Entmietung in Leipzig – „Da wird Angst verbreitet“: In Schleußig sollen hochbetagte Mieter ihre Wohnungen verlieren

Der Eigentümer will zwei Häuser in der Schnorrstraße abstoßen und die Wohnungen einzeln verkaufen. Die Bewohner sind fassungslos.

Ein krasser Fall von Entmietung setzt hochbetagten Senioren in Leipzig-Schleußig zu. Ein Immobilienunternehmen empfiehlt ihnen, möglichst schnell auszuziehen. Denn die bis zu 38 Wohnungen sollen verkauft werden. Schuld daran seien die Senioren auch selbst. Dabei leben viele der Betroffenen schon seit mehr als 20 Jahren in den Häusern an der Schnorrstraße und zahlen pünktlich ihre Miete.

Überraschend waren kurz vor dem Jahreswechsel Schreiben und auch ein Aushang in den beiden Häusern an der Schnorrstraße aufgetaucht. „Wir, die ART Leipzig GmbH, wurden von Ihrem Vermieter, Leipzig Zinshaus B.V., beauftragt, den Verkauf ihrer Wohnung umzusetzen“, hieß es in den Schreiben. Hier folgt der genaue Wortlaut auch der nächsten Sätze, denn so unverblümt liest man das selten:

„Rendite für Kapitalanleger zu niedrig“

„Da Sie im Gegensatz zu den üblichen Marktpreisen eine sehr niedrig ausfallende Miete zahlen, wird Ihre Wohnung Eigennutzern angeboten. Dies ist der Fall, da die Rendite für Kapitalanleger zu niedrig ist. Eine Eigenbedarfskündigung mit der gesetzlichen Kündigungsfrist ist entsprechend aus unserer Sicht sehr wahrscheinlich.“

Die Unterkünfte der Mieter sollen demnach als Eigentumswohnungen verkauft werden. Dann müssten die Mieter raus, wenn der neue Besitzer dort selbst einziehen will. Wer dagegen schon jetzt bereit sei, innerhalb von drei Monaten freiwillig auszuziehen, der erhalte eine „Kompensation“ in Höhe von 4000 Euro, bietet das Schreiben an. Auch entlasse sie der Eigentümer dann aus der Verpflichtung, Schönheitsreparaturen zu bezahlen – etwa das Malern von Wänden und Decken.

Viele Bewohnerinnen und Bewohner sind fassungslos. „Wir ziehen hier nicht aus“, geben sie sich kämpferisch bei einem LVZ-Besuch vor Ort. „Nur mit den Füßen zuerst“ oder „bis zuletzt gehen wir dagegen vor“, sagen sie. Lediglich zwei der wahrscheinlich bis zu 38 betroffenen Haushalte würden wohl die 4000 Euro nehmen und wegziehen wollen – weil sie das ohnehin aus privaten Gründen vorhatten.

Ganz bewusst mit Hinblick aufs Älterwerden sind viele dort 1997 eingezogen. Die Häuser wurden seinerzeit von einer Firma aus München fertiggestellt. „Unsere Wohnungen haben keine Schwellen, einen Fahrstuhl und einen Tiefgaragenstellplatz. Das empfinden wir als altersgerecht“, sagt die 88-jährige Karin Nenning. Heute ist sie auf Gehhilfen angewiesen und wird von ihren Kindern versorgt.

Häuser sind seniorengerecht gebaut

Die ältesten Einwohner sind über 90 Jahre alt. Mit einem Umzug wären sie heillos überfordert, allein schon kräftemäßig, berichtet die Runde. Bei vielen kümmern sich die Kinder oder ein Pflegedienst ums Einkaufen, Duschen, den Hausputz.

„Vollkommen undenkbar” ist ein Umzug zum Beispiel für Gertrud Calsow (88). Vor 14 Jahren zog sie extra aus Gotha nach Leipzig zu ihrer Tochter, die für sie sorgt. Auch Maria Gebhardt (92) mietete sich in die Schnorrstraße ein, weil ihre Tochter dort schon wohnte. Die alte Dame sitzt im Rollstuhl, hat Pflegestufe 4 und wird von Carmen Kühne (69) gepflegt. Nun droht sowohl der Mutter als auch der Tochter die Kündigung.

Seit Ende des Jahres das besagte Schreiben ins Haus flatterte, haben sich die Bewohner der beiden Häuser untereinander vernetzt, oftmals zusammen mit ihren Kindern. Sie wollen zwar Ruhe bewahren und sich bei Anwälten oder beim Mieterverein Rat holen – doch die Sorge um ihre Zukunft schlägt auf die Gesundheit.

Schlaflose Nächte? „Ja, die haben wir alle“, räumen sie ein. Die belastenden Gedanken ließen sich nicht abschalten. „Meine Mutti weint manchmal in der Nacht, macht sich Sorgen und ruft mich dann an“, erzählt Carmen Kühne.

Hausverwaltung ist nicht erreichbar

Die Ältesten haben nicht mal einen Computer. Die etwas Jüngeren haben sich bereits auf Immobilienportalen umgeschaut. „Entweder sind die Wohnungen zu klein und haben keinen Fahrstuhl. Oder sie sind unbezahlbar“, berichtet Stefan Walther (77). Zwar wurde in den Schreiben angeboten, auszugswillige Mieter könnten sich an die Firma Argo Residential wenden. Dort würden sie Hilfe bei der Suche nach einer anderen Unterkunft bekommen.

Doch die Mieter berichten, sie könnten schon längere Zeit niemanden bei ihrer Hausverwaltung erreichen, die ebenfalls Argo heiße. Das Büro in der Karl-Liebknecht-Straße sei zu, auf E-Mails werde nicht reagiert. Per Telefon melde sich ein Anrufbeantworter. Bis heute hätten viele Bewohner der Schnorrstraße noch keine Betriebskostenabrechnung für 2023 erhalten. Dabei seien die Vorauszahlungen erhöht worden. Vielleicht ergebe sich daraus ein Guthaben.

Die Warmmieten würden zwischen 8,90 Euro und 13,50 Euro pro Quadratmeter liegen. Angesichts des Alters und Zustands der Häuser sei das nicht sonderlich niedrig. Die Angemessenheit bestätigt hätten schon einige Auseinandersetzungen um Mietererhöhungsverlangen von Seiten der Leipzig Zinshaus B.V. – dieses Unternehmen hat seinen Sitz in Amsterdam in den Niederlanden. Laut Grundbuch hatte es die beiden Häuser 2019 von dem Vorbesitzer aus München erworben.

29 Firmennamen stehen am Türschild der Argo-Hausverwaltung in der Karl-Liebknecht-Straße. Dazu gehören auch die Leipzig Zinshaus B.V., die Leipzig Zinshaus II B.V., die Leipzig Zinshaus III B.V. sowie die Argo Residential GmbH. An der Bürotür im dritten Stock hängt jedoch ein Zettel. „Die Verwaltung ist momentan nicht besetzt. Bitte senden Sie uns Ihre Anfragen per E-Mail“, steht da. Im Hausflur herrscht absolute Stille.

Mieterverein kennt den Besitzer längst

Wenn man auf den nicht beschrifteten Schalter neben dem Licht drückt, öffnet sich die Tür nach einer Weile doch noch. Drinnen sitzen zahlreiche Beschäftigte an ihren Schreibtischen, offenbar wird gerade auch ein Kundengespräch im Foyer geführt. Ein freundlicher Mann am Empfangstresen erklärt, dass sich Argo nicht zu den Vorgängen in der Schnorrstraße äußern wolle. Die Hausverwaltung sei „wegen Krankheit“ wirklich geschlossen.

Die ART Leipzig GmbH hat ihren Sitz in Karlsruhe. Von dem dortigen Mitarbeiter, der die Aushänge in der Schnorrstraße unterzeichnet hatte, war am Donnerstag keine Antwort auf eine Presseanfrage zu erhalten. Recherchen deuten aber darauf hin, dass sich die ART Leipzig GmbH derzeit tatsächlich bemüht, Käufer für zumindest einige Wohnungen zu finden – und zwar im Auftrag des Eigentümers aus Amsterdam.

Die erwähnten Firmen sind beim Leipziger Mieterverein keine Unbekannten, sagt dessen Vorsitzende Anke Matejka. „Wir hatten da schon einige Streitfälle. Denn sie gehören zu den wenigen Ausnahmen, die versuchen, den Leipziger Mietspiegel zu umgehen – indem sie Mieterhöhungen mit dem Hinweis auf drei Vergleichswohnungen verlangen.“

Der aktuelle Entmietungsversuch in Schleußig sei aber etwas, das man in der Dimension gegenüber auch hochbetagten Menschen in Leipzig bislang nicht kannte. „Da wird Angst verbreitet. Es wird wirklich ins Kalkül gezogen, dass sich alte Menschen oft nicht trauen, einen Konflikt zu führen und für ihre Rechte zu kämpfen“, meint Matejka. „Das ist eigentlich jenseits von Gut und Böse.“

Anwalt sieht kein hohes Eigenbedarfsrisiko

Mehrere Betroffene hätten sich schon an den Mieterverein gewandt. Dieser sehe das Angebot der 4000 Euro als völlig inakzeptabel an. Das würde nicht ansatzweise die Kosten für einen Umzug und die höhere Miete andernorts ausgleichen. „Es gibt keinen Grund, sich einschüchtern zu lassen. Auch rechtlich ist die Lage nicht so simpel, wie sich das der aktuelle Eigentümer vielleicht wünscht.“

Nachteilig für die Bewohner sei, dass ihre Häuser schon vor der ersten Vermietung 1997 in Eigentumswohnungen umgewandelt wurden. Deshalb hätten die Mieter nun kein Vorkaufsrecht, erläutert Fachanwalt Michael Knoch von der Leipziger Kanzlei Korn+Letzas. Auch bestehe daher nicht die dreijährige Sperrfrist gegen Eigenbedarfskündigungen nach einer Wohnungsumwandlung.

„Es stellt sich allerdings die Frage, welcher potentielle Eigennutzer bereit ist, den zeitlichen Aufwand für eine Eigenbedarfskündigung auf sich zu nehmen, die erst nach Eintragung im Grundbuch mit der dann gültigen, gesetzlichen Kündigungsfrist zum Tragen kommen würde. Vom Abschluss eines notariellen Kaufvertrages an muss jedenfalls bei langjährigen Mietern mit etwa anderthalb bis zwei Jahren gerechnet werden.“ Gerade hoch betagte, langjährige Mieter könnten aus sozialen und gesundheitlichen Gründen erfolgreich Widerspruch gegen eine Eigenbedarfskündigung einlegen.

Bei einem hohen Verkaufspreis sei das Angebot für Eigennutzer vielleicht gar nicht attraktiv, gibt Rechtsanwalt Knoch zu Bedenken. „Anhand aller bekannten Umstände sehe ich vorliegend derzeit kein nennenswertes Eigenbedarfsrisiko, jedenfalls kein solches, welches einen überstürzten Auszug mit einer Frist von drei Monaten gegen Zahlung eines relativ geringen Betrages rechtfertigen würde.“