Was bringen die Anti-AfD-Demos?

Seitdem die „Remigrations“-Pläne der AfD bekannt wurden, sind Millionen gegen Rechtsextremismus und für Demokratie auf die Straße gegangen, auch in Sachsen. Doch was hat das eigentlich gebracht? Ein Streitgespräch.

Seit Ende Januar erlebt Deutschland die größten Massenkundgebungen für Demokratie und gegen Rechtsextremismus seit dem Herbst 1989. Dresden, Leipzig, Bautzen, Pirna: Der Protest ist landesweit. Welche Bedeutung haben diese Proteste und welche Wirkung haben sie? Geht da wirklich die Mitte der Gesellschaft auf die Straße? Für den Podcast „Debatte in Sachsen“ diskutierten Sachsens Innenminister Armin Schuster (CDU), Historikerin Annalena Schmidt und Pfarrer Christian Tiede.

Die Kundgebungen gegen Rechtsextremismus und für Demokratie haben auch in Sachsen viel Zulauf. Wie gefährlich sind der Rechtsextremismus und die laut Verfassungsschutz auch in Sachsen „gesichert rechtsextreme“ AfD für Sie, Frau Schmidt?

Schmidt: Der Rechtsextremismus in Sachsen ist die größte Gefahr für Demokratie, für gesellschaftliches Zusammenleben, für die Sicherheit auch von einzelnen Personen. Hier gibt es eine rechtsextreme Szene, die auch öffentlich massiv auftritt und versucht, ihre Hegemonie im Alltag auf die Straße zu tragen.

Was bedeutet das?

Schmidt: Dass zum Beispiel in Bautzen eine junge Szene von Menschen im Alter von etwa 14 bis 20 Jahren eine wirklich harte rechtsextreme Jugendkultur darstellt und eng vernetzt ist mit der verfassungsfeindlichen „Identitären Bewegung“ oder dem neonazistischen „Dritten Weg“. Die ziehen mit ihren Inhalten und auch Freizeitangeboten extrem viele junge Menschen an. Das ist in vielen anderen Regionen ähnlich, vor allem in ländlichen Gebieten. Deshalb erfordert es aus meiner Sicht riesigen Mut, in diesen Regionen dagegen auf die Straße zu gehen. In Dresden sind die Kundgebungen dagegen schon fast Wohlfühldemos, nach denen man mit anderen noch in Ruhe eine Pizza essen und einen Wein trinken gehen kann. In Bautzen hingegen sammeln sich am Rand die rechtsextremen Jugendlichen und versuchen, die Teilnehmenden einzuschüchtern.

Seit den Veröffentlichungen von AfD-Plänen für die Ausweisung von Millionen Menschen aus Deutschland, auch von Staatsbürgern, gab es auch in Sachsen eine regelrechte Welle von Demonstrationen für Demokratie und gegen Rechtsextremismus. Hat Sie das überrascht, Herr Schuster?

Schuster: Es ist eine der auffälligsten politischen Neigungen der Sächsinnen und Sachsen, sich zu versammeln und zu demonstrieren. Allein jeden Montag haben wir 50 Demos mit insgesamt zwischen 5.000 und 7.000 Teilnehmern. Insofern war ich wirklich nicht überrascht. Nachdem anderswo in Deutschland die ersten großen Demos für Demokratie begonnen hatten, wusste ich: Bald geht es auch hier los.

Schmidt: Aber wenn ich sehe, was beispielsweise in Bautzen montags auf die Straße geht, etwa ein Jugendblock mit dem Banner „Wir sind die Jugend ohne Migrationshintergrund“, der dort hinter einem als gesichert rechtsextrem eingestuften Menschen hinterherläuft, dann ist das schon noch etwas Besonderes. In Dresden sprach unlängst auf einer Montagskundgebung Martin Kohlmann, Vorsitzender der rechtsextremen Freien Sachsen. Auch diese Proteste sind eine Gefahr für die Demokratie.

Herr Pfarrer Tiede, bleiben wir noch kurz in Bautzen: Anders als bei den ersten Demos in Dresden, die von eher linken Gruppierungen veranstaltet wurden, organisiert die Bautzner Kundgebungen ein breites Bündnis inklusive Vertreterinnen der CDU. Wie haben Sie das geschafft?

Tiede: Die bisherigen drei Bautzner Demonstrationen hatten wirklich eine andere Zusammensetzung aus der Bürgerschaft, als wir das in den vergangenen Jahren beobachtet oder erhofft hatten. Also die Reaktion auf die Veröffentlichungen von Correctiv waren für viele Leute in Bautzen ein wirklicher Schreckmoment, nach dem sie gesagt haben: „Jetzt ist das Maß voll, jetzt muss ich mich engagieren.“ Eine erste Öffnung konnte man allerdings schon vorher sehen bei der Gruppe von „Bautzen gemeinsam“. Da sind jetzt Kommunalpolitiker dabei, Christdemokraten, katholische Kirche, evangelische Kirche, ein Handwerker ist mit im Gremium…

Das heißt, diese „Verbreiterung“, wenn man es mal so nennen möchte, hat sich von alleine eingestellt?

Tiede: Von allein sicherlich nicht. Aber ich denke schon, dass viele Leute, gesagt haben: „Na wenn der da hingeht, muss was an der Sache dran sein.“ Und über deren Netzwerke sind wieder andere dazu bewegt worden, mitzumachen. Das hat in Bautzen zur Mobilisierung der Stadtgesellschaft geführt in einem Maße, wie wir das bisher in den letzten Jahren so nicht gesehen haben. Viele Menschen waren sich vorher nie begegnet, haben nichts voneinander gewusst und zum ersten Mal gemerkt, dass es in Bautzen so viele gibt, die ähnliche Ideale teilen und Ideen für die Entwicklung unserer Gesellschaft, unserer Stadt.

Schuster: Genau aus dem Grund war ich bei einer der Demonstrationen auf der Bühne.

Das scheint mir überhaupt gerade in kleinen Städten wie Zittau, Dippoldiswalde oder Torgau ebenfalls eine wichtige Motivation zu sein: Dass Menschen plötzlich merken, dass sie nicht alleine mit ihren Überzeugungen sind. Demnach hätte der Erfolg der Demos für Demokratie auch etwas mit Selbstvergewisserung zu tun.

Tiede: So funktioniert Demokratie, dass man schaut, mit wem man auf einer Wellenlinie ist, mit wem man etwas entwickeln und Allianzen schmieden kann – und vor wem man sich inhaltlich in Acht nehmen muss.

War das auch Ihre Motivation, Herr Schuster?

Schuster: Zur zweiten Demo in Bautzen wurde ich offiziell angefragt. Ich wusste sofort, von wem diese Bitte kam, weil ich ja schon einmal zu einer Bautzner Rede im Dom eingeladen worden war, daher kannte ich die Organisatoren schon. Außerdem ging es eindeutig und wörtlich gegen Rechtsextremismus, nicht pauschal „gegen rechts“, weil die Organisatoren verstanden hatten, dass das verkürzte Motto auch vergiftet sein könnte. Als ich auf die Bühne ging, habe ich vorher zu meinem Betreuer von „Bautzen Gemeinsam“ gesagt: „Jetzt werden Sie ein Pfeifkonzert erleben.“ Aber ich habe dann vielleicht zehn Minuten gesprochen und war sehr erstaunt: Kein Pfeifkonzert, keine Buhs, mehrfach Zwischenapplaus. Am Ende sogar großer Applaus. Ich war wirklich baff. Aber die Entscheidung, in Dresden als Zuschauer zur Demo zu gehen, war einfältig, das gebe ich zu.

Dort sind Sie von der Bühne wegen Ihrer harten Zuwanderungspolitik angegriffen worden. Wie haben Sie das empfunden?

Schuster: Ich war als interessierte Privatperson da. Es sind auch viele Menschen in der Menge auf mich zugekommen und haben mir gesagt, sie würden sich sehr darüber freuen, dass ich da bin. Aber in dem Moment, als man mich von der Bühne angegangen hat, wurde mir natürlich deutlich, dass ich mit Blick auf meinen Beruf gerade ziemlichen Unfug gemacht habe. Ich muss einräumen: Die Motivation des Menschen Schuster passt vielleicht gar nicht immer so optimal zum Beruf. Ich bin ja auch der Leiter der obersten Versammlungsbehörde von Sachsen. Ich finde es immer noch gut, dass ich in Bautzen als Redner aufgetreten bin. Aber es war innerlich schon ein gewisser Kampf. Vielleicht kann ich in dieser Funktion keine politische Motivation äußern, vielleicht darf ich das auch gar nicht. In Dresden wurde ich nach den verbalen Attacken dann auch, sagen wir: freundlich beraten von Polizeibeamten.

Dass Sie vielleicht doch lieber nach Hause gehen sollten?

Schuster: Ja. Ich habe dann aber von der Seite noch ein bisschen zugehört, und im Ergebnis denke ich: Wenn diese Versammlungen ihre Bedeutung behalten wollen, dann muss man dafür sorgen, dass sie nicht parteipolitisch instrumentalisiert werden.

Frau Schmidt, das Demo-Motto der ersten Dresdner Kundgebungen lautete „Gegen rechts“. Nun ist aber auch die CDU nach der klassischen politischen Richtungseinteilung, als „Rechts“ noch kein Sammelbegriff für Rechtsextrem- ismus und –radikalismus war, ebenfalls eher rechts im Sinne von „konservativ“. Ist es da nicht für eine Bewegung, die möglichst viele Demokraten und Demokratinnen ansprechen will, ziemlich kontraproduktiv, viele in der CDU-Wählerschaft schon durchs Motto auszugrenzen?

Schmidt: Ja. Es gab ja in Dresden inzwischen vier große Demos. Zur zweiten, die von Fridays For Future organisiert war, bin ich als Teilnehmerin gegangen. Als ich auf den Schloßplatz kam und die Menschenmenge sah, dachte ich spontan: Gut, dass der Lautsprecherwagen so klein ist.

Waren Sie an der Organisation beteiligt?

Schmidt: Nein. Aber die jungen Menschen von Fridays For Future hatten mich vorher noch angefragt, ob ich Ihnen zwei Pfarrer als Redner vermitteln könnte, weil sie noch ausgleichende Beiträge wollten. Die Pfarrer haben dann leider erst auf der Abschlusskundgebung gesprochen. Ich habe mich anfangs selber nicht wohlgefühlt, weil ich gesehen habe, dass einige Redebeiträge auf dem Schloßplatz auch in meinem Umfeld echt nicht gut angekommen sind.

Es war ja auch ein wenig paradox, auf einer Demo gegen die EU-feindliche AfD von der Bühne selbst EU-Feindlichkeiten zu hören.

Schmidt: Ich war sehr froh, dass sich nach der Kundgebung eine Gruppe gefunden hat, die gesagt hat: Wir müssen diesen Drive mitnehmen, die Demos aber auch unbedingt breiter aufstellen. Und wenn Sie sich jetzt die Liste der Unterstützenden anschauen: Die CDU ist dabei, die FDP, SPD, Grüne, Kirchen – insgesamt über hundert Organisationen, Gruppen und Personen. Und man ist bemüht, nicht nur gegen etwas zu sein. Vielmehr sehe ich das Bemühen, die positiven Seiten der Demokratie herauszustellen, auch auf der Bühne ein breites Spektrum an Rednerinnen und Rednern zu haben, aber ganz bewusst keine Politikerinnen und Politiker.

In Bautzen zum Beispiel ist das aber so. Warum in Dresden nicht?

Schmidt: Weil es durchaus auch Kritik an der CDU gibt. Und als ich erfahren habe, dass die CDU im Dresdner Stadtrat einen Antrag der AfD mitgetragen hat und sich auch in den Äußerungen des Bautzner Landrats gezeigt hat, dass die CDU eben keine Brandmauer zur AfD ziehen will, habe ich mir schon überlegt, ob es eine gute Idee ist, dass die CDU die Aufrufe zu den Kundgebungen mit unterzeichnet.

Tatsächlich hat der Landrat Udo Witschas gegenüber der Sächsischen Zeitung und Sächsische.de gesagt, die Demos gegen Rechtsextremismus und für Zusammenhalt würden die Spaltung der Gesellschaft noch vertiefen. Was halten Sie von dieser Interpretation Ihres Parteikollegen, Herr Schuster?

Schuster: Ich habe nur die Worte von Herrn Witschas gelesen, die in der Sächsischen Zeitung abgedruckt waren. Ich bin mir nicht sicher, was er genau gemeint hat. Aber eines kann ich sagen: Auf der Mehrzahl der Kundgebungen in ganz Deutschland geschieht genau das, was der Reflex von Frau Schmidt gerade gezeigt hat: Es geht bei zu vielen der Demos immer auch darum, der CDU irgendwie noch vors Schienbein zu treten. Ich könnte mir vorstellen, dass Herr Witschas das gemeint hat, als er sagte, die Demos würden die Spaltung der Gesellschaft noch vertiefen, wenn diese Versammlungen konservative Politiker nicht ertragen.

Schmidt: Ich weiß, dass die Organisatorinnen der „Wir sind die Brandmauer“-Demo sehr darauf bedacht waren, dass alle Parteien den Aufruf unterzeichnen. Man hat sich sehr bemüht, auch mit der CDU und der FDP in Kontakt zu kommen, weil man alle demokratischen Parteien mit im Boot haben wollte. Und wenn ich sehe, dass die CDU in Dresden diese Kundgebung unterstützt, aber ein CDU-Landrat in Bautzen die Demos „Wir sind die Brandmauer“ für spalterisch hält, schwingt da bei mir natürlich auch Enttäuschung mit.

Schuster: Ich habe mit dem Begriff „Brandmauer“ ebenfalls Probleme. Schon seit Friedrich Merz ihn formuliert hat.

Tiede: Das geht mir auch so.

Warum?

Tiede: Wenn ich eine Brandmauer aufziehe, habe ich für mich die Chance ausgeschlossen, dass ich mit irgendjemandem noch ins Gespräch kommen kann, weil eine Brandmauer wahrscheinlich auch nicht schalldurchlässig ist. Wie soll ich da versuchen, jemandem meine Überzeugungen vom gesellschaftlichen Zusammenleben nahezubringen?

Wie tun Sie das sonst?

Tiede: Es ergeben sich immer wieder Gespräche mit Menschen, die es überhaupt nicht gut fanden, dass ich mich als Pfarrer und als Kirchenmensch für die Kundgebungen engagiere. Ich kann natürlich nicht sagen, wie sie danach denken, ob sie sich etwas angenommen haben. Aber sie haben sich zumindest angehört, wie ich das sehe, und ihre Meinung mal von jemandem hinterfragen lassen, was ja in den Blasen, in denen wir uns ja alle irgendwie bewegen, nicht mehr so oft passiert. Insofern ist es mir wichtig, zumindest die Chance offenzulassen, dass man sich noch begegnet.

Schuster: Eben deswegen habe ich den Begriff Brandmauer auch immer kritisiert. Es ist nahezu unmöglich, so etwas durchzusetzen. Wenn etwa der AfD-Landrat in Thüringen einem Bürgermeister von CDU, SPD oder Grünen mitteilt, dass die Bemühungen aller Parteien für eine Umgehungsstraße erfolgreich waren und das Projekt durchgekommen ist – darf der Bürgermeister das dann annehmen? Und darf ich als Innenminister noch ans Telefon gehen, wenn mich der Bürgermeister von Pirna anruft, weil er ein echtes Problem hat, das mich fachlich betrifft?

Und wenn Sie es tun?

Schuster: Dann höre ich garantiert: „Guck dir den Schuster an, der ist also auch jenseits der Brandmauer und geneigt, mit denen zusammenzuarbeiten.“ Nein, bin ich politisch überhaupt nicht, nicht im Geringsten! Aber ich werde weiter gewissenhaft meine Arbeit machen.

Die Dresdner Demos heißen nun, wie die anderen Großkundgebungen, ebenfalls „Wir sind die Brandmauer“. Wäre das für Sie ein Grund, nicht hinzugehen?

Schuster: Das käme darauf an, wie die ganze Konstellation dahinter ist. Ich gebe zu: Bevor ich in Bautzen als Redner aufgetreten bin, habe ich mich auch darüber informiert, wie die Veranstaltung genau heißt. Und ich würde niemals auf einer Versammlung „gegen rechts“ auftreten. Nicht als Christdemokrat, wir sind ja eine Mitte-Rechts-Partei als traditionelle Konservative.

Schmidt: Ich habe allerdings den Eindruck, dass die sächsische CDU ein größeres Problem mit den Grünen hat als mit der AfD, weil vor allem die Grünen massiv attackiert werden. Dieses Bashing, das Sie beklagen, Herr Schuster, geht in beide Richtungen. Und ich glaube, wir müssen insgesamt in der politischen Diskussion dahin kommen, die demokratischen Parteien nicht als Gegner zu betrachten, sondern als Mitbewerber. Der politische Gegner sollte für alle die AfD sein.

Schuster: Einspruch, Frau Schmidt! Die AfD formuliert in brutalster Härte: Der Hauptfeind, den es zu vernichten gilt, ist die CDU! Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass wir die als Mitbewerber oder Gegner sehen und mit den Grünen oder den Sozialdemokraten in eine Reihe stellen? Der Begriff „Mitbewerber“ wäre ja fast eine Adelung für die AfD, die gehören in eine ganz andere Kategorie. Damit machen wir uns nicht gemein.

Schmidt: Mit „Mitbewerber“ meine ich natürlich die demokratischen Parteien. Aber ich habe als Bürgerin des Freistaates Sachsen an manchen Stellen den Eindruck, dass auch die CDU vor allem die Grünen als Hauptfeind betrachtet.Schuster: Was Sie da jetzt als so hart erleben: Dass wir als CDU und die Grünen weit auseinander sind, ist klar. Aber wir betrachten die Grünen als total seriösen Mitbewerber, den es jedoch zu schlagen gilt, und zwar möglichst deutlich.

Ich versuche mal, mich in einen Sozialdemokraten oder Grünen oder jemanden von der FDP hineinzuversetzen: Wenn ich von meinem sächsischenMinisterpräsidenten höre, das Handeln der Ampel-Regierung sei wörtlich „schädlich für die Demokratie“ und der Staat „übergriffig“ – wohlgemerkt nicht „die Regierung“ –, dann würde ich mich auch fragen, wer denn eigentlich der wichtigste Hauptgegner ist. Wie sehen Sie das, Herr Tiede?

Tiede: Es gibt trotzdem immer noch einen großen Unterschied: Die AfD redet von Feinden, die es zu vernichten gilt. Das ist schon etwas Besonderes. Alles andere ist der Hitze des politischen Geschäfts geschuldet, würde ich sagen. Ich bin aufgewachsen an einem Küchentisch, wo immer heiß diskutiert wurde und unterschiedlichste Meinungen aufeinandergeprallt sind. So funktioniert auch Politik. Das heißt nicht, dass man sich immer gleich mögen muss, aber dass man argumentativ solide und mit Anstand streitet. Das ist etwas, das man auch ertragen muss. Aber diese Kultur des politischen Streits, die haben wir verlernt. Wir haben sie vielleicht hier im Osten auch nie gelernt. Deswegen kommt dann auch immer so schnell dieses Gerede von der gespaltenen Gesellschaft auf.

Ein Spruch, der vor allem den Spaltern nutzt und eben deshalb von ihnen so gerne benutzt wird.

Tiede: Und dann zu sagen, unsere Kundgebungen in Bautzen würden die Gesellschaft spalten – um Himmels Willen, nein! Wir haben von vornherein gesagt, wir sind vor allem für etwas, nämlich für die Demokratie, für die Menschen. Wir wollen ein Gesamtbild von einem Zusammenleben in Bautzen zeichnen, das für etwas steht, mit freundlichen Menschen, die miteinander leben, auch über alle Unterschiedlichkeiten hinaus. Nicht diese Trillerpfeifen-Konzerte, die wir montags haben.

Aber welchen Erfolg haben die Brandmauer-Kundgebungen? Ein Ziel ist es, den Aufstieg der rechtsextremen AfD zu bremsen. Bundesweit scheint das zu gelingen, die jüngsten Zahlen deuten Verluste der Partei von rund fünf Prozent an. In Sachsen lässt sich das so eindeutig nicht beobachten. Manche denken deshalb, die Kundgebungen seien mit ihrem Hauptanliegen gescheitert. Wie sehen Sie das?

Schuster: Ich würde das gar nicht so einteilen in Gut und Böse oder Scheitern und Erfolg. Es ist doch vor allem grundsätzlich positiv, dass Menschen sich friedlich versammeln, ob es nun 40.000 sind oder 20.000 oder wie in Bautzen 2.000. Ich glaube auch nicht, dass die Leute zu den Kundgebungen kommen mit dem Gedanken: „Jetzt schauen wir mal, dass wir die Wahlprognosen der AfD runterkriegen.“ Die innere Motivation vieler, die ich getroffen habe, war eine ganz andere. Sie waren teils zum ersten Mal auf einer Kundgebung. Ich habe das als Mensch sehr wohltuend empfunden, muss ich ehrlich sagen. Das ist mir wichtiger als die Frage, ob die AfD dadurch ein halbes Prozent verliert oder nicht.

Die Sehnsucht nach Selbstbestätigung und Selbstvergewisserung ist natürlich eine starke Motivation vieler Teilnehmenden. Erst recht in Regionen, wosich seit Jahren Leute von der AfD,den Freien Sachsen oder ähnlichen Gruppierungen die Straßen und Plätze angeeignet haben und sich Anders-gesinnte kaum noch trauen, öffentlichihre Meinung kundzutun. Spieltumgekehrt Angst auch eine Rolledabei, dass viele Menschen nicht zuden Demos für Demokratie gehen?

Schmidt: Auf jeden Fall, gerade in den ländlichen Regionen. Ich habe sehr viele Demos erlebt und beobachtet, und es ist leider wirklich so, dass sich dort Rechtsradikale und Rechtsextreme am Rand sammeln und versuchen, ein Bedrohungsszenario aufzubauen. Bei der ersten Demo in Dippoldiswalde wurden sogar Polizistinnen und Polizisten aus dem örtlichen Revier angegriffen. Wenn die um Unterstützung bitten, braucht die Bereitschaftspolizei eine Weile, um aus Dresden dahinzukommen und ihre Kollegen zu unterstützen. In der Zwischenzeit kann viel passieren. Das schreckt natürlich Menschen ab, zu einer Kundgebung zu gehen, wenn sie sehen, dass man im Zweifelsfall nicht geschützt ist.

Herr Schuster, wir sprachen bereits darüber: Der Schutz der Bevölkerung auch auf Kundgebungen gehört zu Ihren Kernaufgaben. Wir wissen aber auch, dass die Polizei nicht immer überall sein kann, erst recht nicht bei dieser Vielzahl von Demos in Sachsen. Müsste man insofern nicht ehrlicherweise sagen: Tut uns leid, aber ein gewisses Risiko müsst ihr schon eingehen?

Schuster: Nicht die Polizei entscheidet über das Untersagen einer Kundgebung oder Demonstration, das machen die jeweiligen Versammlungsbehörden. Und wenn eine rechtsextreme Demo von der Versammlungsbehörde nicht untersagt wird, darf die ihres Weges ziehen. Dann hat die Polizei auch den Auftrag, diese Versammlung zu ermöglichen. Wir können uns das ja nicht aussuchen. Natürlich kommt es dann oft zu einer Gegendemo, auf der es dann immer wieder heißt: „Die Polizei schützt die Rechtsextremisten!“ Da muss ich einfach um mehr Rechts-Verständnis werben.

Schmidt: Das Problem ist aber: Was ich in den ländlichen Regionen erlebe, sind eben keine angemeldeten Gegenversammlungen, auf die sich die Polizei vorbereiten kann. Sondern da versuchen meist junge Menschen, die Kundgebungsteilnehmer einzuschüchtern. Als ich unlängst in Bautzen nach einer Kundgebung von der Polizei gefragt wurde, ob sie mich noch zum Bahnhof begleiten sollen, ist das zwar eine sehr schöne und gute Erfahrung mit der Polizei. Es zeigt aber auch, dass da auch behördlicherseits eine Gefährdungsprognose vorliegt für Menschen, die auf Demos für die Demokratie gehen. Ich will ja gar kein Polizei-Bashing betreiben, im Gegenteil. Ich will vor allem darauf hinweisen, dass gerade im ländlichen Raum viel Mut dazugehört, für Demokratie und Menschlichkeit auf die Straße zu gehen.