„Idiotisch“ – Wie der Kronzeuge Johannes D. den Lina-E.-Prozess verändert
In linksextremen Kreisen gilt er als Verräter, für die sächsischen Ermittler ist er ein wichtiger Belastungszeuge: Das Auftauchen von Johannes D. hat die Dynamik im Prozess gegen die mutmaßliche Bande um Lina E. aus Leipzig stärker verändert als die Beweislage. Aber was sind seine Aussagen wert?
Leipzig/Dresden. Bevor Johannes D. das erste Mal im Prozess gegen die mutmaßlich linksextreme Gruppe um Lina E. aussagt, mahnt das Oberlandesgericht Dresden das Publikum im Saal zur Ruhe. „Prophylaktisch“, wie es der Vorsitzende Richter formuliert, denn er weiß: In der linksradikalen Szene gilt Johannes D., der mutmaßliche Mittäter, der jetzt Kronzeuge ist, als Verräter. Dann sagt D. aus, und drumherum, im Hochsicherheitssaal, bleibt es lange Tage angespannt still. Bis zu einem Nachmittag, an dem die Stimmung ohnehin aufgeheizt ist, eine Frau aus dem Publikum aufsteht und Johannes D. zuruft: „Du hast uns verraten. Du wirst einsam sterben, Johannes.“
Johannes D. hat den Prozess gegen Lina E. und drei weitere Angeklagte verändert. Nicht unbedingt durch das, was er gesagt hat – der juristische Wert seiner Aussagen ist umstritten. Aber sein Auftauchen hat die Dynamik des Prozesses beeinflusst. Und es hat in linksradikalen Kreisen eine Debatte darüber entfacht, ob und wie man Gewalt gegen Rechtsextreme öffentlich rechtfertigen sollte. Wer ist der Mann, den seine ehemaligen Freunde nicht nur für einen Verräter und Vergewaltiger halten, sondern auch für dumm und unpolitisch? Darum geht es in Folge 4 des Podcasts zum Fall Lina E. der Leipziger Volkszeitung und des Redaktionsnetzwerks Deutschland (RND).
D. wächst in Bayern auf. Als Jugendlicher wirbt er öffentlich für legale Graffiti. Illegale Schmierereien seien Sachbeschädigung, das sagt er damals in einem Interview. 2015 ist Johannes D. dann bei linksextremen Ausschreitungen in Frankfurt dabei, wird dafür zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Später soll er zur Gruppe um Lina E. gehört haben. Für seine mutmaßliche Beteiligung an einem Angriff auf einen rechtsextremen Kneipenwirt in Eisenach muss Johannes D. sich demnächst selbst vor Gericht verantworten. Das Landgericht Meiningen will Ende Februar gegen ihn verhandeln.
Vom Linksextremisten zum Kronzeugen wird Johannes D. im Frühjahr 2022. Verfassungsschützer sprechen ihn an. Sie hoffen, in ihm eine seltene Quelle aus der linksextremen Szene zu finden. Denn D. war schon vor seiner Aussage gegen Lina E. und die anderen in seinen Kreisen geächtet. Eine Ex-Freundin von D. hatte ihn öffentlich der Vergewaltigung bezichtigt, die linke Szene wendete sich von ihm ab.
Vor dem Oberlandesgericht Dresden sagt D. nur wenig dazu – er streitet die Vergewaltigung knapp ab. Wortreicher ist D., wenn es darum geht, wie die mutmaßliche Gruppe um Lina E. organisiert gewesen sein soll. D. erzählt, wie die Gruppe die Angriffe auf Neonazis gezielt trainiert habe, wie Bahntickets und Schlagstöcke unter anderem per Kreditkartenbetrug besorgt worden seien. Die Anwältinnen und Anwälte von Lina E. bezweifeln, ob diese Aussagen stimmen und was sie wert sind – von einem, der womöglich nur auf Rache aus sei.
Johannes D. soll nur an einer Tat beteiligt gewesen sein, die der Gruppe um Lina E. vorgeworfen worden ist. Es ist der Angriff auf einen rechtsextremen Kneipenwirt in Eisenach. Was Johannes D. dazu sagt, offenbart einiges zur Struktur der mutmaßlichen Gruppe. Die Tat im Dezember 2019 selbst lässt sich wohl aber auch ohne seine Aussagen am besten von allen angeklagten Taten der Gruppe um Lina E. zuordnen: Sie und weitere Angeklagte wurden unmittelbar nach dem Angriff in Eisenach festgenommen. Die Nachfragen der Bundesanwaltschaft zu Johannes D. zeigen aber, dass er an anderer Stelle ein wichtiger Zeuge ist: Wenn es darum geht, wie die Gruppe um Lina E. organisiert gewesen sein soll – wie sie etwa über Kreditkartenbetrug ihre Attacken finanziert haben soll.
Teile aus der linksradikalen Szene wollen Gewalt besser erklären
Zu einem aber bleibt Johannes D. vor Gericht ungenau: Warum er Neonazis angegriffen haben will und womit er diese Gewalt rechtfertigt. Er spricht davon, dass er die Gesellschaft habe verändern wollen, verwendet viele Floskeln. Seine Taten kämen ihm heute „idiotisch“ vor, meint er, lässt aber offen, was er genau meint.
Diese Unbestimmtheit hat in der linksradikalen Szene eine Debatte ausgelöst. Ein offener Brief, publiziert auf linken Szeneseiten, zeigt das. Darin heißt es, Johannes D. erkläre eine wichtige Sache nur sehr schlecht: Warum es nötig sei, sich organisiert gegen Neonazis zu wehren. Dabei, so der Brief, gebe es dazu viel zu sagen – und vielleicht müssten die Angeklagten im Fall Lina E. das übernehmen. „Denn wir glauben nach wie vor an die Möglichkeit der Vermittlung von linker und linksradikaler Politik“, heißt es in dem Brief.
Tatsächlich muss sich die linksradikale Szene argumentativ ganz schön verbiegen bei der Frage: Ist Gewalt erlaubt – im Kampf um eine gewaltfreie Welt, für die man eigentlich einsteht? Mit solchen Fragen beschäftigt sich auch der Politikwissenschaftler Alexander Deycke bei der Bundesfachstelle Linke Militanz, angesiedelt an der Universität Göttingen. „Wenn Gewalt begründet wird, dann wird meistens auf höherwertige moralische Ziele verwiesen, beispielsweise auf die Bekämpfung von Neonazismus“, sagt Deycke über die militante Linke. Er bezweifelt aber, ob solche Gewalt den erhofften Erfolg bringt, also ob sie die Rechtsradikalen tatsächlich einschüchtert und aufhält. Das sei sogar aus linksradikaler Perspektive fraglich. „Man hat weder den NSU erkannt noch irgendwie verhindern können – noch hat man AfD-Wahlerfolge oder die Radikalisierung der AfD bremsen oder aufhalten können“, sagt Deycke.
Zwölf Verhandlungstage lang hat Johannes D. vor dem Oberlandesgericht Dresden ausgesagt. Danach wollten die Angeklagten um Lina E. ihr Wort erheben. Es gab vor Gericht Streit darum, ob ihre Stellungnahme zum Kronzeugen strafprozessual zulässig ist, aber man kann sie auf den Seiten der Unterstützer von Lina E. nachlesen. Rechtsradikales Gedankengut, heißt es darin, sei in der deutschen Gesellschaft weit verbreitet. Dagegen etwas zu tun, sei die Aufgabe aller. „Die Formen antifaschistischer Arbeit sind schon seit Jahren vielfältig“, formulieren die Angeklagten und zählen auf: Recherche, Demonstrationen, Vorträge – alles Dinge, mit denen sie sich strafrechtlich nicht angreifbar machen. Von Angriffen auf Neonazis sprechen sie nicht.