„Es geht darum, kampfbereit zu sein“

Auffallend junge Rechtsextremisten marschieren seit dem Sommer auf Deutschlands Straßen auf. Jetzt hat ein Thinktank diese neue Generation Neonazis erstmals vermessen.

Joe Düker ist Researcher beim Berliner Thinktank Center for Monitoring, Analysis and Strategy (CeMAS), der die Verbreitung von Verschwörungsmythen, Antisemitismus und Rechtsextremismus analysiert. Düker beobachtet neue Neonazi-Strukturen.

Quelle: https://cemas.io/publikationen/neue-generation-neonazis-mobilisierung-gegen-csd-veranstaltungen/

ZEIT ONLINE: Herr Düker, seit diesem Sommer beobachten Sie verstärkt junge Männer und Frauen, die aggressiv mit rechtsextremen Parolen aufmarschieren, sie beschäftigen Polizei und Sicherheitsbehörden. Sie sagen, es handele sich um eine „neue Generation Neonazis“. Was meinen Sie damit?

Joe Düker: Wir sehen, dass es sich um einen neuen Schwung junger Neonazis handelt, meist männlich, aber nicht nur, die sich hauptsächlich sichtbar online vernetzen und im Netz dazu mobilisieren, auf die Straße zu gehen. Ihre Rhetorik ist stärker und klarer auf Gewalt ausgerichtet, als das zuletzt der Fall war. Das hatten wir in den vergangenen Jahren zuletzt weniger gesehen. Jetzt scheint es wiederzukommen.

ZEIT ONLINE: Die rechtsextreme Szene wächst, ständig tauchen neue Gruppen auf. Wieso sind Ihnen ausgerechnet diese jungen Leute aufgefallen?

Düker: Wir wurden auf diese Entwicklung während des Berliner Christopher Street Day im Juli aufmerksam. Dort hatte die Polizei 28 Leute festgehalten, die die Parade angreifen wollten. Vierzehn von ihnen waren noch minderjährig. Das war ein schockierender Fall, aber damals haben natürlich alle gehofft, dass sich das nicht wiederholt.

ZEIT ONLINE: Das war dann aber nur der Anfang.

Düker: Dieses Jahr war auffällig, zu wie vielen CSD-Veranstaltungen es Gegenmobilisierungen gab. Wir haben 27 rechtsextreme Anti-CSD-Demos gezählt. Nahezu jede dieser Paraden wurde von viel Polizei begleitet, um Gewalt zu verhindern. Die Neonazis riefen rassistische Parolen, bedrängten Teilnehmende. Auf einer Karte eingezeichnet kann man sofort sehen, das ist kein Phänomen in einer bestimmten Region. Wir haben die Aufmärsche bundesweit gefunden. Allerdings fanden die größten Proteste in Ostdeutschland statt. Vielleicht auch, weil sich die rechtsextreme Szene dort besser integriert hat und sich dort sicherer fühlt.

ZEIT ONLINE: Wie viele waren das?

Düker: In Leipzig, Magdeburg oder Görlitz kamen jeweils etwa 400 Leute zusammen. Aber auch in Wismar in Mecklenburg-Vorpommern oder in Döbeln, Sachsen, waren es noch etwa 200. Der größte Protest fand in Bautzen statt, mit 700 Rechtsextremisten auf 1.000 CSD-Teilnehmende. Das waren erschreckende Bilder. Aber in der rechtsextremen Szene kamen sie gut an. Wir gehen davon aus, dass sich Gruppierungen durch diesen großen Protest regelrecht beflügelt sahen.

ZEIT ONLINE: Wie haben Sie diese neue Szene vermessen?

Düker: Wir haben Medienberichte zu CSD-Veranstaltungen analysiert. Anhand von Fotos konnten wir ausmachen, welche Gruppierungen dort vertreten waren, weil sie zum Beispiel eindeutige Flaggen, Banner oder eigenes Merchandise ihrer Gruppen trugen. Wir haben ihre Social-Media-Profile gesucht, die seit einiger Zeit vorwiegend auf Instagram und TikTok neu entstehen, und beobachten seither, wer zu welchen Veranstaltungen mobilisiert, wer wessen Postings teilt. Sie arbeiten schon jetzt zusammen. Wir können sehen, wie sehr sich die Ästhetik der Gruppen ähnelt. Beispielsweise haben sie aufgerufen, nur in schwarzer Kleidung zu kommen. Teilweise sind die Zugehörigkeiten aber auch noch schwammig. Stand jetzt handelt es sich eher nicht um rigide Gruppen, sondern um Zusammenschlüsse, wo verschiedene Personen an verschiedenen Veranstaltungen teilnehmen. Sie nennen sich beispielsweise „Deutsche Jugend Voran“, „Jung & Stark“ oder „Der Störtrupp“.

ZEIT ONLINE: Was ist ihre Agenda? Geht es ihnen hauptsächlich darum, queeres Leben zu stören?

Düker: LGBTQ-Feindlichkeit ist schon immer ein Bestandteil der rechtsextremen Szene gewesen. Und wir haben ja in den vergangenen Jahren gesehen, dass die Feindlichkeit besonders gegenüber trans Personen gewachsen ist. Aber jetzt, wo die CSD-Veranstaltungen für dieses Jahr vorbei sind, suchen sie neue Ziele. Zuletzt gab es in Berlin einen Fall, wo eine Person mit einem Antifa-T-Shirt auf offener Straße angegriffen wurde.

ZEIT ONLINE: In Marzahn. In diesem wie in weiteren Fällen ermittelt sogar die Berliner Staatsanwaltschaft unter anderem gegen Beteiligte von „Deutsche Jugend Voran“, aber auch gegen Mitglieder der Jugendorganisationen der rechtsextremen Partei „Dritter Weg“.

Düker: Das heißt, diese rechtsextremen Jugendorganisationen sind keine reinen Anti-LGBTQ-Organisationen, sondern sie nehmen die gängigen Feindbilder als Zielscheibe. Deswegen sind sie nicht nur eine Gefahr für die queere Community, sondern eben für viele marginalisierte Gruppierungen und die pluralistische Gesellschaft im Allgemeinen.

Neue Neonazis zeigen ihr Gesicht

ZEIT ONLINE: Wenn man sich die Social-Media-Accounts anschaut, fällt auf, wie sie mit Symbolen spielen: Sie lichten sich in Bomberjacken ab, nehmen Bilder vor ihren Kinderzimmerspiegeln auf oder in der Schule. Was passiert da gerade auf Instagram und TikTok?

Düker: Wir haben zeitweilig erlebt, dass sich rechtsextreme Aktivisten nicht offensiv zeigen wollten, sie haben sich vermummt oder versteckt. Jetzt kommen die neuen Neonazis auf die Demos und zeigen einfach so ihr Gesicht und posten das später mehr oder weniger anonymisiert auf ihren Social-Media-Accounts. Dass so viele junge Leute offen mit ihrer rechtsextremen Identität umgehen, zeigt ein wachsendes Selbstbewusstsein. Sie fühlen sich sicher, gehen davon aus, dass sie Zuspruch bekommen oder weniger negative Gegenreaktionen erwarten müssen.

ZEIT ONLINE: Nur gibt es in der Bundesrepublik eigentlich schon jede Menge rechtsextreme Gruppen, auch im Neonazi-Milieu, das Angebot ist also längst da. Was macht diese neuen, bislang unbekannten Gruppen so attraktiv?

Düker: Vermutlich das unverfrorene, plakative und explizite Zurschaustellen der eigenen rechtsextremen Ideologie. Ihre Mitglieder kaschieren ihre extremen Ansichten nicht. Das kann für junge Leute sehr attraktiv sein, die eigene Ideologie laut und selbstbewusst nach außen zu tragen. Sie spielen sich auf, stellen sich als stark dar, und das in aller Öffentlichkeit. An Parteiarbeit zeigen sie bislang kein Interesse. Dafür werben sie mit Kampfsport. Es geht allerdings weniger um den Sport selbst, sondern mehr darum, kampfbereit zu sein.

ZEIT ONLINE: Haben wir es hier schon mit einer Jugendkultur zu tun oder ist das ein kurzer, aufflackernder Trend?

Düker: Das gilt es, in den kommenden Jahren zu beobachten. Ich glaube, diese neuen Gruppen erinnern daran, dass die extreme rechte Szene sehr unterschiedliche Interessen bedienen kann. Sie haben einen anderen Stil als die Identitäre Bewegung. Auch die Junge Alternative zieht einen anderen Typus an. Hier haben wir es mit einer Art Straßenkultur zu tun.

ZEIT ONLINE: In ihrem neuen Research Paper findet sich auch eine Gruppe wieder, die im Sommer vor den Europawahlen öffentlich bekannt wurde: Die „Elblandrevolte“ aus Sachsen. Deren Mitglieder hatten den SPD-Politiker Matthias Ecke beim Plakatieren angegriffen und ihm mehrere Gesichtsknochen gebrochen. Sind es solche Straßenangriffe, wohin diese Bewegung steuert?

Düker: Ja, das gehört dazu. Wir haben gesehen, dass Mitglieder der Elblandrevolte nach dem Angriff auf Matthias Ecke zu Anti-CSD-Protesten mobilisiert haben, ihre Followerzahl stieg dann innerhalb weniger Wochen an. Die „Elblandrevolte“ ist allerdings eine Gruppierung, die eng verbunden ist mit der Jugendorganisation der „Heimat“, ehemals NPD. Die Tatsache, dass Mitglieder der Elblandrevolte explizit Leute im Wahlkampf angriffen, zeigt, dass für demokratische Kräfte auch im kommenden Wahljahr eine riesige Gefahr durch solche Gruppen besteht.

ZEIT ONLINE: Am Ende landet man also wieder bei alten Neonazistrukturen. Was lässt sich aus Ihrer Sicht unternehmen, um zu verhindern, dass sich diese neue Bewegung verfestigt?

Düker: Es gab zwar vereinzelt Fälle, wo Accounts von Gruppen oder ihren Mitgliedern gelöscht wurden. Aber die meisten sind immer noch online. Es wäre wichtig, die Vernetzungen online zu zerschlagen. So ließe sich die Verfestigung dieser Gruppierungen einschränken.