Abschied der „Nervensäge“: Kerstin Köditz verlässt Sachsens Landtag
Die Linke-Abgeordnete Kerstin Köditz hat mehr als zwei Jahrzehnte die Opposition mitbestimmt. Nun verabschiedet sich die Kämpferin gegen Rechtsextremismus aus der Landespolitik. Selbst die Konkurrenz zollt ihr Respekt.
„Ach nee“, entfährt es Kerstin Köditz. Der Zufall spült ihr ein Papier in die Hände, das wohl mehr als zwei Jahrzehnte in einem der hellgrauen Aktenschränke geschlummert hat. Es handelt von feministischer Politik, das sie damals noch unter dem Siegel der PDS mitverfasst hat. Inzwischen kämpft die Partei als Linke ums Überleben, hat sich Köditz längst als Streiterin gegen Rechtsextremismus nicht nur in Sachsen, sondern auch bundesweit einen Namen gemacht.
Und nun hört diese Frau auf. Schafft sie das überhaupt? Natürlich nicht. „Ich ziehe mich nur aus dem Landtag zurück. Das heißt ja nicht, dass ich von heute auf morgen kein politischer Mensch mehr bin“, erklärt die Abgeordnete so resolut und mit einem Anstrich von Schnoddrigkeit, wie man die 57-Jährige nun mal kennt. Das Parlamentsleben gleitet während dieser Sätze zwischen ihren Händen hindurch. Aus Aktenordnern und von Papierstapeln. Hinein in dutzende Kisten. Das Büro, in der vierten Etage des Parlamentsgebäudes, muss bis Ende September übergeben werden.
Der Entschluss zum Rückzug stand seit Langem fest
Ja, Kerstin Köditz verabschiedet sich in diesen Tagen aus dem Landtag – nach 23 Jahren als Abgeordnete. Ganz freiwillig, unabhängig vom Wahlergebnis ihrer Partei vom 1. September: „Der Entschluss stand lange fest. Deshalb habe ich nicht mehr kandidiert.“ Der Rückzug habe ausschließlich private Gründe, schiebt sie erklärend nach: „Mein Mann ist 15 Jahre älter als ich, wir wollen noch einiges von uns haben. Ohne ganz zeitiges Aufstehen wegen der permanenten Staus nach Dresden.“ Weitere fünf stressige Jahre im Landtag hätten da nicht ins Lebenskonzept gepasst.
Egal, in welchem politischen Lager man sich nach der Linke-Abgeordneten erkundigt – es wird respektvoll von ihr gesprochen. Über diese Politikerin, die von sich selbst sagt, „eine Nervensäge im positiven Sinn“ zu sein. Eine permanente Kämpferin gegen Rechts. Eine überzeugte Antifaschistin.
Ex-Innenminister: Sie hat mich auch zum Nachdenken gebracht
So sagt beispielsweise Ex-Innenminister Markus Ulbig (CDU, 2009 bis 2017 im Amt): „Kerstin Köditz kann nervig sein und macht manchmal viel Aktionismus. Aber das gehört zur parlamentarischen Arbeit dazu und ist die Aufgabe der Opposition.“ Sie habe ihn auch häufiger zum Nachdenken gebracht, erkennt Ulbig an, der die Politik mittlerweile hinter sich gelassen hat.
An den weiß getünchten Bürowänden hat die Abgeordnete ihre Erinnerungen gesammelt. In Form von Kalendern, die schon lange nicht mehr aktuell sind. Auf einem Poster rast der Transrapid durch die „Weltstadt Grimma“. So lautet jedenfalls der Titel der Sammlung. Eine augenzwinkernde Hommage an die seit gut zwei Jahrzehnten neue Heimat der gebürtigen Leipzigerin. Ein anderer Kalender zeigt die „Bunte Vielfalt“, daneben erzählen Bilder aus Frankreich vom Fernweh und von Lieblingsorten.
Als Abgeordnete hat Kerstin Köditz rund 3500 Kleine Anfrage gestellt
Doch über allem hängt ein überlebensgroßes Plakat mit dem Porträt von Marlene Dietrich, dieser legendären Frau der deutschen Filmgeschichte: „Ich bin aus Anstand Antifaschistin geworden.“ Ein Satz, der das Lebensmotto von Kerstin Köditz auf den Punkt bringt. Selbst wenn – oder vielleicht gerade weil – die Politikerin ansonsten nichts mit der Diva zu verbinden scheint.
Wo soll man anfangen, um die vergangenen 23 Jahre aufzuarbeiten? Als Abgeordnete hat sie in fünf Legislaturperioden insgesamt acht Landesregierungen beschäftigt. Davon zeugen allein 3500 Kleine Anfragen, die sie bevorzugt an das Innenministerium richtete. Das Parlamentsarchiv weist auch ihre erste Drucksache aus: „Rechtsextremistische und/oder fremdenfeindliche Aktivitäten in Sachsen im Monat Oktober 2001.“ Der Weg war also geebnet.
Linke-Politikerin: Rechtsextremismus wurde lange vernachlässigt
Heute sagt sie: „Es hat viel zu lange gedauert, bis Sachsen aufgewacht ist. Dass es ein Problem mit dem Rechtsextremismus gibt, wurde erst mit den Verbrechen des NSU wirklich wahr- und später auch ernst genommen.“ Während das Thema vernachlässigt wurde, habe sich der Rechtsextremismus weiter ausbreiten können, ärgert sich die Linke-Politikerin immer noch.
Kerstin Köditz weiß, wovon sie spricht. Von 2012 bis 2019 ist sie Mitglied der beiden NSU-Untersuchungsausschüsse gewesen. Allein der zweite endete mit einem mehr als tausendseitigen Abschlussbericht, an dem sie maßgeblich beteiligt war. Seit 2010 ist die Linke-Politikerin zudem Mitglied der Parlamentarischen Kontrollkommission – also von jenem Gremium, das den Verfassungsschutz überwacht. Schon vor Jahren hat die Abgeordnete über sich gesagt: „Ich weiß mehr als der Verfassungsschutz.“ Dazu steht sie noch heute. Lob für den Inlandsgeheimdienst, wie sie die Behörde nennt, hört sich jedenfalls anders an.
Als Studentin hat Kerstin Köditz einige Ladendiebe aufgespürt
Doch Politik als Beruf kam für sie lange nicht infrage. Schon gar nicht in einem Parlament. Kerstin Köditz hat bis 1994 Philosophie, Soziologie und Geschichte in Leipzig studiert, einen Abschluss als Magister. Ihren Lebensunterhalt verdiente sie sich unter anderem als Kaufhausdetektivin. Mehr schlecht als recht, sagt ihre Erinnerung. „Vielleicht habe ich mir aber damals einen gewissen Spürsinn angeeignet“, meint die 57-Jährige über jene Jahre, „den Gerechtigkeitssinn hatte ich jedenfalls schon von klein auf.“ Im September 2001, genau am 11., übernahm sie schließlich als Nachrückerin von Maria Gangloff das Landtagsmandat.
Es stehen Erfolge zu Buche, die für eine Politikerin aus der Opposition relativ selten sind. Als berührendsten Moment beschreibt Kerstin Köditz, dass es ihr nach Bekanntwerden der NSU-Morde gelungen sei, drei Getötete in Sachsen als Opfer rechtsextremistischer Gewalt anerkennen zu lassen. Darunter war 2013 auch Achmed Baschir, der 1996 auf der Leipziger Karl-Liebknecht-Straße vor einem Gemüseladen erstochen worden war. Eine Gedenktafel erinnert inzwischen an ihn.
Ihre politische Arbeit wird parteiübergreifend honoriert
Für eine Abschiedsrede in der Fraktion hat Kerstin Köditz weiteres Erreichte notiert. Sie blättert in ihrem Kalender, der kaum größer als eine Handfläche ist. In der heutigen Zeit, bei all den Problemen ihrer Partei, müsse auch mal auf das Positive hingewiesen werden, wird die 57-Jährige wieder kategorisch. Den Sachsenmonitor bezeichnet sie als einen ihrer Verdienste, genauso die Förderung von Begegnungsstätten, die Hilfe für Opfer von Neonazi-Gewalt und das Gesamtkonzept gegen Rechtsextremismus. Auch dass in Staupitz (Nordsachsen) nun keine Rechtsrock-Konzerte mehr stattfinden, habe einiges damit zu tun, dass die Behörden von ihr immer wieder darauf gestoßen worden seien.
Das Engagement wird parteiübergreifend honoriert. „Ohne die Beharrlichkeit von Frau Köditz hätten viele Innenminister das Problem rechtsextremer Strukturen viel einfacher unter den Tisch kehren können“, sagt Valentin Lippmann, der innenpolitische Sprecher der grünen Landtagsfraktion. Ihr „kluger Humor bei Landtagsreden“ habe selbst viele CDU-Abgeordnete regelmäßig zum Lachen gebracht.
Auf die Linke-Politikerin hatten Neonazis ein Kopfgeld ausgesetzt
Der SPD-Innenpolitiker Albrecht Pallas spricht von einer „standhaften und klugen Demokratin“, die nun den Landtag verlässt: „An ihrem jahrzehntelangen Einsatz für Demokratie und gegen die extreme Rechte, aber auch ihren durchdachten, sehr klaren und immer respektvollen Reden können sich einige Kollegen ein Beispiel nehmen.“ Ronald Pohle (CDU), der Vorsitzende des Innenausschusses, bezeichnet Kerstin Köditz als „zuverlässige Kollegin“: „Sie ist eine Kämpferin, fleißig und professionell, auch wenn wir naturgemäß nicht immer auf einer Linie liegen.“
Dass dieser Einsatz gegen den Rechtsextremismus seinen Preis hat – darüber spricht die Linke-Politikerin eher ungern. Ja, es gehöre mittlerweile zum Standard, dass beispielsweise Meldedaten nicht einzusehen sind oder auf Klingelschilder verzichtet wird, sagt sie. Auch über Anschläge auf ihr Abgeordnetenbüro in Grimma (Landkreis Leipzig) und andere Attacken will sie nicht im Detail reden.
Abgeordnete sieht zunehmend die „Würde des Hauses“ verletzt
„Angst hatte ich nie. Aber mit den Jahren sind wir, mein Mann und ich, immer vorsichtiger geworden. Wir passen sehr gut aufeinander auf.“ Dazu gehört beispielsweise, dass sich Kerstin Köditz bei Fahrten zu Terminen zu Hause ab- und anmeldet. Ein Mal, sagt sie schließlich, sei es wirklich ernst gewesen: Damals erhielt sie einen Anruf, dass aus rechten Szene ein Kopfgeld auf sie ausgesetzt sei.
Mehr will die Politikerin jetzt nicht darüber erzählen. Sie steht in ihrem sich leerenden Arbeitszimmer und überlegt inzwischen, was sich in den gut zwei Jahrzehnten im Landtag verändert hat. „Zum Schlechten, meinen Sie, oder so überhaupt?“, fragt Kerstin Köditz. Ihre Antwort: „Die Würde dieses Hauses wird zunehmend mit Füßen getreten.“ Harte Worte, besonders betont aus dem Mund der Linken. Die Begründung folgt umgehend. „Lügen der AfD bleiben im Raum stehen. Und das herausgehobene Instrument eines Untersuchungsausschusses wird für Parteipolitik missbraucht, nur weil die AfD zu blöd ist, eine Landesliste für die Wahl aufzustellen.“
Künftig will sich die Grimmaerin bei „Omas gegen rechts“ engagieren
Hat Kerstin Köditz eigentlich noch einen Ratschlag an den Nachwuchs? „Man muss Politik mit Herz und Verstand machen, man muss sich richtig hineinknien“, sagt die Frau, die sich in zwei Wochen aus der großen Politik verabschieden wird. Wenn man ein Mandat hat, fügt sie hinzu, muss man sich voll darauf konzentrieren, darf keinen Feierabend kennen – „sonst schafft man das nicht“.
Vorerst wird die 57-Jährige noch im Grimmaer Stadtrat der Kommunalpolitik erhalten bleiben. Doch auch hier will sie sich zurückziehen. Und später, sagt sie, könnte dann ein Engagement bei den „Omas gegen Rechts“ folgen.