Steuerparadies vor den Toren Leipzigs: Das reiche Lützen gerät in Not

Lützen galt jahrelang als eine der fünf günstigsten Steueroasen in Deutschland und als reichste Stadt in Sachsen-Anhalt. Vor allem die Deutsche Bank, aber auch Baufirmen aus Leipzig sorgten dort für hohe Einnahmen. Doch jetzt wendet sich das Blatt, wird die niedrige Gewerbesteuer zum großen Problem.

Leipzig. Die rot gerahmte Glastür wirkt nicht so, als ob dahinter drei Milliarden Euro warten. An der Plasteklingel steht „DB Industrial Holdings GmbH“. Das ist eine Tochterfirma der Deutschen Bank, die riesige Summen verwaltet. Und zwar hier: in einem Feuerwehrgerätehaus in Gostau, einem kleinen Ortsteil von Lützen. Doch die Klingel scheint nicht zu funktionieren. Der Knopf bleibt nach dem ersten Drücken hängen, man hört auch kein Läuten. Trotzdem kommt nach längerer Pause und dem dritten Drücken eine Person an die Tür.

Zu Gostau gehören idyllische Bauernhöfe, drei Straßen, nicht mal 100 Einwohner. Trotzdem siedelten sich im Feuerwehrgerätehaus – gleich hinter dem Kriegerdenkmal – große Finanztöchter der Deutschen Bank an. Ihre Gewerbesteuern haben Lützen zur reichsten Stadt in Sachsen-Anhalt gemacht. Schulden waren für diese Kommune lange Zeit ein Fremdwort. Lützen hatte bis zu 142 Millionen Euro Guthaben auf der hohen Kante, nahm oft sogar mehr Gewerbesteuern ein als die Stadt Leuna mit ihrem gewaltigen Chemiepark.

Hebesatz so niedrig wie gesetzlich erlaubt

Und das lag vor allem an dem Feuerwehrgerätehaus, das zwischen einem Kriegerdenkmal und dem Löschteich mit einer süßen Entenfamilie steht. Dort begann alles vor 21 Jahren. Denn die damals noch selbstständige Gemeinde Sössen/Gostau/Stößwitz legte den Hebesatz für ihre Gewerbesteuer so niedrig wie gesetzlich erlaubt fest. Sie wollte damit Firmenansiedlungen ermöglichen und die Selbstständigkeit der Gemeinde sichern. Im Oktober 2003 klopften tatsächlich zwei Manager an. Andreas E. Siewert und Lutz Robra vertraten Tochterfirmen der Deutschen Bank. Sie trugen „feinen Zwirn“, wie der Ortsbürgermeister später erzählte.

Die gut gekleideten Manager suchten „nur zwei, drei Büroräume für eine Handvoll Mitarbeiter“. Und stellten hohe Steuerzahlungen in Aussicht. Bald darauf mussten die Kameraden der Freiwilligen Feuerwehr Sössen etwas zusammenrücken, wurde im Gerätehaus von Gostau Platz für ein separates Büro geschaffen. Zuvor waren die Finanzfirmen noch in Schleswig-Holstein ansässig: In einer Steueroase, die ihren Hebesatz ab 2004 erhöhen musste. Nun sprudelten die Millionen-Beträge im eher armen Land Sachsen-Anhalt: zunächst für Sössen/Gostau/Stößwitz, nach der trotz allem erfolgten Eingemeindung 2011 dann an das Rathaus in der vier Kilometer entfernten Stadt Lützen.

Bankmanager arbeiten zu ungewöhnlichen Zeiten

Die Leute vor Ort sind gut auf die Deutschbanker zu sprechen. Nicht nur in Sössen/Gostau/Stößwitz sei seitdem viel saniert worden. Es handele sich auch nicht um eine reine Briefkasten-Firma, erzählt eine Nachbarin. „In dem Büro arbeitet eine Teilzeitkraft, die hier aus der Gegend stammt.“ Außerdem tauchten regelmäßig zwei andere Frauen und zwei Männer mit sehr flexiblen Arbeitszeiten auf. „Sie kommen häufig zu Besuch, aber zu ungewöhnlichen Zeiten und sind meist schnell wieder weg.“ Das lasse sich leicht erkennen an den Autos, die neben der Lindenallee an der Feuerwehr parken.

Nur 100 Schritte entfernt sitzt noch eine weitere Tochterfirma der Deutschen Bank im früheren Gemeindezentrum von Sössen/Gostau/Stößwitz. Das ist ein Neubau, der heute auch das Dorfmuseum beherbergt und eine Station vom Malteser-Hilfsdienst. Die Firma heißt Benefit Trust GmbH und verfügt über 6,9 Milliarden Euro Eigenkapital. In der letzten Bilanz des Konzerns Deutsche Bank steht Lützen zwischen London, Singapur und Hongkong.

Lützen, Frankfurt, Schönefeld oft in Bank-Bilanz

Nur zwei Städte im Inland fallen in der Bilanz noch häufiger ins Auge: Nämlich Frankfurt/Main, wo sich der Konzernsitz mit Tausenden Beschäftigten befindet, und sehr oft auch Schönefeld bei Berlin. Schönefeld ist laut Experten ein Steuerparadies mit eigenem Flughafen, der sich BER nennt. Der Hebesatz bei der Gewerbesteuer beträgt dort 240 – genau wie in Lützen. Beide Städte gehören zu den fünf Kommunen mit den niedrigsten Hebesätzen in ganz Deutschland. In Frankfurt/Main und in Leipzig liegen sie bei 460, also fast doppelt so hoch. Bundesweit beläuft sich der Durchschnitt auf 435.

Wie das alles zusammenhängt, könnte der Mann leicht erklären, der nun doch die rote Tür vom Gerätehaus öffnet. Es ist Lutz Robra, der Manager, der 2003 das Büro in Gostau eröffnet hatte. Sein Bild lässt sich leicht im Internet finden, weil er in seiner Heimatstadt Weiler in Rheinhessen seit Langem ein großes Damen-Tennis-Turnier ehrenamtlich organisiert hat. Der Banker sieht sehr entspannt aus. Er steht nun im Flur zwischen Feuerwehr-Pokalen und einer alten Kübelspritze.

Deutsche Bank ordnet Gostau sieben Beschäftigte zu

Doch Fragen der Presse beantworten möchte Robra nicht. Auch nicht dazu, ob es stimmt, was in Lützen erzählt wird. Demnach hätten Vertreter der Deutschen Bank wiederholt gewarnt, dass sie ihre Büros in Gostau auch schnell wieder verlassen könnten, falls Lützen die Gewerbesteuer erhöht. Robra verweist zu allen Fragen nur auf die Pressestelle der Bank, wie das in Konzernen heutzutage üblich ist.

Jedoch äußert sich auch die Pressestelle nicht konkret zu dieser Frage. Der Geschäftszweck der Tochtergesellschaften in der Gemeinde Lützen bestehe „im Wesentlichen im Halten von Industriebeteiligungen der Bank und in der Verwaltung von Altersvorsorgeverpflichtungen für ihre Beschäftigten“, antwortet ein Sprecher – ebenfalls sehr freundlich. „Die Deutsche Bank berücksichtigt bei ihren Standortentscheidungen grundsätzlich alle relevanten wirtschaftlichen und rechtlichen Kriterien. Derzeit sind bei den Tochtergesellschaften in Lützen inklusive der Geschäftsführung sieben Mitarbeitende (zum Teil in Teilzeit) beschäftigt.“ Auch die Geschäftsführer weilten regelmäßig vor Ort.

Damit sichern sie ab, dass dieses „Modell zur Steuervermeidung“ juristisch erlaubt bleibt, erklärt Sebastian Eichfelder, Professor für Steuerlehre an der Universität Magdeburg. Er hat sich die letzten verfügbaren Bilanzen der Firmen aus dem Gerätehaus genauer angeschaut und hält die Angaben der Bank zum Geschäftszweck für vorgeschoben. Etwa die „DB Industrial Holdings GmbH“, die am Klingelschild steht, habe für 2022 nur zwei Beteiligungen im Wert von 12,20 Euro sowie 41,20 Euro ausgewiesen. „Das ist natürlich ein guter Witz“, sagt der Wirtschaftswissenschaftler. Ebenfalls grotesk finde er die Angaben von 1 Euro für Softwarekosten oder die 28 Euro für Betriebs- und Geschäftsausstattung. „Dafür bekommt man nicht mal einen Tisch.“

Wirtschaftsprofessor: Es geht um Steuervermeidung

Nach seiner Meinung gehe es bei allen drei Unternehmen allein darum, Gewinne niedriger zu versteuern als beispielsweise in Frankfurt/Main. Vereinfacht gesprochen erhalte die Tochter in Lützen dazu viel Eigenkapital von der Bank und verleihe dieses Geld wieder zurück an ihre Mutter – gegen marktübliche Zinsen. Durch den geringen Gewerbesteuersatz in Lützen werde der Zinsertrag um etwa acht Prozent geringer besteuert als in Frankfurt. In Summe spare die Bank so jedes Jahr viele Steuer-Millionen, sagt Professor Eichfelder. „Das ist gesetzlich erlaubt, wenn die Tochter ihre Betriebsstätte wirklich in Lützen unterhält.“ Der Staat wolle so Wettbewerb unter den Kommunen fördern.

Lützen zählt 8500 Einwohner. Die überwiegende Mehrheit wohnt in den vielen, eingemeindeten Ortschaften, erzählt Stadträtin Christine Krößmann (parteilos). Die Kommune habe sich daran gewöhnt, reich zu sein. Doch neuerdings gebe es immer mehr Probleme. „Wir haben uns viel gegönnt – vor allem in der Kernstadt“, sagt die erfahrene Kommunalpolitikerin (74) aus der Ortschaft Dehlitz. In Lützen seien zum Beispiel das Freibad saniert worden, außerdem eine supermoderne Kita, eine Erweiterung für die privat betriebene Schule, auch eine architektonisch besondere Ausstellungshalle für Gebeine-Funde aus dem Dreißigjährigen Krieg im Bau. „Fast überall gibt es erhebliche Verzögerungen, haben sich die Baukosten massiv verteuert.“

Hohe Personalkosten und hohe Investitionen

Auch die Personalkosten der Stadt seien zu hoch gegenüber der Einnahmen-Situation, berichtet Nico Neuhaus (Bürgerliste). „Jetzt sollen noch mal drei Stellen im musealen Bereich dazu kommen. Das kann ich nicht verstehen“, sagt er. Neuhaus stammt aus der Ortschaft Zorbau, ist Ingenieur und zugleich Stadtratsvorsitzender. „Auch wenn wir noch mehr Attraktionen schaffen, werden die Touristen uns nur kurz besuchen und dann in Leipzig schlafen“, glaubt er. Bürgermeister Uwe Weiß (SPD) wollte sich zur Finanzsituation der Stadt und der niedrigen Gewerbesteuer nicht äußern.

Schon zweimal bekam Lützen Steuer-Nachzahlungen von weit über 100 Millionen Euro aus dem Ortsteil Gostau. In normalen Jahren fließen von dort zweistellige Millionenbeträge an die Stadtkasse. Daneben gibt es nach viel Abstand als größere Einnahmequelle noch das Gewerbegebiet in Zorbau an der A 9 – und eher kleinere Zahler wie Betriebsstätten von Baufirmen, die auch in Leipzig bekannt sind. Dazu gehören KSW, CE-Projekt, IKS und jene Firmen, welche die alte Husarenkaserne in Grimma oder die frühere Ludwig-Hupfeldt-Klavierfabrik in Böhlitz-Ehrenberg entwickeln.

Alle Ersparnisse in drei Jahren aufgebraucht

Lützen hat schon so viele Zahlungsverpflichtungen für seine Bauprojekte unterschrieben, dass alle restlichen Ersparnisse (etwa 25 Millionen Euro) spätestens 2027 aufgebraucht sein werden. 2024 muss die Stadt erstmals Liquiditätskredite aufnehmen, um alle Zahlungen pünktlich leisten zu können. Das sorgt neuerdings für ernsthafte Fragen im Stadtrat, ob es nicht doch klüger wäre, die Gewerbesteuer anzuheben. Das Geld von den Bank-Ablegern in Gostau sei Segen und Fluch zugleich, meint Stadträtin Krößmann. „Das meiste davon müssen wir ohnehin abgeben an den Burgenlandkreis und an das Land Sachsen-Anhalt. Das ist auch richtig so, weil solidarisch gegenüber unseren Nachbarn“, sagt die Ex-Linke.

Jedoch habe Sachsen-Anhalt jüngst ein neues Finanzausgleichsgesetz beschlossen. Laut den dazugehörigen Gutachten wird das reiche Lützen besonders stark abgeschöpft und finanziell künftig vom Land um ein Drittel schlechter gestellt bei den Zuschüssen und Abgaben. „Das würde uns schnell ruinieren“, warnt Neuhaus. Deshalb habe der Stadtrat vor wenigen Tagen entschieden, gegen das neue Gesetz vor Gericht zu ziehen. „Falls das keinen Erfolg bringt, bleibt uns kaum etwas anderes übrig als die Gewerbesteuer anzuheben.“ Doch wie lange würden dann noch Banker an dem Feuerwehrgerätehaus in Gostau vorfahren?