Da brannte Licht

In einer ostdeutschen Kleinstadt beschliesst ein Mann, für die Demokratie zu kämpfen und mit Rechten zu reden. Geht das gut?

Dunkel wurde dieses Deutschland genannt, in dem die Kleinstadt Zittau liegt. Und es gibt ja auch vieles, das hier dunkel ist.

Wenn am Sonntag Kommunal­wahlen sind, treten die rechts­extremen Freien Sachsen an. Sie streben nach einem Königreich und werben mit dem Spruch: «Raus aus dem Wahnsinn: Säxit!» Die AfD, hier gesichert rechts­extrem, hält im Stadt­parlament von Zittau schon heute die meisten Sitze. Es gibt in Zittau auch ein Nazihaus, das beobachtet wird vom Verfassungs­schutz. Stefan Kühne fuhr einst an diesem Haus vorbei, da kam gerade eine Familie heraus. Ein Mädchen mit zwei Zöpfen, der Vater in einer Pluderhose. Kühne dachte, er sei im Jahr 1933 gelandet.

Stefan Kühne weiss natürlich, dass in Zittau Neonazis leben. Auch ausserhalb des Nazihauses. Er sieht die Fahnen mit den rechts­extremen Symbolen auf Demos. Er hört, dass Jugendliche an den Schulen national­sozialistische Reden halten oder den Hitler­gruss zeigen. Der Ober­bürgermeister warnte vor einigen Wochen: «Wenn wir Pech haben, wird Zittau Vorreiter für etwas ganz Schlimmes.»

Aber dass man bei den Rechten mit niemandem mehr reden kann? Dass sie alle verloren seien für die Demokratie?

Das glaubt Stefan Kühne nicht. Auch wenn sein Unterfangen schwierig ist.

Weil Zittau eine Stadt ist, in der die Brandmauer – nicht politisieren, nicht reden mit den Rechten – kaum zu schaffen ist. Sie würde bedeuten, dass man mit jedem dritten Mitbürger nicht mehr spricht.

Stefan Kühne hat einen sanften Händedruck und eine sehr verbindende Art zu reden. Es kommt vor, dass er ein zustimmendes «hmm, hmm» summt, schon während er eine Frage hört. Und manchmal sagt er ein zärtliches «d» statt eines harten «t».

Im Ruhestand wollte Stefan Kühne eigentlich schriftstellerisch «dätig werden»: Lyrik schreiben, vielleicht auch in die Prosa rein. Aber dann las Kühne im Januar in der Recherche von «Correctiv», wie Politiker von AfD und CDU auf einem Treffen mit Neonazis Pläne zur Vertreibung von Millionen Menschen besprochen hatten, «und da hatte ich das Gefühl: Jetzt muss ich was tun.»

Kühne las, wie der AfD-Politiker und Faschist Björn Höcke sagte: Was in Potsdam besprochen worden sei, Remigration, brauche man nicht zu verstecken. Das sei offizielles Programm der AfD. «Dass man so was dann lauschig diskutiert», sagt Kühne, «das ist ja, als würde ich einen Lesezirkel einberufen für ‹Mein Kampf›. Da würde man ja auch fragen: ‹Stimmt noch alles bei dir?›»

Seither ist Stefan Kühne im Unruhestand.

Es hatte sich lange angebahnt, das Unwohlsein.

Die Sorge, «dass dieses Ding hier auseinander­fliegt»

Seit der Corona-Pandemie gab es in Zittau montags Kundgebungen auf dem Markt, einem grossen Platz in der Altstadt, um den sich historische Häuser reihen. Anfangs protestierten die Leute gegen die Maske, die Ausgangs­sperren und die drohende Impf­pflicht. Bald stellten sie sich nicht nur gegen die Pandemie­politik, sondern auch gegen den Staat und die Medien, die die Corona-Massnahmen unterstützten.

Als diese aufgehoben wurden, demonstrierten die Leute weiter. Sie prangerten nun die Energie­politik der Regierung an, die Waffen­lieferungen an die Ukraine, eine «Massen­immigration». Heute macht die AfD auf der Demobühne am Montag­abend Wahlkampf für die Bundestags­wahlen 2025. Und in der vordersten Reihe des Publikums schwenken rechtsextreme Freie Sachsen ihre Fahnen.

Kühne war oft an Montagen über den Markt gelaufen und hatte sich im Kopf gesagt, er müsste doch eigentlich mal da rauf. Auf die Bühne. Mal aussprechen, was das für ein Schwachsinn sei, den sie hier erzählen. «Aber diesen Schneid hat man dann ja doch nicht.»

Er war darum froh, als nach der Veröffentlichung des «Correctiv»-Berichts ein linkes Bündnis zu einer eigenen Demo rief. Da konnte er hingehen und zeigen, dass er für die Demokratie ist und gegen rechts. Dass er sich sorgt, «dass dieses Ding hier auseinander­fliegt».

Es war ein Montagabend, Kühne ging zum Markt und nahm sich ein Papp­schild, das «die jungen Menschen» vorbereitet hatten, so erzählt er das. Auf der anderen Seite des Platzes, in Sicht- und Hörweite, demonstrierten am gleichen Abend die Rechten.

Kühne wusste, dass er «auf der richtigen Seite» des Marktes stand. Aber es wurde ihm auf der Demo auch rasch zu hitzig und zu laut.

Er stand dort zwischen Jugendlichen, die Antifa-Gesänge anstimmten. In einer Menge, die schrie: «Nazis raus! Nazis raus!»

«Und immer mit dem Blick nach drüben», erzählt Kühne.

Er kannte Leute von drüben, von der anderen Demo. Mitbürgerinnen, die er mal hier sieht, mal da. Und vorne bei der Bühne, unter den Organisatoren der Demo: einen Mann, den er früher bewundert hatte. Mit dem er Seite an Seite gekämpft hatte nach der Wende.

«Das sind nicht alles Nazis», dachte er.

Die, die geblieben sind

«Waren Sie schon im Gebirge?», fragt Kühne.

Er steigt in sein Auto, lenkt es hinaus aus der Stadt, in Dörfer hinein. Vorbei an vielen Dingen, die hier «einmal waren»: Da war mal ein Kurhotel, da war mal ein Ferienheim. Da war mal eine Blüte in den 1920er-Jahren gewesen, bevor der Krieg kam und danach die DDR, in der Zittau «absolutes Zonen­randgebiet» wurde.

Kühne erzählt, wie in den 1980er-Jahren geplant gewesen war, ganze Dörfer um Zittau der Braunkohle zu opfern. Bis zum Stadtrand hätten sich die Kohle­bagger reingefressen, und Zittau wäre eine Insel geworden in all der Kohle. Aber dann brach die DDR 1989 zusammen und die Bagger­pläne wurden aufgegeben. Und viel anderes in Zittau auch.

Die Textil­industrie. Die Fahrzeug­industrie. Kühne erinnert sich, wie er nach dem Mauerfall am Bahnhof in einer langen Schlange anstand, um zum Bruder in den Westen zu fahren. Als es einfach nicht vorwärtsging, sagte er in die Reihe: «Jetzt stehen wir noch am Fahrkarten­schalter an. In zwei Monaten dann beim Arbeitsamt.»

Kühne war zur Wende frisch promoviert in Elektro­technik, 32 Jahre alt, Familien­vater, und er hatte ein Haus gekauft. Er blieb im Osten. Viele andere gingen.

Heute leben in Zittau noch knapp 25’000 Menschen. Das sind rund 35 Prozent weniger als vor der Wende.

Kühnes jüngerer Sohn ging ein Stück weit in den Westen, nach Braunschweig, der ältere, ein Physiker, in die USA. «Das Astro­forschungs­zentrum, das jetzt oben in Görlitz gebaut wird, das wäre vielleicht etwas gewesen für ihn», sagt Kühne. Eines von vielen Projekten, die im Osten Aufschwung bringen sollen. Aber Kühnes Sohn hat in den USA bereits eine Professur. Das kommt nun einfach zu spät.

Wie so vieles hier, meint man.

Es ist ja nicht neu, dass Zittau ein Problem hat mit Neonazis, Fremden­feindlichkeit, Rassismus. Nach 1989 hatten westdeutsche Rechte Sachsen ausgewählt, um neonazistische Strukturen aufzubauen. Eine gewalttätige Szene etablierte sich, besonders in der Provinz. Sie verübte offen Gewalt an Linken und terrorisierte ausländische Personen.

Es war eine Zeit des Wegsehens. In der Politik – und auch unter den Bürgerinnen, die in diesen Jahren des Umbruchs mit eigenen Problemen kämpften.

Kühne war in jenen Jahren in der Hochschul­verwaltung beschäftigt, deren Leiter er später wurde. Es habe «regelrechte Jagden» auf ausländische Studierende gegeben, schlimm sei das gewesen, erzählt er. Er habe sich bei ihnen entschuldigt: «Es tut mir leid, dass das hier alles so ist.» Er könne verstehen, wenn sie wegwollten, habe er ihnen gesagt. Aber auch: dass er froh wäre, würden sie bleiben.

Er hat ja immer sehr um Studenten kämpfen müssen.

Über 30 Jahre arbeitete Kühne an der Hochschule, «und das war immer ein Thema»: Wie holt man junge Menschen überhaupt in die Region?

Denn man kann herrlich wandern im Gebirge, das die Stadt umgibt. Die Landschaft ist sanft. Und aus dem schönsten Haus in der Altstadt, Renaissance, hört Kühne im Sommer, wenn die Fenster offen stehen, manchmal Musik­schülerinnen trompeten.

Aber Studenten wollten natürlich «ins pralle Leben», sagt Kühne. Berlin. München. Wenigstens nach Leipzig oder Dresden.

Kühne tat für die Hochschule, was er konnte. Er organisierte für die Studierenden Kegelabende, «Come together»-Veranstaltungen, Wanderungen ins Gebirge. Er hat sich immer gegen den Niedergang seiner Stadt und der Region gestemmt. Das ist, was ihn mit dem Mann, der montags vorne bei der Bühne der Rechten steht, verbindet.

Der Mann heisst Peter Dierich, und «auf dem tiefsten Grunde seines Herzens», glaubt Kühne, «ist er ein guter Mensch».

Kühne kannte Peter Dierich vor der Wende vom Hörensagen. Er hörte, Dierich sei ein hervorragender Professor für Mathematik. Kühne wusste auch, dass Dierich sich in der christlichen Umwelt­bewegung engagierte. Später gründete Dierich die lokale Bürger­bewegung mit. So schrieb er sich in die Geschichte von Zittau ein: Er war einer, der 1989 mithalf, die Demokratie zu erobern.

Nach der Wende wurde Dierich Landtags­abgeordneter der CDU und Rektor der Hochschule, weil der Vorgänger sich im Regime belastet hatte. Dierich suchte für sein Rektorat eine Person, die in der DDR die nötige Distanz zur Partei und zur Staats­sicherheit gewahrt hatte – eine Person, der er vertrauen konnte. So wurde Stefan Kühne Dierichs Assistent.

Die Hochschule war damals existenziell bedroht. Im ersten Jahr nach der Wende gab es mehr Professoren als neu eingeschriebene Studentinnen. Dierich setzte daraufhin durch, dass die Hochschule sich auf die Region fokussiert. Dass man ausbildete, was die Region brauchte: Fachleute für soziale Arbeit, Ökologie, Tourismus.

«So hat Peter Dierich diese Hochschule zum Überleben gebracht», erzählt Stefan Kühne.

So hat Kühne Dierich gekannt. Als «echte Persönlichkeit».

Das war, bevor Peter Dierich sich von der Politik zu entfremden begann oder die Politik sich von ihm.

Schon vor der Pandemie beklagte Dierich, die etablierten Parteien würden ein «Meinungs­kartell» bilden, das ihm, einem wertkonservativen Christen, «leider – und ich unterstreiche das ‹Leider› dreimal», keine andere Wahl lasse als die AfD. Als sich das Coronavirus ausbreitete, bestritt Dierich nie, dass es pandemisch war. Aber er fing selber an zu rechnen und kam zum Schluss, die Massnahmen seien übertrieben.

Anfangs wurde Dierich noch eingeladen, um seine Berechnungen vorzustellen. Bald hörte er, ihm eile ein Ruf voraus. Man lud ihn immer öfter aus. An der Hochschule, wo ein Forschungs­gebäude Dierichs Namen trägt, verlangten studentische Aktivistinnen, sein Name müsse fallen.

Heute ist Peter Dierich 82 Jahre alt und arbeitet weiterhin in Vollzeit daran, aus offiziellen Gesundheits­statistiken Beweise dafür zu sammeln, dass die Corona-Politik der Bundes­republik falsch war. Er nennt sie mittlerweile ein «Verbrechen».

Stefan Kühne glaubt, Dierich habe sich «auf Corona versteift». Doch er hat nie aufgehört, an ihn zu glauben. Kühne nahm darum ernst, was er im Februar in der «Sächsischen Zeitung» las: Da sagte Dierich über die aufgeladene Atmosphäre zwischen den Demos, es wäre ihm lieber, man würde reden, statt sich zu bekämpfen.

Zwei Wochen später, es war Montag und Demoabend, fragte Kühne die linke Leitung auf seiner Seite des Marktes, ob er auf der Bühne etwas sagen dürfe.

Es war kalt, er hatte seine warme Jacke an. Er trat auf die Bühne und sagte, er sei wie alle hier ein Bürger der Region, der bereit sei, für die Demokratie einzutreten. Die Gesellschaft sei gespalten, «das sehen wir hier ganz deutlich». Es gebe drüben, auf der anderen Demo, ohne Zweifel Leute mit einer neonazistischen Grund­einstellung. Aber viele seien doch einfach nicht einverstanden mit der gegenwärtigen Politik. Seien verunsichert oder hätten Angst. «Wollen wir diese Leute den Extremisten überlassen?», fragte Kühne.

Und dann: Ob es Leute gebe, die bereit wären, sich einzulassen auf eine Diskussion mit den anderen?

Sieben oder acht Leute meldeten sich. Kühne sammelte die Gruppe am Rand der Demo. Sie beschlossen, noch am gleichen Abend rüberzugehen zu den Rechten. Dort auf der Bühne zu fragen, wer interessiert sei an einer Diskussion.

Kühne hatte sich darauf eingestellt, ausgebuht zu werden. Aber er hörte Applaus, als er einen Dialog vorschlug. «Nicht heute und hier», sondern in einem ruhigen Rahmen. An einem neutralen Ort. Um zu besprechen, «wie wir gemeinsam hier leben können».

Er plante, in der Diskussion mit den Rechten zu tun, was Demokratie ausmacht: über Sachpolitik streiten. Debattieren. Einen «kleinsten gemeinsamen Nenner finden». Er hoffte, Leute von der anderen Seite davon zu überzeugen, dass die Alternative für Deutschland keine Alternative sei. Ihnen klarzumachen, dass es gefährlich sei, sich neben Rechts­extreme zu stellen.

Er hatte Hoffnung. Und er spürte Hoffnung auch in der Stadt. Nachdem in der Zeitung über den Dialog berichtet worden war, wurde Kühne angerufen von Mitbürgerinnen. Sie fragten, ob sie mitdiskutieren sollten. Wie sie helfen könnten. Dem Pfarrer antwortete Kühne, man benötige noch eine Moderation.

Ende Februar trafen sich im Kirch­gemeinde­haus an der Pfarrstrasse zwei Gruppen, die aus zwei Demos kamen und, wie sie nach zweieinhalb Stunden bilanzierten: auch aus zwei Wirklichkeiten.

Sie verstanden unter ein und demselben Wort sehr unterschiedliche Dinge. Sie mussten beim ganz Grundsätzlichen beginnen, den Definitionen. Sie fragten: Was genau ist Rechts­extremismus?

Das einzige konkrete Resultat, das Kühne nach dem Gespräch vermelden konnte, war, dass ein weiterer Termin ausgemacht worden war. Ein kleiner Erfolg, fand er, aber es sei einer: «Es hätte ja auch sein können, dass nach zehn Minuten die Ersten rauslaufen und sagen: ‹Das ist mir zu blöd.›»

Doch in den Wochen darauf merkte Kühne, wie aufreibend und anstrengend die Auseinander­setzung war.

Er tauschte sich nun regelmässig mit Peter Dierich aus. Sie schickten sich Mails; Papiere mit Definitionen, die sie besprechen wollten. Einmal trafen sie sich in einem Café, und Stefan Kühne verbrachte über eine Stunde damit, Peter Dierich zu beschwichtigen, dass ein einziger Satz in einer Definition, der Dierich getriggert hatte, nicht nachträglich reingeschrieben wurde, sondern von Beginn weg da gewesen war.

Kühne begann auch, an Montagen, an denen seine eigene Demo pausierte, auf die Demo der anderen zu gehen. Dann recherchierte er bis tief in die Nacht zu Sätzen, die auf der Bühne der anderen gesagt wurden, weil er die Redner beim nächsten Mal konfrontieren wollte.

An einem Montagabend im März, es war garstig und dunkel, passte Kühne einen Redner ab, den er zu den «Scharfmachern» zählte. Er wollte ihm sagen, er habe ein Zitat ganz falsch benutzt, es aus dem Kontext gerissen. Kühne brachte seine Argumente vor, gestikulierte. Resigniert stellte er sich zurück ins Publikum.

Die «Scharfmacher», das realisierte Kühne in jenen Wochen, würde er nicht erreichen.

Aber Leute aus der Menge? Die «Mitläufer», wie er sie nannte?

Als die Demo vorbei war, harrte Kühne aus. Es liefen Leute vorbei, die mitmachen beim Dialog. Sie nickten ihm zu, das zweite Treffen stand bevor. «Wir sehen uns Donnerstag», sagte Kühne.

Als die Zweifel kommen

Stefan Kühne war einmal kurz davor gestanden, einen Brief an den sächsischen Minister­präsidenten zu schreiben mit der Bitte, er möge sich doch einsetzen für eine Aufarbeitung der Pandemie. Er sah in der Pandemie das trennende Moment. Und er hoffte, eine Aufarbeitung würde seiner zerrissenen Stadt zurückgeben, was sie verloren hatte: eine gemeinsam erlebte Vergangenheit, auf der sich eine Zukunft bauen liesse.

Einmal, als Kühne abermals zuhörte, wie Peter Dierich «gar nicht AfD wählen» will, aber die AfD sei nun einmal die einzige Partei, die eine Aufarbeitung der Pandemie­politik fordert, unterbrach Kühne: Er wolle diese Aufarbeitung auch. Und während er das sagte, drückte er Dierich den Zeige­finger in die Brust. Wie um zu sagen: Ich bin doch da!

Kühne schlug darum vor, die Forderung nach einer Corona-Aufarbeitung, die in jenen Wochen im April auch in Berlin diskutiert wurde, für die zweite Diskussions­runde zu traktandieren.

Es war nach 22 Uhr, als sie auf die Frage kamen. Worin sie sich uneinig waren: Welche Konsequenzen sollte eine Aufarbeitung haben?

Kühnes Gruppe wollte nach vorne schauen. Das Ziel müsse sein, für eine nächste Pandemie zu lernen. «Aber die andere Truppe war ja zum Vornherein auf Strafe aus», erzählt Kühne.

In seiner Erinnerung gab es eine Bereitschaft, über einen sogenannten Corona-Brief zu reden. Aber keinen gemeinsamen Beschluss, diesen tatsächlich zu verfassen und abzusenden. Doch zwei Tage später stand in der Lokal­zeitung, die Delegationen der Demos hätten beschlossen, bei der Staats­regierung eine Aufarbeitung zu fordern – und Peter Dierich wurde im Artikel zitiert.

Stefan Kühne war gerade verreist, als die Irritationen aus seiner Gruppe auf ihn einprasselten.

Was das solle? Warum so was in der Zeitung stehe?

Kühne hatte das Wochenende mit Büchern verbringen wollen. Jetzt musste er dem Journalisten nachtelefonieren und eine Richtigstellung verlangen. Er musste bei Peter Dierich fragen, was er dem Journalisten genau gesagt hatte. Kühne kam zum Schluss, es sei ein Missverständnis gewesen. Aber auf seiner eigenen Demo, der Demo für Demokratie, war die linke Leitung misstrauisch geworden.

Am Montag darauf, Kühne stand im Publikum, wurde er von der Demo­leitung gewarnt, man werde etwas über ihn sagen.

Da sei er blossgestellt worden, sagt Kühne. «Richtig ein bisschen verächtlich» gemacht. Und vor allen Leuten.

Die Demoleitung hatte Kühnes Dialog zu Beginn einen Versuch wert gefunden. Nun distanzierte sie sich klar. «Mit Rechten redet man nicht», fasst Kühne das zusammen. Weil das Reden mit Rechten die Rechten normalisiert. Weil Rechte lügen.

«Aber das sind ja nicht alles Nazis», sagt Kühne und seufzt.

Wobei er in diesen Wochen selber unsicher wurde, was die von der Gegenseite wirklich sind. Und was sie wollen.

«Das ist ja nicht mehr nur Corona», sagte er irgendwann. Es schien ihm jetzt, als seien sie «eigentlich gegen alles».

Wenn er die anderen fragte, sagte niemand, sie wählten AfD. Aber sie luden ja ständig AfD-Politiker ein. Hörten zu, wenn der rechts­extreme Publizist Jürgen Elsässer von Volks­austausch und Umvolkung hetzte. Wenn die Bundes­republik als Terror­staat und Leichen­republik diffamiert wurde. Wenn ein AfD-Funktionär auf dem Zittauer Markt «null Asyl!» forderte.

Kühne hörte von Peter Dierich, das Problem sei doch «die ganz andere Herangehens­weise»: Er, Kühne, habe Vertrauen in die Regierung. Er sei ihrer Propaganda auf den Leim gegangen.

Kühne hatte von Beginn an versucht, das Verhandelbare zu finden. Nun begann er sich zu fragen: Gibt es das noch?

Er habe ja bisher «fast nichts» erreicht, sagte Kühne Ende April.

Wenn man den Corona-Brief beschlossen hätte, «dann wäre das natürlich ein Ergebnis gewesen. Aber wenn wir den Brief formuliert hätten, wäre uns vielleicht klar geworden, dass es doch nicht geht. Diesen kleinsten gemeinsamen Nenner auszuarbeiten und zugleich das Trennende deutlich zu machen: Ich weiss nicht, ob das geglückt wäre.»

Wie traurig das ist

Kürzlich besuchte Stefan Kühne ein Seminar zur Demokratie, von dem ihm eines geblieben ist: dass die Demokratie im Grunde gar nicht für den Menschen gemacht ist.

Weil Demokratie davon lebt, dass Meinungen aufeinander­prallen. Weil sie furchtbar anstrengend ist, immer neu ausgefochten werden muss. «Die Diktatur ist viel bequemer», sagt Kühne, und er lacht. Vielleicht, weil er bemerkt, wie traurig das ist.

Es war ja seine grosse Erfahrung aus der DDR, dass es keine Alternative gibt zur Demokratie.

Sie hatten, erzählt Kühne, nach dem Demokratie-Seminar lange diskutiert. Ob die AfD zu verbieten unklug wäre? Weil es die Leute bloss radikalisiert? Er erzählt, er habe – bewusst provokativ – die Frage in den Raum gestellt, ob man die Partei einfach «laufen lassen» müsste. Sie in Sachsen regieren lassen müsste, wenn 30 Prozent der Leute das so wollten. Damit sichtbar würde, dass sie nicht fähig ist. Damit sie sich selbst entzaubert.

Aber natürlich, sagt Kühne, «ist da diese grosse Angst vor dem Dritten Reich».

Kühne war irgendwann auf Goebbels gekommen. Auf diesen berühmten Ausspruch, der sinngemäss lautet: Wenn die Demokratie so dumm sei, ihre Feinde in das Parlament einzuladen, dann komme man natürlich gern. Er erzählte auch von einem Vortrag beim städtischen Museum in Zittau, den er besuchte und der davon handelte, wie die Nazis 1933 in Zittau die Macht ergriffen. Da habe der Museums­direktor betont, «wie schnell das ging». «Das ist alles innerhalb eines halben Jahres passiert!»

Stefan Kühne führte in den vielen Wochen, in denen er sich den Schlaf rauben liess von der Demokratie, vor, was Demokratie verlangt. Wie zerbrechlich sie ist. Und vor allem, von wem sie lebt: von Menschen, die sie als grosse Errungenschaft betrachten.

Kühne wies Peter Dierich mehrmals darauf hin, die Freien Sachsen seien «ein Schläger­trupp». Er warnte ihn, er paktiere mit Leuten, die etwas ganz anderes vorhaben könnten, als ihm lieb sei.

Im Mai, nachdem der Corona-Brief gescheitert war, zog sich Peter Dierich aus dem Dialog zurück. Da wollte Stefan Kühne aufgeben.

Aber er versucht es jetzt doch noch mal.

Vielleicht könne er bei manchen Leuten noch Dinge ansprechen, sagt er.

Vielleicht ist es so, wie Kühne anfangs einmal sagte: «Solange wir noch reden, ist vielleicht noch einiges gut.»

So wie bei jenem Treffen im März, als sie bis weit nach zehn Uhr abends diskutierten. Da lag die Altstadt von Zittau im Dunkeln. Aber in der Gasse, in der sie sich trafen, im Haus, in dem sie stritten: Da brannte Licht.