Mutmaßliche Linksextremisten aus Deutschland in Ungarn vor Gericht
Am Stadtgericht Budapest beginnt am Montag das Verfahren gegen mutmaßliche Linksextremisten – zwei Deutsche und eine Italienerin. Sie sollen Teilnehmer einer rechtsextremen SS-Gedenkveranstaltung angegriffen haben. Weitere Beschuldigte fehlen jedoch. Einer von ihnen wurde im Dezember in Berlin festgenommen. Nun wird über seine Auslieferung nach Ungarn verhandelt.
Die Festnahme muss filmreif abgelaufen sein. Als Simeon T. am 11. Dezember in einer Berliner Wohnung festgenommen wurde, soll er beim Fluchtversuch von den MEK-Beamten in eine Scheibe gedrückt worden sein. Die Scheibe ging zu Bruch, T. verletzte sich leicht, wie mehrere Quellen MDR Investigativ auf Nachfrage bestätigten.
Der 21-jährige T. aus Jena wurde seit mehreren Monaten von deutschen und ungarischen Behörden gesucht, weil er im Februar 2023 an Angriffen auf mutmaßliche und vermeintliche Teilnehmer eines rechtsextremen SS-Gedenkmarsches, dem „Tag der Ehre“ in Budapest, beteiligt gewesen sein soll. Dabei wurden mehrere Personen verletzt. Einige von ihnen schwer. Die Veranstaltung hat sich in den vergangenen Jahren zu einer festen Größe der europäischen Neonazi-Szene entwickelt. Zu ihren Organisatoren gehört unter anderem der ungarische Ableger des in Deutschland verbotenen „Blood and Honour“-Netzwerkes.
Was den Beschuldigten vorgeworfen wird
Ab dem kommenden Montag müssen sich zwei Deutsche und eine Italienerin vor dem Budapester Stadtgericht für die Angriffe verantworten. Ein Deutscher und die Italienerin sitzen in Ungarn in Untersuchungshaft. Eine weitere Deutsche befindet sich auf freiem Fuß in Deutschland und kommt hier ihren Meldeauflagen nach. Bei dem Deutschen in U-Haft soll es sich um einen Mann aus dem Umfeld der verurteilten Linksextremistin Lina E. handeln.
Zu den Vorwürfen befragt, antwortet die Budapester Staatsanwaltschaft dem MDR: „Nach Auffassung der Staatsanwaltschaft kann im Zusammenhang mit deutschen Staatsbürgern die Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung nachgewiesen werden, die mit einer Freiheitsstrafe zwischen einem und fünf Jahren geahndet wird.“
Der Italienerin Ilaria Salis werden laut Staatsanwaltschaft „drei versuchte lebensgefährliche Körperverletzungen in einer kriminellen Vereinigung“ vorgeworfen. „Diese Verbrechen können zusammen mit einer Freiheitsstrafe zwischen zwei und 24 Jahren bestraft werden“, erklärt ein Sprecher der Staatsanwaltschaft MDR Investigativ.
Weitere Personen werden gesucht
Wegen der Angriffe in Budapest suchen die deutschen Behörden derzeit nach zehn weiteren Personen, denen sie gefährliche Körperverletzung vorwerfen. Die ungarischen Behörden suchen zusätzlich nach vier weiteren Personen. Die Deutschen gelten für die Ermittler als „untergetaucht“. Einige dieser gesuchten Personen kommen aus dem Umfeld der vom Oberlandesgericht Dresden als Linksextremistin verurteilten Lina E. Dazu zählen ihr Verlobter Johann Guntermann und ein weiterer Mann. Beide sollen nach Erkenntnissen aus dem Staatsschutzverfahren in Dresden am Überfall auf den Eisenacher Rechtsextremisten Leon R. im Dezember 2019 beteiligt gewesen sein. Auch der in Budapest in U-Haft sitzende Deutsche soll bei dem Überfall dabei gewesen sein.
Unterschiedliche Behörden sprechen davon, dass alle gesuchten Personen aus Budapest zum Umfeld von Lina E. gehören sollen. Diese Einschätzung deckt sich jedoch nicht mit den Informationen von MDR Investigativ. Demnach sind die drei genannten Personen aus dem Umfeld der Leipzigerin, zum Rest besteht aber kein unmittelbarer Bezug.
Während die physischen Umstände der Festnahme T.s ohne Folgen bleiben, tobt längst ein Kampf um die juristischen Auswirkungen der Maßnahme. Umgehend nach seiner Festnahme in Berlin wurde T. nach Dresden gebracht, wo ein Ermittlungsrichter die Untersuchungshaft gegen ihn anordnete.
Die Generalstaatsanwaltschaft Dresden hatte im Vorfeld einen Haftbefehl gegen den 23-Jährigen erwirkt. Sie ermittelt gegen ihn und die weiteren Deutschen in einem sogenannten „Spiegel-Verfahren“ ebenfalls wegen des Verdachts der gefährlichen Körperverletzung in Budapest. Der Jenaer sitzt seitdem in der Justizvollzugsanstalt Dresden in Untersuchungshaft und soll von anderen Gefangenen isoliert worden sein. Weder die JVA noch die Generalstaatsanwaltschaft Dresden erteilten dem MDR Auskünfte zur Untersuchungshaft.
Auslieferung nach Ungarn steht im Raum
Fest steht jedoch, dass die ungarischen Behörden ein Auslieferungsantrag für Simeon T. gestellt haben. Dieser identifiziert sich selbst als nicht binär und möchte „Maja“ genannt werden. Zwischenzeitlich gab es länger Unklarheiten darüber, ob die Dresdner oder die Berliner Generalstaatsanwaltschaft für diesen Antrag zuständig ist. Mittlerweile ist geklärt: Es ist die Berliner. Auf MDR-Nachfrage erklärt deren Sprecher, Sebastian Büchner:
„Die ungarischen Behörden haben durch Übermittlung […] eines Europäischen Haftbefehls des Budapester Zentralen Bezirksgerichts vom 8. November 2023 um Festnahme des Verfolgten mit dem Ziel der Auslieferung zum Zweck der Strafverfolgung ersucht.“
Ihm werde dort „die Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung sowie vorsätzliche schwere Körperverletzung“ vorgeworfen. Der Fall entspräche den „regelmäßigen Abläufen bei einem Europäischen Haftbefehl“, erläutert Büchner. Richterin Lisa Jani bestätigt MDR Investigativ, dass beim Kammergericht ein Antrag der Generalstaatsanwaltschaft Berlin vom 5. Januar 2024 auf Anordnung der Auslieferungshaft von Simeon T. eingegangen sei.
Jani ist Sprecherin des Berliner Kammergerichts. „Das Verfahren richtet sich nach den Vorschriften des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG)“, erläutert Jani. „Der zuständige 4. Strafsenat des Kammergerichts wird den Antrag nun prüfen, die Verfahrensbeteiligten anhören und zu gegebener Zeit eine Entscheidung treffen.“
Planlose Behörden?
Der Anwalt von Simeon T., Sven Richwin, erweckt unterdessen im Gespräch mit MDR Investigativ den Eindruck, dass die deutschen Behörden noch gar nicht richtig wissen, wie sie mit dem Fall seines Mandanten umgehen sollen. Laut Richwin liegt über die Anordnung einer Auslieferungshaft bisher noch keine weitere Entscheidung vor. Denn das in Dresden geführte „Spiegel-Verfahren“ dürfte einer Auslieferung laut Richwin im Wege stehen. Es könne jedoch durch die GenStA Dresden auch einfach eingestellt werden, um dieses Hindernis „aus dem Weg zu räumen“.
Offenbar habe sich die Dresdner Behörde aber noch nicht entschieden, ob sie de facto das Verfahren aus der Hand geben will, erläutert Richwin weiter. Im Zusammenhang mit den für seinen Mandanten drohenden Auslieferung findet der Anwalt scharfe Worte. „Die deutschen Behörden benutzen die Drohung mit der Auslieferung in ein Land ohne gesicherte Menschenrechte als Drohkulisse im gesamten Verfahrens-Komplex.“
Und weiter: „Aktuell droht Maja die Chance auf ein faires Verfahren genommen zu werden. Die Berliner Generalstaatsanwaltschaft und das Kammergericht, die aktuell für die Entscheidung über die Auslieferung zuständig sind, werden sich an ihrer Wertung von Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit messen lassen müssen.“
Warum der Anwalt und sein Mandant sich vehement gegen eine Auslieferung nach Ungarn wehren, erklärt ein Blick auf die beiden bereits wegen der Vorfälle vom Februar 2023 in Untersuchungshaft befindlichen Personen. Neben dem bereits genannten Deutschen aus dem Umfeld von Lina E. handelt es sich dabei um die 40-jährige Italienerin Ilaria Salis. Sie wurden damals vor Ort wenige Tage nach der rechtsextremen Demonstration festgenommen.
Erbärmliche Haftbedingungen
Während über die Haftbedingungen des Deutschen nicht viel Verbindliches zu erfahren ist, wurde der Fall von Ilaria Salis in den italienischen Medien sehr gut dokumentiert. In einem Artikel für die italienische Zeitung „La Repubblica“ wird aus einem ersten Brief zitiert, den die Lehrerin erst nach Monaten an ihre Eltern schicken konnte. Sie widerspricht den Vorwürfen vehement und beklagt darin neben der ihr angedrohten Haftstrafe von gut 16 Jahren, unter anderem auch eine viel zu kleine – drei Quadratmeter – und mit Kakerlaken und Bettwanzen verseuchte Zelle, sowie eine schlechte Verpflegung und schlechte hygienische Bedingungen. So seien ihr beispielsweise keine Tampons oder Binden zur Verfügung gestellt worden. Stattdessen habe sie Wattebüschel für ihre Menstruationsblutung nutzen müssen.
Mauro Straini und Eugenio Losco, zwei Anwälte aus Mailand, kennen Ilaria Salis und verfolgen ihren Fall. Im Gespräch mit MDR Investigativ weist Straini noch einmal auf alle in La Repubblica genannten Punkte hin und ergänzt, dass ihr erst nach sieben Monaten der Kontakt zu ihrer Familie erlaubt wurde. Auch werde ihre Zelle jetzt gegen Bettwanzen besprüht, aber Salis müsse nach dem Sprühen direkt wieder in ihre Zelle, weswegen sie meist das Pestizid inhalieren müsse.
Mit ihren ungarischen Anwälten könne sie nur durch eine Glasscheibe und ein Telefon sprechen. „Für uns ist das ziemlich seltsam“, kommentiert Straini diese Tatsache und ergänzt, dass in Italien selbst in Mafia-Verfahren die Anwälte persönlich mit ihren Mandanten sprechen könnten. Diese Schilderungen über diese schlechten Haftbedingungen dürften dazu beitragen, dass die anderen gesuchten Personen weiterhin versuchen könnten, sich dem Zugriff der Behörden zu entziehen. Am kommenden Montag wird die Staatsanwaltschaft zunächst die Anklage gegen die Beschuldigten verlesen. Sollten sie sich schuldig bekennen, wird danach direkt ein Urteil gesprochen. Davon ist nicht auszugehen, weswegen ein langer Prozess erwartet wird.