Bei den Protesten gegen die AfD feiert sich die politische Mitte, linke Kritik ist unerwünscht – Der Volksaufstand
In den Massenprotesten gegen die AfD stellt die bürgerliche Mitte ihre Weltoffenheit zur Schau. Kritik an ihrer eigenen autoritären Entwicklung ist nicht gern gesehen.
Allein am vergangenen Wochenende waren es über 800.000 Menschen. Seit zwei Wochen gehen in Deutschland nun schon Hunderttausende gegen die AfD und den erstarkenden Rechtsextremismus auf die Straße. Selbst auf Sylt und in etlichen ostdeutschen Kleinstädten gab es Versammlungen, jeden Tag kommen neue Demonstrationen hinzu.
Für Migrant:innen und andere potentielle Opfer faschistischer Zukunftspläne sind die Proteste ein wichtiges Signal, auch einsamen Linken in der ostdeutschen Provinz stärken sie den Rücken – nachdem die sogenannte Zivilgesellschaft jahrelang dem Erstarken des Faschismus und dem zunehmenden rechten Terror eher tatenlos zugeschaut hat.
Doch spätestens wenn Markus Söder (CSU) und der Bund der Deutschen Industrie einhellig die Demonstrationen loben, sollte man skeptisch werden. Was beim Lob für den »Volksaufstand für die Demokratie« (Spiegel) untergeht, ist, dass große Teile der bürgerlichen Mitte, die nun mit auf die Straße gehen, nicht nur lange desinteressiert waren, sondern ihren Beitrag dazu geleistet haben, dass die AfD überhaupt so groß werden konnte.
Die Normalisierung des Rechtsextremismus und der AfD wurde von den Medien forciert, die deren Vertreter interviewten, in Talkshows einluden und die Themen der Partei übernahmen, sowie von Politiker:innen, die sich die Sprache und Konzepte der AfD zu eigen machten. Und das hält an: Nur zwei Tage nachdem in Berlin Hunderttausende gegen die AfD demonstriert hatten, lud die ARD deren Parteichef Tino Chrupalla zur Diskussionsrunde bei »Maischberger« ein.
Wer es ernst damit meint, »Demokratie und Menschenrechte« zu verteidigen, muss darüber hinaus erkennen, dass diese nicht nur von der AfD bedroht werden. Im neuen CDU-Grundsatzprogramm werden Lager in außereuropäischen Drittstaaten gefordert, wo alle Asylbewerber untergebracht werden sollen – die AfD fordert exakt dasselbe. Und nur einen Monat bevor die Rechtsextremen in Potsdam ihre Deportationspläne schmiedeten, hatte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) im Spiegel seine eigenen präsentiert: »Wir müssen endlich im großen Stil abschieben!«
Vor zwei Wochen verabschiedeten SPD, Grüne und FDP im Bundestag das »Rückführungsverbesserungsgesetz«, was mehr Abschiebungen und eine weitere Entrechtung von Geflüchteten bedeutete. Zunächst sah das Gesetz sogar die Kriminalisierung der Seenotrettung vor – eine originäre Forderung der Identitären Bewegung. Erst nach Protesten wurde diese Passage entschärft, die Möglichkeit einer Strafverfolgung aber nicht ganz ausgeräumt. Am Wochenende darauf demonstrierten Spitzenpolitiker:innen der drei Parteien dann in erster Reihe gegen den Rassismus der anderen.
Der derzeitige »Aufstand der Anständigen« erinnert an die Zeit der Lichterketten Anfang der neunziger Jahre. Damals gingen als Antwort auf die rassistischen Pogrome und Brandanschläge ebenfalls Millionen Menschen auf die Straße, zugleich wurde das Grundrecht auf Asyl durch eine Verfassungsänderung drastisch eingeschränkt. »Im Kerzenschein der Lichterketten soll das Grundrecht auf Asyl abgeschafft werden«, schrieb damals die »autonome l.u.p.u.s. gruppe«.
Ein erfreulicher Unterschied zu den Lichterketten von damals ist, dass es heute oft antifaschistische Strukturen sind, die die Demonstrationen mitorganisiert oder angeführt haben. Vielerorts richten sich Aufrufe, Reden und Schilder auch gegen den Rechtsruck der Mitte. Jedoch entwickeln sich die Proteste mit zunehmender Größe zu einem bürgerlichen Wohlfühl-Event mit Volksfestcharakter, bei dem es vielen nicht darum geht, Rechtsextreme und Rassismus zu bekämpfen, sondern die eigene Weltoffenheit zur Schau zu stellen.
Beispielhaft hierfür sei die Spiegel-Redakteurin Anna Reimann genannt, die einen ganzen Leitartikel schrieb, um vor »Hass-Chören« gegen die AfD zu warnen. Denn Hass sei »per se gefährlich« und grenze Menschen aus. Außerdem sollten »politische Sachfragen« wie das »Bleiberecht für alle« auf den Demonstrationen außen vor bleiben.
Wird dagegen verstoßen, ist es mit der Toleranz der Demokrat:innen schnell vorbei. Aus mehreren Städten gibt es Berichte, dass Redner:innen, die den Rassismus der Mitte als Teil des Rechtsrucks benannten, ausgebuht und angegangen wurden. So in Münster, wo dem linken Satiriker und Podcaster Jean-Philippe Kindler »Aufhören«-Rufe entgegenschlugen, als dieser auf die rechte Politik von Bundeskanzler Scholz und der SPD hinwies.
In München, wo bis zu 250.000 Menschen demonstriert hatten, gab es nachher einen Shitstorm gegen die Versammlungsleiterin und Klimaaktivistin Lisa Poettinger. Sie hatte schon vor der Demo auf X (vormals Twitter) an die CSU gerichtet erklärt, dass sie »keinen Bock auf Rechte jeglicher Couleur« habe. Auf der Bühne warf sie dann der Bundesregierung vor, die Politik der AfD umzusetzen.
Der Verein »München ist bunt«, der die Demonstration mitorganisiert hatte, distanzierte sich von diesen Äußerungen – jedoch nicht von der Teilnahme von Bayerns Justizminister Georg Eisenreich (CSU) an der Versammlung unter dem Motto »Gemeinsam gegen rechts«. Eisenreich sprach nachher, trotz Kritik am »Versagen der Veranstaltungsleitung«, von einer »Sternstunde des Münchner Bürgertums«. Er warb zugleich für ein neues Bündnis gegen Rechtsextremismus, dass für den »Konsens der Demokraten« stehe, sich also auch gegen jene richtet, die seit Jahren tatsächlich antifaschistische Politik machen. Münchens SPD-Oberbürgermeister Dieter Reiter hat bereits zu einem ersten Treffen eingeladen.
Ein weiteres Problem drückt sich beispielhaft im Schild »Schande für Deutschland« aus, das beim Anti-AfD-Protest in Duisburg zu sehen war. Viele sehen, wie Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP), im Aufstieg des Faschismus vor allem eine Gefahr für das Ansehen Deutschlands in der Welt und damit für die deutsche Wirtschaft.
Dabei hatte man sich seit dem »Sommermärchen« 2006 so viel Mühe gegeben, der ganzen Welt zu zeigen, wie unverkrampft und offen, wie normal man wieder sei: »Die Welt zu Gast bei Freunden«.
Schon damals musste man für dieses nationale Selbstbild einiges ausblenden, zum Beispiel den rassistischen Terror des NSU, der kurz vor der Fußball-Weltmeisterschaft zwei weitere Menschen, Mehmet Kubaşık und Halit Yozgat, ermordet hatte. Man fragt sich, wie viele damals stolz die deutsche Fahne schwenkten, die nun auch gegen den »Rechtsruck« demonstrieren. Vom Zusammenhang zwischen der Normalisierung des deutschen Nationalstolzes und dem Aufstieg der AfD wollen sie nichts hören.
Taub auf diesem Ohr zeigte sich auch die Berichterstattung, die unter dem Titel »Geheimplan gegen Deutschland« die Massenproteste auslöste. Die Deportationspläne der AfD und ihrer Gesinnungskameraden von Werteunion bis zum Verein Deutsche Sprache waren jedoch kein Plan gegen, sondern für Deutschland. Dies aber würde viele stören, für die die AfD bloß ein Hindernis darstellt, stolz auf Deutschland sein zu können.
So konnte dann sogar #DeutschlandStehtAuf zum Hashtag der Protestbewegung werden, was genauso gut als AfD-Slogan für die anstehenden Landtagswahlen taugen würde. Aber es ist nicht die AfD, die Deutschland bedroht, sondern es ist Deutschland in der Form der AfD, das eine Bedrohung darstellt.