Liste mit Sprengkraft: Drei Seiten Zündstoff zum NSU

Eine Liste von Neonazis, die per Bus nach Ungarn fuhren, liefert Spuren mit mehr Sprengkraft als der von Böhmermann im Vorjahr geleakte NSU-Report, den Hessens Verfassungsschutz zuerst 200 Jahre geheim halten wollte. Kommt nun doch noch der Durchbruch zum Motiv für den Polizistinnenmord?

Max-Florian Burkhardt lautete der Aliasname, den der Rechtsterrorist Uwe Mundlos vor seinem Tod 2011 mehr als 13 Jahre lang nutzte – im „Nationalsozialistischen Untergrund“, kurz NSU. Bei Wohnungsmietungen hieß Mundlos so, bei Konteneröffnung, im alltäglichen Umgang. Im bayrischen NSU-Untersuchungsausschuss sagte jetzt der hinterm Alias stehende, echte Max-Florian Burkhardt als Zeuge aus.

Ein damaliger Neonazi-Mitläufer, der in Chemnitz lebte, als das Trio Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe Anfang Februar 1998 aus ihrer Heimatstadt Jena floh und bei Chemnitzer Szenefreunden Zuflucht suchte. Fliehen mussten die drei, als ihre in einer Garage betriebene Bombenbastelei mit fast anderthalb Kilo des Militärsprengstoffs TNT aufflog. In Chemnitz wohnte Max-Florian Burkhardt in seiner Zweiraumwohnung im Haus Limbacher Straße 95 über Monate mit Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe zusammen.

Dem bayerischen NSU-Ausschuss schilderte Burkhardt zunächst, wie er das Trio kennenlernte. Schließlich hatte er die drei nicht selbst in seine Wohnung gelassen. Das hatte seine damalige Freundin getan, als er gerade verreist war. Immerhin stand seine Wohnung leer, da Max-Florian Burkhardt meist bei dieser Freundin, Mandy Struck, in der Chemnitzer Neonaziszene bekannter unter dem Spitznamen „White-Power-Mandy“, übernachtete.

Mandy Struck hatte für Max-Florian Burkhardts Wohnung einen Schlüssel und brachte das Jenaer Trio dort unter. Als Struck zu der Zeit noch mit einem anderen Szenekameraden anbandelte, endete Burkhardts Beziehung zu ihr. Er zog wieder in seine Wohnung – zu Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe.

Während der bayerische NSU-Untersuchungsausschuss sich eingehend mit Burkhardts gemeinsamer Zeit mit dem Trio befasste, gibt es genau an diesem Punkt im NSU-Komplex noch einen Ermittlungsstrang. Dieser Strang beleuchtet Max-Florian Burkhardts Abwesenheit an jenem 13. Februar 1998, als das Trio seine Wohnung bezog.

Max-Florian Burkhardt war mit Szenekameraden nach Ungarn gefahren zu einem europaweit ausstrahlenden Neonazi-Event. Knapp 50 Neonazis aus Sachsen, Thüringen und Bayern fuhren gemeinsam im Reisebus zum sogenannten „Tag der Ehre“ in Budapest, einem Gedenken für Angehörige der Waffen-SS. Nahe Regensburg gab es einen unfreiwilligen Zwischenstopp. Die Polizei hielt den Bus an. Die Kripo nahm von allen 48 Fahrgästen Personalien auf.

Die Liste der damals festgestellten Personen liegt der „Freien Presse“ vor. Sie kommt in dem mehrere Millionen Seiten umfassenden Akten-konvolut zum NSU-Komplex nur ein einziges Mal vor. Doch steckt in ihren drei Seiten mehr Zündstoff als in jenem 173 Seiten umfassenden NSU-Geheimreport, den der hessische Verfassungsschutz zunächst für 200 Jahre hatte unter Verschluss halten wollen und den Jan Böhmermann nach Senken der Geheimhaltungsfrist auf reguläre 30 Jahre veröffentlichte. Wiederum vorfristig. Neudeutsch gesprochen: Im Vorjahr leakte der TV-Moderator diesen Report.

Warum die Bus-nach-Ungarn-Liste mehr Zündstoff birgt? Sie nennt sechs Personen, deren Hilfen für den NSU – 1998 bereits erfolgt oder später folgend – von enormer Wichtigkeit waren. Hinter den Namen stehen Helferdienste von Anschlägen oder Morden. Andere sind personalisierte Puzzlestücke, um Motive im NSU-Komplex zu verstehen. Dass NSU-Kontakte und -Helfer aus Thüringen, Sachsen und Bayern schon 1998 so eng vernetzt waren, legt eines nah: Auch die Taten des NSU waren szenebekannt und -gestützt.

Neben Max-Florian Burkhardt, dem Quartier- und Aliasgeber aus Chemnitz, steht Jörg W. aus Wachau bei Radeberg auf der Liste der Businsassen. Von ihm stammte ursprünglich jenes TNT für den Jenaer Bombenbau des NSU. Dann führt die Liste Andreas S. auf, einen Mitarbeiter der Jenaer Neonazi-Boutique „Madley“. Er verkaufte an Geldgeber Ralf Wohlleben und Überbringer Carsten S. jene schallgedämmte Pistole vom Typ Ceska 83, die zur Tatwaffe bei der dem NSU zugeschriebenen bundesweiten Mordserie an neun ausländischstämmigen Kleinunternehmern werden sollte.

Im Bus saß laut Kontrollliste der Regensburger Kripo auch Matthias Fischer. Der Neonazi aus Nürnberg hatte schon auf jener Kontaktliste von Uwe Mundlos gestanden, die Ermittler beim Abtauchen des Trios in der Jenaer Garage fanden, aber über Jahre ignorierten. Matthias Fischer war Mitgründer der Neonazivereinigung „Fränkische Aktionsfront“, die nach ihrem Verbot später als „Freies Netz Süd“ wiederauferstand und, als dessen Verbot drohte, in der Kleinpartei „Der III. Weg“ aufging. Nach wie vor ist Fischer Parteiaktivist. Der Grad seines Wirkens für den NSU in Nürnberg, wo die meisten Morde stattfanden, ist unklar.

Und dann ist da Marcel D. aus Gera. Der Thüringer Sektionschef der im Jahr 2000 bundesweit verbotenen Neonazi-Bewegung „Blood & Honour“ (B&H) hatte die Busreise nach Ungarn überhaupt erst organisiert. Seine engen Kontakte in die Chemnitzer Szene – und damit zum abgetauchten Trio Mundlos, Böhnhardt, Zschäpe – haben Bedeutung fürs Einordnen der Ceska-Mordserie. Marcel D. ist das fehlende Puzzlestück zum wahrscheinlichen Motiv für die Mordserie. Ihre beiden ersten Morde fanden in unmittelbarem Zeitzusammenhang mit dem Verbot von „Blood & Honour“ statt, jener Organisation, die Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe im Untergrund bis dahinso geholfen hatte.

Tage, bevor man im September 2000 das bundesweite Verbot von „Blood & Honour“ mit groß angelegten Polizeirazzien durchsetzte, war der Thüringer B&H-Chef Marcel D. davor gewarnt worden – vom Thüringer Verfassungsschutz. Marcel D. war V-Mann. Effekt: Bei der Razzia zum Verbot fanden die Polizisten bei Marcel D. eine „klinisch saubere“ Wohnung vor, wie sie sagten.

Drei Tage vor den Razzien zum Durchsetzen des Verbots geschah in Nürnberg an Blumenhändler Enver Simsek der erste von neun Morden der Serie. Hatte Marcel D. oder „V-Mann Hagel“, wie er für seine Dienstherren beim Thüringer Verfassungsschutz hieß, sein Vorwissen über Razzien und Verbot an die Chemnitzer Helferszene weitergegeben? Und damit ans NSU-Trio?

Das Indiz dafür lieferte der zweite Mord. Gegen das B&H-Verbot ging Marcel D. gerichtlich vor – und scheiterte. Am 13. Juni 2001 erklärte das Bundesverwaltungsgericht das Verbot für rechtens und unanfechtbar. Noch am selben Tag geschah in Nürnberg der zweite Ceska-Mord.

Und selbst zum rätselhaftesten der dem NSU zugeschriebenen Mordfälle gibt es das möglicherweise passende Puzzlestück in jenem Bus, der 48 Neonazis 1998 von Thüringen, Sachsen und Bayern nach Ungarn brachte. Es geht um den Mord an der aus Thüringen stammenden Baden-Württemberger Polizistin Michèle Kiesewetter. Am 25. April 2007 war sie, als sie mit einem Kollegen am Rand der Festwiese in Heilbronn im Streifenwagen Pause machte, überfallen und erschossen worden. Ihr Kollege Martin A. überlebte, war aber seit dem Kopfschuss, den er bei dem Mundlos und Böhnhardt zugeschriebenen Angriff erlitt, nur noch innendiensttauglich.

Im NSU-Prozess trat er vor allem der Version entgegen, die die Bundesanwaltschaft bis heute behauptet: Das Motiv für den Anschlag auf die Polizeistreife in Heilbronn liege allein im Raub der Polizeiwaffen. Das Motiv sei bis heute unklar, betont der damals angeschossene Polizist. Stets habe er gehofft, dass irgendwann Kommissar Zufall helfe, sagte Polizist Martin A. im NSU-Prozess: „Aber das Motiv hat auch Kommissar Zufall nicht herausgefunden.“

Das fehlende Puzzlestück zum Mord an der 22-jährigen Polizistin Michèle Kiesewetter könnte Jug P. heißen. Der Sohn jugoslawischer Eltern wuchs in Baden-Württemberg auf, zog aber 1997 nach Thüringen. Dort gehörte er dem „Thüringer Heimatschutz“ an, jener landesweiten Neonazi-Organisation, in der Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe radikalisiert worden waren.

Der Szene galt Jug P. schon damals als gewaltbereit. Man schätzte seine Qualitäten als Waffenbeschaffer. Als die Polizei im thüringischen Heilsberg ein Stammlokal des „Heimatschutzes“ durchsuchte und ein großes Lager an Waffen ausnahm, gehörte Jug P. zu den 66 gelisteten Verdachtspersonen. Ob Jug P. in dieser Zeit je persönlich mit dem Onkel von Michèle Kiesewetter in Konflikt geriet, steht nicht fest. Von ihrem Onkel Mike W. hatte die junge Frau ihren Berufswunsch Polizistin übernommen. Der war bei der Thüringer Polizei und hatte im Bereich Staatsschutz einst oft mit ebenjener Szene zu tun gehabt, aus der der NSU entsprang.

2002 verließ Jug P. Thüringen und zog wieder nach Baden-Württemberg. Michèle Kiesewetter tat dasselbe, ihrem Berufswunsch Polizistin folgend. Während Jug P. nach Erkenntnissen des baden-württembergischen NSU-Untersuchungsausschusses zunächst „im Bereich Organisierte Kriminalität, Kampfsport, Türstehermilieu“ tätig gewesen sei, wollte er seit der Rückkehr nach Baden-Württemberg ebenso „als ‚Iron Bull‘ Karriere machen“.

Als Eiserner Bulle mit englischem Künstlernamen zieht Jug P. mit der Kraft beachtlicher Muskeln bei Kirmesfesten Autos hinter sich her, als seien es Bobby-Cars. Im Netz finden sich Filme solcher „Leistungen“ unter Titeln wie „Iron Bull vs Ford Explorer“ oder „Iron Bull vs Dodge Ram“. Michèle Kiesewetter tat zum Zeitpunkt ihres Todes 2007 Dienst bei der Beweis- und Festnahmeeinheit (BFE) 523 der Böblinger Bereitschaftspolizei.

Ob Michèle Kiesewetter je bei einer Razzia in der Diskothek „Luna“ in Ludwigsburg als zivile Undercover-Agentin eingesetzt gewesen sei? Das wollte der Thüringer NSU-Untersuchungsausschuss 2019 von dem als Zeugen geladenen Leiter besagten Einsatzes wissen. Der Zeuge räumte ein, dass Kiesewetter mehrfach in Zivil gearbeitet habe, auch bei besagtem Einsatz, bei dem nicht alles glattlief, wie er sich erinnerte. Kiesewetter hatte in Zivil in der Disko eine Art Vorhut bilden und fürs uniformierte Spezialkommando einen Notausgang öffnen sollen.

Beim Zugriff habe es einen Tisch mit „sehr muskulösen Personen“ gegeben, entsann sich der Zeuge. Einer habe sich massiv gewehrt. „Gefühlt fünf, sechs Beamte“ seien „auf ihm“ gewesen, um ihn zu fixieren. Dennoch habe er mit ihnen „Liegestütze gemacht“. Angesichts der Dynamik, die auf die Massen überzugreifen drohte, urteilte der Zeuge: „Ich habe da nicht gut ausgesehen. Ich hatte damit nicht gerechnet.“

Ob ihm ein Mann namens „Jug P.“ bekannt sei, wollte die Vizevorsitzende des Thüringer Ausschusses, Katharina König-Preuss, von ihm wissen. Ihre Frage bezog sich auf einen Hinweis, den zuvor die Sachverständige Andrea Röpke dem baden-württembergischen NSU-Ausschuss mitgegeben hatte: Nach ihrem Wissen sei Jug P. Türsteher in einer Disko gewesen, in der Kiesewetter undercover eingesetzt gewesen war. Befragungen anderer Polizisten konnten das bisher nicht bestätigen.

Und der von König-Preuss befragte Zeuge reagierte auf die ihm gezeigten Fotos vom Autos ziehenden „Iron Bull“ und auf die Frage, ob es sich dabei um den von ihm erwähnten „Fleischberg“ handeln könne, verhalten: „Eher nicht“, druckste der Zeuge im Ausschuss herum. Allerdings räumte er ein, dass Kiesewetter nach diesem Einsatz äußerte, sie habe Angst, als Polizistin erkannt worden zu sein. Auf einer Heimfahrt habe sie sich sogar mal von einem Fahrzeug verfolgt gefühlt.

Ob Jug P. der sich wehrende Muskelmann in der Ludwigsburger Disko „Luna“ war, ob er mit einer Verfolgung Kiesewetters zu tun hatte, ist bisher unklar. Klar ist, dass er schon 1998 zum Netzwerk des NSU Kontakte pflegte. Mit dem Mordwaffenverkäufer, dem Sprengstoffbeschaffer, einem der Alias- und Unterschlupfgeber, mit Mundlos‘ Nürnberger Kontaktmann und dem warnfreudigen Geraer V-Mann fuhr er da nach Ungarn. Auch der Name Jug P. steht auf der Kontrollliste der Businsassen.