Neuanfang in Mittelsachsen? – Was zieht einen einschlägig vorbestraften Neonazi aus dem Westen zu den „Freien Sachsen“?

Ein „Historiker“ sticht auf der Wahlliste der „Freien Sachsen“ für die Kreistagswahl in Mittelsachsen heraus. Vor Ort ist der Mann kaum bekannt. Wer seinen Namen googelt, landet bei einem extrem rechten verurteilten Gewalttäter. Ist es derselbe Mann? Eine Spurensuche.

Frauenstein. Der rechtsextremen Kleinstpartei „Freie Sachsen“ ist es gelungen, flächendeckend in Mittelsachsen Kandidaten zur Kreistagswahl aufzustellen. Unter Facharbeitern, Selbstständigen und Rentnern sticht dabei ein Akademiker im Wahlkreis 11 hervor: Historiker hat Thorsten Crämer, 1975 geboren und wohnhaft in Frauenstein, als Beruf angegeben.

Wer den Namen googelt, landet schnell beim Juli des Jahres 2000: Damals hatten bewaffnete Neonazis eine Gedenkfeier für ein KZ-Mahnmal in Wuppertal gestürmt. Mehr als zwölf Neonazis attackierten friedliche Demonstranten mit Messern, Steinen, Schlagstöcken und Reizgas. Den Rädelsführer der Schlägertruppe verurteilte das Landgericht Wuppertal 2001 zu zwei Jahren und drei Monaten Haft: Er hieß Thorsten Crämer, war 1975 geboren, NPD-Ratsherr im nordrhein-westfälischen Schwelm und Vorsitzender der NPD-Jugendorganisation „Junge Nationaldemokraten“.

Kandidat der „Freien Wähler“ ist ein Zugezogener in Frauenstein

Ist das der Thorsten Crämer, der in Frauenstein für die „Freien Sachsen“ antritt? Der Mann, der so heißt, sagt Frauensteins Bürgermeister Reiner Hentschel, sei zugezogen. Vor einiger Zeit habe er in der Stadt ein Haus gekauft, ansonsten sei wenig bekannt. Groß in Erscheinung getreten ist dieser Mann auch für die „Freien Sachsen“ nicht. Sie haben bisher nur zwei Beiträge mit ihm auf ihrem Telegram-Kanal geteilt, aus denen kaum etwas hervorgeht.

Thorsten Crämer sei tatsächlich Historiker, sagt hingegen der Publizist Volkmar Wölk, der zur rechtsextremistischen Szene forscht. „Er ist ein herausragendes Beispiel, wie die ‚Freien Sachsen‘ überhaupt aussehen: Wir haben es nicht mit irgendwelchen jungen Nachwuchskadern zu tun, sondern mit Leuten, die zum Teil eine jahrzehntelange Erfahrung aus der Neonazi-Szene auf dem Buckel haben“, ordnet er ein.

Bundesweit gut vernetzt mit „allen Strömungen der extremen Rechten“

Dafür spreche auch seine Facebook-Seite und deren fast 700 Personen umfassende Freundesliste. Ein „buntes Panorama von allen Strömungen der extremen Rechten“, betont Wölk. „Das zeigt, wie vernetzt er ist.“ Mit dem Profilfoto des dort „Craemer“ Geschriebenen werben die „Freien Sachsen“. Ein paar der Fotos finden sich übereinstimmend auch auf einem Profil im russischen sozialen Netzwerk „VKontakte“. Dort steht auch ein Geburtsdatum, das sich mit dem des damaligen Angeklagten deckt.

2012 sei der zwar aus der NPD ausgetreten, „aber er war nie weg“, sagt der Experte. So sei er später der Landesgeschäftsführer der Bürgerbewegung „Pro NRW“ gewesen, eine Art rechter Sammlungsbewegung wie die „Freien Sachsen“.

Die Generation, die ab Anfang der Neunziger in den „Baseballschlägerjahren“ als Schläger aktiv war, tauche nun als „Elterngeneration“ wieder in der Szene auf, beschreibt Wölk. „Es sind Leute, die hierher kommen und allein durch ihre Anwesenheit Anziehungspersonen werden, für die jungen, die zwar rechtes Gedankengut im Kopf haben, aber noch nirgends organisiert sind“, beschreibt er.

Experte: Generation der „Baseballschlägerjahre“ taucht als „Elterngeneration“ wieder auf
Dadurch seien rechtsextreme Hotspots entstanden, von denen Mittelsachsen nur einer sei. Weitere gebe es um Halberstadt und Wernigerode, im Kreis Vorpommern-Greifswald oder auch in der Lüneburger Heide. „Auch da sehen wir Leute mit langjähriger Organisationserfahrung, die sich billig Immobilien kaufen, konzentriert dort niederlassen und anfangen, politische Arbeit zu machen“, beschreibt er. Mit der Initiative „Zusammenrücken in Mitteldeutschland“ warben Rechtsextreme regelrecht für einen Umzug ins Ländliche.

Was Crämer letztlich nach Mittelsachsen geführt hat, bleibt offen. Auf Facebook antwortet er nicht. Auch die „Freien Sachsen“ reagieren auf Fragen zu ihrem Kandidaten nicht.

Ausschlaggebend könnten die günstigen Immobilienpreise sein, sagt Wölk. „Ein Neuanfang lässt sich hier natürlich viel besser bewerkstelligen als im Westen, wo es nicht lange unentdeckt bleibt, wer da neu ist.“ Durch Gleichgesinnte kämen die Leute im Osten leichter unter, fänden einen Beruf. Aber warum bleiben Sie dann in ihrer politischen Schiene haften? „Das sind Überzeugungstäter“, sagt Wölk, „Crämer war ja nie nur ein kleiner Mitläufer.


21.05.2024 Manuel Niemann

Phänomen „Freie Sachsen“: Wie die rechtsextreme Partei mit alten Strukturen in Mittelsachsen Fuß fasst

Die rechtsextreme Partei „Freie Sachsen“ stellt in Mittelsachsen mitunter mehr Personal zur Kreistagswahl als die AfD. Wie konnte die Kleinstpartei so schnell so viel Potenzial mobilisieren?

Mittelsachsen.Die extrem rechten „Freien Sachsen“ treten flächendeckend zur Kreistagswahl im Landkreis an. Zum Teil mit mehr Personal als die AfD. Wie ist ihnen diese Mobilisierung gelungen? Wie kommt es, dass die rechtsextreme Kleinstpartei, die erst 2021 gegründet wurde, aus dem Stand so viel potenzielles Personal aufbringen kann?

So ganz „aus dem Stand“ passiere das nicht, sagt Steven Hummel vom Dokumentationsprojekt „chronik.LE“, das neonazistische, rassistische und diskriminierende Vorfälle in Leipzig und den umliegenden Landkreisen dokumentiert und analysiert. Er sagt, hier finden sich zum Teil schlicht alte Strukturen der NPD, deren Jugendorganisation sowie weitere Akteure aus der Neonazi-Szene unter einem neuen Label wieder. „Dann alles, was über die unzähligen Corona-Proteste, ‚Montagspaziergänge‘ und so weiter radikalisiert und eingesammelt wurde, bis hin ins Reichsbürger-/Verschwörungsspektrum“, beschreibt er. Daran arbeiteten die „Freien Sachsen“ seit rund drei Jahren.

Alte rechtsextreme Strukturen unter neuem Label

Nach eigenen Angaben wollen sie sich bei den Wahlen auf die kommunale Ebene konzentrieren und warben dort früh für Kandidaten.

Sachsenweit sind sogar es die meisten, mit dem die rechtsextreme Kleinstpartei zur Kreistagswahl am 9. Juni im Landkreis antrete, ordnet das Landesamt für Verfassungsschutz Sachsen (LfV) auf Anfrage ein. Nach den Einschätzungen der Verfassungsschützer profitieren die „Freien Sachsen“ dabei vom „desolaten Zustand“ der rechtsextremistischen Partei NPD, die sich inzwischen in „Die Heimat“ umbenannt hat. „Einzelne – auch hochrangige -‚Die Heimat‘-Mitglieder haben sich inzwischen unter dem Dach der ‚Freien Sachsen‘ zusammengefunden und bringen ihr personelles und organisatorisches Wissen in deren Parteiarbeit mit ein“, beschreibt ein Referent des LfV.

Nach Erkenntnissen des LfV Sachsen ist dabei Stefan Trautmann ein Hauptakteur der „Freien Sachsen“ im Landkreis: „Der bekannte Rechtsextremist Trautmann stammt aus der neonationalsozialistischen Szene und war in der Partei ‚Die Heimat‘ und deren Jugendorganisation ‚Junge Nationalisten‘ aktiv“.

Mit Lutz Giesen trete ein weiterer führender Rechtsextremist für die „Freien Sachsen“ im Landkreis zu den Kommunalwahlen in Mittelsachsen an, der in den vergangenen Jahren den sogenannten „Trauermarsch“ der rechtsextremistischen Szene anlässlich des Jahrestages der Bombardierung Dresdens im Zweiten Weltkrieg angemeldet habe. Nach dem Verbot der „Artgemeinschaft – Germanische Glaubens-Gemeinschaft wesensgemäßer Lebensgestaltung“ habe er sich den „Freien Sachsen“ angeschlossen.

Sammelbecken für Rechtsextreme und darüber hinaus

Daneben profitierten die „Freien Sachsen“ von ihrer inzwischen etablierten Rolle als „Mobilisierungsmaschine“ für extremistische, aber auch nicht extremistische Proteste. Auch weil sich die Partei nach Eigenaussage als Sammlungsbewegung verstehe. Das macht sie offen und anschlussfähig, wie mehrere Gesprächspartner wie etwa das Kulturbüro Sachsen bestätigen. Unter ihrem Dach wirken verschiedene extremistische und nicht extremistische Akteure zusammen, bündeln ihre Kräfte und Aktivitäten, beschreibt es das LfV, „ohne dass die Einzelnen sich einer fixen Doktrin unterwerfen müssen.“

Dabei schlössen die „Freien Sachsen“ explizit Partei-Doppelmitgliedschaften nicht aus und seien nach eigenen Angaben zu einer Zusammenarbeit bereit, wenn man „in nur einem Punkt“ übereinstimme. Das trägt auch zum Erfolg bei: Akteure bringen ihre potenziellen Anhänger mit.

Dadurch, dass sie möglichst viele Kandidaten aufstelle, mache die Partei sich auch größer, sagt Steven Hummel. Im Falle der „Freien Sachsen“ könnte dies auch geholfen haben, die 18 notwendigen Unterstützungsunterschriften pro Wahlkreis für die Kreistagswahlen zu sammeln: Die Aufgestellten brachten diese Stimmen mit.

Ob jeder Gewählte das Mandat auch annehme, sei offen, sagt Hummel. Er kenne Beispiele aus dem Landkreis Leipzig aus dem „Neuen Forum für Wurzen“, wo Menschen ihr Mandat nicht antraten, mutmaßlich weil ihnen nicht bewusst war, wofür sie angetreten waren.