„NachDenkSeiten“: Wagenknechts Schreibbrigade
Im damaligen Artikel ging es um das politische Comeback Oskar Lafontaines. Lieb betrachtete ihn differenziert. Lafontaine sei „ein mit allen Wassern gewaschener sozialdemokratischer Machtpolitiker mit autoritären bis hin zu despotischen Zügen“ und mache „(a)us sicherlich eher taktischen Gründen (…) ökonomische Anleihen bei Ludwig Erhards ‚Sozialer Marktwirtschaft'“ – Lafontaine sei aber eben auch ein Aufklärer und „ein Gewinn an Pluralität in der immer eindimensionaler gewordenen öffentlichen Meinungsbildung“.
Außerdem wisse der ehemalige Kurzzeitfinanzminister „konkreter zu sagen, wie eine moderne Klassengesellschaft aussieht, als die meisten im Umfeld von Sarah [sic] Wagenknecht“, so schrieb Lieb damals. Die kurz Angesprochene war zu dieser Zeit, was sie im Sommer wohl wieder werden möchte: Europaabgeordnete.
Bei den NachDenkSeiten wurde Wagenknecht in der Folgezeit von Liebs Kompagnon Müller, der bis heute als zentraler Macher der Website fungiert und ein langjähriger Weggefährte Lafontaines ist, positiv hervorgehoben. Sie „stehe für Kompetenz und inhaltliches Engagement“, schrieb Müller beispielsweise im Januar 2010. Im darauffolgenden Jahr war Wagenknecht dann Stargast beim jährlich stattfindenden Pleisweiler Gespräch, der zentralen öffentlichen Veranstaltung der NachDenkSeiten. Durchaus kunstvoll verknüpfte sie in ihrem Vortrag neomarxistische Kapitalismuskritik mit einer Kritik an der vermeintlichen Unterlaufung des Leistungsprinzips durch die aktuelle Politik.
Maßlose Enthemmung
Die NachDenkSeiten waren von zwei SPD-Urgesteinen als keynesianische Reaktion auf die neoliberale Politik der Schröder-Ära gegründet worden. In dieser Tradition präsentierte sich die Ökonomin Wagenknecht im Jahr 2011. Ihr Vortrag im Dorfgemeinschaftshaus Pleisweiler-Oberhofen war intellektuell anspruchsvoll. Allianzen wurden nicht mit despotenfreundlichen Lagern und Realitätsverweigerern gesucht, sondern mit verschiedenen analytischen Schulen der Ökonomie. Die Grundsätze des Ordoliberalismus, die in der Praxis vermeintlich fehlende Wettbewerbsorientierung des Deregulierungsparadigmas sowie John Lockes arbeitsbezogenen „Urliberalismus“ baute Wagenknecht in ihre damalige Kritik der bestehenden Verhältnisse ein.
Spätestens danach ging es qualitativ tief bergab, zuerst bei den NachDenkSeiten, später auch bei Wagenknecht. Das Portal war insofern Agendasetzer für Wagenknechts hierarchisch-personalisierten Verein, der bei anstehenden Wahlen – in welcher Form auch immer – antreten möchte. Der Qualitätsverfall hat viel mit der Abkehr vom Kerngeschäft zu tun.
Aus der linken Kritik ökonomischer Verhältnisse und politisch-medialer Machtstrukturen wurde eine maßlos-enthemmte, ränderübergreifend anschlussfähige Erzählung über Fremdbestimmung, Öffentlichkeitskontrolle und diktaturähnliche „Fassadendemokratie“ (Lafontaine am 27. August 2018 auf den NachDenkSeiten). Immer stärker geriet dabei die Außenpolitik in den Fokus, und damit, zuerst bei den NachDenkSeiten und dann auch bei Wagenknecht, die immer offensivere Propaganda für die Narrative des neuen russischen Totalitarismus.
Analog zum Verhältnis des Compact-Magazins zur AfD übernahm das mediale Vorfeld also eine Vorreiterrolle. Im Gegensatz zu Höckes offenem Neofaschismus ist Wagenknecht aber weiterhin so gewieft, die harten Formulierungen aus diesem medialen Vorfeld oder aus ihrer personellen Umgebung nicht direkt zu übernehmen, sondern vor allem den dort verbreiteten Tenor anzutriggern.
Wagenknecht selbst hielt der Bundesregierung am 8. September 2022 im Deutschen Bundestag vor, „einen beispiellosen Wirtschaftskrieg gegen unseren wichtigsten Energielieferanten vom Zaun zu brechen“. Ihre Mitstreiter gehen weiter. Beispielsweise weigerte sich Sevim Dağdelen in einem Radiointerview am 1. Juli 2022, Putin einen Kriegsverbrecher zu nennen.
Klaus Ernst erklärte kurz nach Wagenknechts „Wirtschaftskrieg“-Rede, Russland versuche sich halt gegen diesen „zu wehren“. Bei einer Rede auf einer Demonstration in Bremen am 1. September 2022 sprach Andrej Hunko von der „sogenannten Annexion der Krim“. Dağdelen, Hunko und Ernst sind Bundestagsabgeordnete des Teams Wagenknecht.
Radikaloppositionelles Feld
Die Rede in Bremen wurde von den NachDenkSeiten verlinkt. Außerdem sind Hunko und Dağdelen regelmäßig auf dem Portal präsent, unter anderem mit Gastbeiträgen. Hunko schreibt auch Vorwörter, etwa das zum aktuellen Buch des kremltreuen Journalisten Ulrich Heyden (Der längste Krieg in Europa seit 1945 – Augenzeugenberichte aus dem Donbass). Heyden wiederum gehört zu den fleißigsten Gastautoren der NachDenkSeiten. Zudem arbeitet er für den Kremlsender RT DE.
Man muss also gar nicht auf Florian Warweg verweisen, einen ehemaligen RT-Mann und jetzigen NachDenkSeiten-Redakteur, um eine Nähe der NachDenkSeiten zum russischen Staatsfernsehen belegen zu können. Die trotz Betätigungsverbot weiterhin zugänglichen Beiträge von RT DE werden von den NachDenkSeiten verlinkt. „Ohne RT Deutsch wären wir noch schlechter informiert“, schreiben die NachDenkSeiten dazu wiederholt. Mit Tom J. Wellbrock schreibt ein weiterer regelmäßiger RT-Autor auch für die NachDenkSeiten und vertont zudem Beiträge des angeblich herrschaftskritischen Portals von Müller und seinen Mitstreitern.
Die Reaktion der NachDenkSeiten auf eine derartige Faktenlage ist immer dieselbe. „Die Meinungsmache gegen Wagenknecht und Gefährten ist eröffnet“, titelte das Portal am 24. Oktober 2023, also einen Tag nach der ersten Pressekonferenz des Bündnis Sahra Wagenknecht. Im Beitrag kommt gleich zweimal das Codewort zur Abwehr unliebsamer Bestandsaufnahmen vor: „Kontaktschuld“. Mit Putin und seinen Gefolgsleuten will man nichts zu tun haben, obwohl sich sogar die Autorenstämme mit dem Kremlsender RT DE überschneiden.
Über die personellen Vernetzungen hinaus sind die inhaltlichen Charakteristika der NachDenkSeiten entscheidend. Wütend wehrte man sich gegen die völlig berechtigte Erwähnung des Portals in der Kurzstudie Querfront des Sozialwissenschaftlers und Publizisten Wolfgang Storz aus dem Jahr 2015. Dabei gehört man zweifelsohne schon seit Langem zu einem radikaloppositionellen Feld aus selbst ernannten „Alternativmedien“.
Der Unterschied zwischen den NachDenkSeiten und anderen Portalen besteht dabei im Nichtvorhandensein von Fremdenfeindlichkeit sowie darin, dass Verschwörungstheorien und Postfaktizität zumeist nur indirekt vermittelt werden. Die NachDenkSeiten verlinken solche Inhalte – oder sie geben Interviewpartnern und -partnerinnen kritiklos eine Bühne.
Vorwegnahme neuer Diskursmuster
Nur selten kommt es zur direkten Parteiname für verschwörungstheoretische Inhalte, etwa wenn der Redakteur Jens Berger im Juni 2020 die Ansicht vertritt, die US-amerikanische Regierung habe die Anschläge vom 11. September durch bewusste Untätigkeit „indirekt herbeigeführt“. Hier handelt es sich um die sogenannte Lihop-Theorie (let it happen on purpose). Es wird dabei kein fahrlässiges Versagen der US-Sicherheitsbehörden konstatiert, sondern ein absichtliches und zielgerichtetes Tun durch Unterlassen. Ansonsten lässt man lieber die bekannten Szenefachmänner und Pseudoexpertinnen der Kategorie Daniele Ganser oder Ulrike Guérot zu Epidemien, Terrorismus und ihren sonstigen Fachgebieten reden. Im Dienste der Meinungsfreiheit, versteht sich.
Dass diese indirekte Verbrüderung mit den ideologisch und ökonomisch motivierten Desinformationsakteuren unserer Zeit nicht immer ausreicht, zeigt ein weiterer Blick auf die Seite von RT DE. Dort wird am 10. Oktober 2023 darüber berichtet, dass die NachDenkSeiten davon ausgingen, Israel hätte die Vorbereitungen der Hamas auf die Anschläge vom 7. Oktober „bewusst geduldet“ – und damit folglich auch die Anschläge selbst.
In der Tat schreibt Müller auf seinem Portal, also einem zentralen Medienpartner des Wagenknecht-Projekts: „Man kann davon ausgehen, dass Israel die Vorbereitung auf die Angriffe aus dem Gazastreifen wahrgenommen hat. Israel hat diese Vorbereitungen und dann auch die palästinensische Militäraktion vermutlich hingenommen, um nach den Angriffen einen weltweit publizierten und akzeptierten Grund dafür zu haben, im Gazastreifen aufzuräumen. Die daraufhin folgenden massiven Militärschläge auf den Gazastreifen und die vom israelischen Verteidigungsminister Gallant (sic) erklärte Blockade der Versorgung der im Gazastreifen lebenden Menschen mit Wasser, Lebensmitteln und Energie spricht dafür, dass die ethnische Säuberung eingeleitet worden ist. Sie wird vermutlich auch gelingen.“
Die NachDenkSeiten übertragen also das 9/11-Argumentationsmuster der verschwörungstheoretischen Szene auf den Nahostkonflikt. Es wird gerade keine Fahrlässigkeit im Umgang mit Warnungen aus dem Sicherheitsapparat unterstellt, also ein fatales Unterschätzen, wie es durch neuere Meldungen nahegelegt wird. Vielmehr unterstellt Müller, analog zur Lihop-These, ein aktives Tun durch zielgerichtetes Unterlassen – er unterstellt mithin Israel vorsätzliche Mittäterschaft beim pogromhaften Massenmord an der eigenen Bevölkerung.
Diesmal möchte der Macher der NachDenkSeiten keine potenziellen Verbündeten mit allzu großer Faktenorientierung oder ideologischer Unschärfe verprellen, sondern reiht sich auch direkt in die Phalanx verschwörungstheoretischer Kanäle und Akteure ein. Müllers infamer Vorwurf nimmt dortige Diskursmuster der nächsten Jahre vorweg, denn die Szene braucht neue „9/11-Lüge“-Narrative.
Unreflektiertes Ressentiment
Das gescheiterte Aufstehen-Projekt rekurrierte noch auf ökonomische Ungleichheit, jetzt muss der komplette Furor wahrgenommener Unterdrückung von Meinung, Befinden, subjektiver Weltsicht und unreflektiertem Ressentiment mitgenommen werden. Die Revolution ist fällig heißt Albrecht Müllers Buch aus dem Jahr 2020. Darin und auf den NachDenkSeiten fungieren sogenannte Einflussagenten als ideologischer Gegenpol, also angebliche US- und Wirtschaftslobbyisten in der Politik.
Im Zweifel fällt dann auch SPD-Politiker Kevin Kühnert unter diese Kategorie. Den störe es nämlich nicht, dass Deutschland „wohl“ ein „Vasall der USA“ sei, und er verteidige zudem „die Politik Israels“, schreiben die NachDenkSeiten im Oktober 2020.
Wolfgang Lieb hatte das Portal kurz nach Storz‘ Querfrontstudie im Jahr 2015 mit einem resignierten Statement, das der Kritik recht gab, verlassen. Welche Sichtweise bis heute auf der vielleicht zentralen Medienplattform der angeblich emanzipatorisch-pluralistischen Neugründung des Bündnis Sahra Wagenknecht dominiert, machen wiederum die Pleisweiler Gespräche deutlich.
Im Jahr 2020 hielt der damalige Chefredakteur des russischen Auslandssenders RT DE, Ivan Rodionov, einen Onlinevortrag. Er klagte über „Mainstream-Medien“ und skizzierte das Szenario einer militärischen Bedrohung durch Russland als „Marketingstrategie“.
Zum jüngsten Pleisweiler Gespräch der NachDenkSeiten wurde im Juli 2023 der ehemalige Schweizer Geheimdienstoffizier Jacques Baud eingeladen. Schon im April 2022 hatte man ein Interview mit ihm publiziert. Bauds Position zum russischen Angriffskrieg wird dort deutlich formuliert: Die Russen seien immer an einer friedlichen Lösung interessiert gewesen, aber die Ukraine hätte gezündelt, provoziert und Offensiven vorbereitet. Ab dem 16. Februar 2022 habe die Ukraine ihren Beschuss des Donbass intensiviert, weshalb Putin zu Hilfe kam. Der Angriff sei durch die UN-Charta legitimiert.
Deckmantel der Friedensorientierung
Diesem Akteur gibt das vermeintliche Friedensprojekt NachDenkSeiten über ein Jahr später eine Bühne. Man identifiziert sich sogar mit seinen Ausführungen. Müller leitet Bauds Vortrag folgendermaßen ein: „Das ist (…) das Anliegen der NachDenkSeiten, (…) den Stachel im Fleisch der unkritischen und gezielten Manipulation zu liefern. (…) Jacques Baud leistet einen großen Beitrag zu der notwendigen Aufklärung.“
Die Aufklärung sieht dann so aus, dass Baud seine These wiederholt. Russland sei den Menschen in der Ostukraine zu Hilfe gekommen. Zitat: „Und dann haben die Russen gesehen, jetzt gibt es eine Offensive, und jetzt müssen wir die Bevölkerung schützen.“
Die NachDenkSeiten sind keine kritische Website, sondern ein fundamentaloppositionelles, mitunter sogar direkt postfaktisches Propagandamedium, welches unter dem Deckmantel der Friedensorientierung die Narrative des Putin-Regimes verbreitet. Zum 20-jährigen Jubiläum hat das Portal für den 9. Dezember einen offiziell schnell ausgebuchten Festvortrag geplant. Reden soll laut Ankündigung: Sahra Wagenknecht.