahezubringen.

Wir wünschen uns von der Erfurter Szene, dass die Brandmarkung anderer Linker als Praxis in den Notfallkasten kommt. Wir sind aus der Kirche ausgetreten, wir werden jetzt nicht unsere Existenz damit verbringen, auf unsere absolute moralische Unbeflecktheit in den Augen der sogenannten Geschichtsschreibung hinzuarbeiten.

Für eine antisemitismuskritische emanzipatorische Friedensbewegung

Autoritäre und islamistische Gruppen stehen allzeit bereit, um Menschen aufzufangen, die von der Situation in Gaza betroffen sind. Sie nutzen die Leerstelle, die wir lassen. Diese Akteure schaffen schwarz-weiß Bilder, vereinnahmen antirassistische Diskurse. Es ist wichtig, dass es Leute gibt, die immer wieder den Antisemitismus aufdecken, veröffentlichen und diesem widersprechen.

Wir bewegen uns aber keinen Schritt weiter, wenn wir dabei bleiben den Antizionismus zu problematisieren, in dem wir uns im Zweifel nicht zu schade sind die Polizei zu rufen oder Leute mit denen wir gerade noch zusammen Demos organisiert haben, mit denen wir im gleichen Jugendverband organisiert sind, auf social media anzugreifen. Wenn wir uns sowieso schon alle so viel mit der Lage in Israel und Palästina, mit der Geschichte auseinandersetzen, wieso tun wir es denn nicht zusammen?

Und zwar nicht auf der Straße, sondern bei Lesungen, Diskussionen, Vorträgen? Wie kann es sein, dass es 1,5 Jahre nach dem 7. Oktober eine Hand voll linke Veranstaltungen zum Thema gab, obwohl sich so vieles darum dreht?

Wir brauchen eine neue antisemitismuskritische internationalistische Bewegung für Frieden, die sich an die Seite derjenigen stellt, die vor Ort, sei es in Israel oder Palästina, in Russland oder der Ukraine, in Belarus, im Jemen, in Kurdistan, im Iran und so weiter für Frieden kämpfen. Einen wichtigen Vorstoß machten Ben Gidley, Daniel Mang, Daniel Randall mit ihrem Text „für eine konsequent demokratische und internationalistische Linke“.(2)

Weder Palästina noch Israel werden so bald verschwinden. Die radikale Linke hat die Chance, eine Friedensbewegung voranzutreiben, die sich klar gegen Antisemitismus, Rassismus und Vergeltungslogik positioniert, ohne dabei in antiimperialistische Verkürzungen oder identitätspolitische Einseitigkeit zu verfallen.

Dazu muss sie sich jedoch von alten dogmatischen Reflexen lösen und eine neue, reflektierte Solidarität entwickeln – oder wir werden auch in Zukunft noch Teil des Problems sein.

1 https://www.akweb.de/bewegung/nur-antideutsche-oder-hamas-fans-antisemitismus-rassismus-wie-linke-debatten-zu-nahost-solidaritaet-verhindern/

2 https://leftrenewal.net/de/german-version/