Prozess in Leipzig – Mordfall Jesse L.: Staatsanwaltschaft prüft Vorwürfe wegen Strafvereitelung
Im Prozess um den Mord an dem Leipziger Jesse L. will das Gericht letzte Fragezeichen ausräumen. Es geht um Ermittlungen gegen einen Rauschgifthändler, um die Herkunft der Mordwaffe und die Nachstellung des Tatablaufs.
Diese Fragen treiben die Richter im Prozess um den Mord an dem Leipziger Jesse L. (19) weiter um: Wie liefen die Ermittlungen gegen dessen mutmaßlichen Großdealer und welche Berührungspunkte gibt es zu dem aktuell angeklagten Tötungsverbrechen? Die zuständige 2. Strafkammer will deshalb einen Beamten des sächsischen Landeskriminalamtes (LKA) als Zeugen vernehmen, dem eine besondere Aufgabe zufiel. Er betreute einen wichtigen Informanten – jene sogenannte Vertrauensperson (VP), welche durch entsprechende Hinweise die Ermittlungen gegen den 30-jährigen Rauschgifthändler ausgelöst hatte.
Brisantes Verfahren gegen Dealer
Bei diesem Dealer, der im Milieu als Kadir bekannt ist, sollen Jesse L. und der Mordangeklagte Max D. (20) am 11. Januar 2022 mehrere Kilogramm Marihuana abgeholt haben. Etwa zwei Stunden bevor Jesse L. durch einen Kopfschuss getötet wurde, sollen sie in dessen Spätverkauf in Leipzig-Mölkau gewesen sein. Danach fuhren die jungen Männer weiter in Richtung Schkeuditz, wo ein Drogendeal über die Bühne gehen sollte. Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass Max D. an diesem Tag den ein Jahr jüngeren Jesse L. auf einem Feld bei Schkeuditz erschoss, um an dessen Rauschgift zu gelangen, was zuvor bei Kadir geholt worden war.
Das Verfahren rund um den Dealer ist auch deshalb von einer gewissen Brisanz, weil die Staatsanwaltschaft bislang keine Veranlassung sah, den Mann in Untersuchungshaft zu nehmen. Und das, obwohl man bei Kadir kiloweise Drogen sicherstellte – 21 Kilogramm Marihuana und fünf Kilogramm Crystal. Auch Waffen wurden bei Hausdurchsuchungen entdeckt. „Es ist zutreffend, dass seitens der Staatsanwaltschaft Leipzig gegen den Tatverdächtigen kein Haftbefehl beantragt wurde“, so Behördensprecher Andreas Ricken auf LVZ-Anfrage. „Aus Sicht der Staatsanwaltschaft war kein dringender Tatverdacht gegen den Tatverdächtigen gegeben. Weitere Einzelheiten, insbesondere warum kein dringender Tatverdacht vorlag, können mit Blick auf die noch laufenden Ermittlungen nicht mitgeteilt werden.“
Gutachten zu Tatrekonstruktion liegt noch nicht vor
Wenig mitteilsam ist die Behörde auch in anderen Fragen. Beispielsweise, ob der aktuelle Aufenthaltsort von Kadir bekannt sei. Immerhin soll der 30-Jährige schon einmal abgetaucht gewesen und erst im Erfurt aufgegriffen worden sein. Im Zuge des Mordfalls Jesse L. sei gegen Kadir ein weiteres Ermittlungsverfahren wegen Handels mit Betäubungsmitteln eingeleitet worden, sagte ein Ermittler vor Gericht aus. Allerdings gab es nach Angaben der Strafkammer bisher keinerlei Verbindung dieser Verfahren und keinen Informationsaustausch. Immerhin: Vorwürfe von Nebenklage-Anwalt Jan Siebenhüner, welcher die Staatsanwaltschaft wegen versuchter Strafvereitelung im Amt massiv kritisierte, sollen nunmehr „eingehend geprüft“ werden, kündigte der Behördensprecher an.
Unterdessen erwartet das Gericht auch das Gutachten aus der aufwendigen Nachstellung des Tatgeschehens. Bei der Bereitschaftspolizei wurde der Ablauf präzise rekonstruiert, um herauszufinden, ob Max D. einen heimtückischen Mord begangen hat oder es eine Art Unfall war, wie es der Angeklagte behauptete. Man kenne das Ergebnis des Gutachtens bislang noch nicht, erklärte der Vorsitzende Richter Michael Dahms bei der Prozessfortsetzung am Freitag.
Vater von Jesse L. bei audiovisueller Vernehmung
Und dann wäre da noch die Frage nach der Tatwaffe: Max D. behauptet, dass Jesse L. ihm die Pistole gegeben habe, mit der kurz darauf der tödliche Schuss abgefeuert wurde. Doch Zeugen aus dem Umfeld des Mordopfers sagten aus, bei dem 19-Jährigen noch nie eine Waffe gesehen zu haben. „Jesse hat Kampfsport gemacht, der brauchte keine Waffe“, erklärte sein Vater am Freitag im Prozess. Das Gericht hatte eine audiovisuelle Vernehmung angeordnet, um ihm einen persönlichen Auftritt im Sitzungssaal zu ersparen. „Ich habe Jesse nie mit einer Waffe gesehen“, bekräftige der Installateur, „so etwas gab es bei uns nicht.“
22.11.2022
Massive Vorwürfe von Opferanwalt – Mord an Leipziger Jesse L.: Justiz ließ seinen Großdealer auf freiem Fuß
Der Drogendealer, bei dem Jesse L. wenige Stunden vor seinem Tod Marihuana holte, ist bis heute auf freiem Fuß. Obwohl die Polizei bei ihm kiloweise Rauschgift sicherstellte, sieht die Staatsanwaltschaft offenbar keinen dringenden Tatverdacht.
Diese Überraschung im Mordfall Jesse L. (19) hat das Zeug zu einem Justizskandal: Wie bei der Prozessfortsetzung am Dienstag im Landgericht herauskam, waren Ermittler schon einige Wochen, bevor der junge Leipziger erschossen wurde, auf der Spur seines mutmaßlichen Großdealers. Doch dieser 30-Jährige, der in der Szene als Kadir bekannt ist, befindet sich bis heute auf freiem Fuß. Denn obwohl die Polizei in dessen Geschäft kiloweise Drogen sicherstellte, beantragte die Staatsanwaltschaft nach Angaben eines zuständigen Kripo-Beamten trotz ausdrücklicher Anregung bislang keinen Haftbefehl. „Das ist zurzeit in solchen Fällen in Leipzig so üblich“, erläuterte der Ermittler vor Gericht merklich frustriert.
Kadir gilt in dem Mordprozess als wichtiger Zeuge. Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass der 20-jährige Max D. am 11. Januar 2022 den ein Jahr jüngeren Jesse L. bei Schkeuditz mit einem Kopfschuss tötete, um an dessen Rauschgift zu gelangen. Beide sollen an dem Tag auf dem Weg zu einem Drogendeal gewesen sein. Etwa zwei Stunden zuvor habe Jesse L. das Marihuana, das an jenem Abend verkauft werden sollte, in einem Spätverkauf in Leipzig-Mölkau abgeholt. Von diesem Geschäft aus soll Kadir im großen Stil mit allerlei Betäubungsmitteln gehandelt haben.
Marihuana und Crystal sichergestellt
Bereits Anfang Dezember 2021 hätten Polizeikräfte den Spätverkauf observiert, berichtete ein Beamter am Dienstag vor Gericht. Ausgangspunkt der Ermittlungen gegen Kadir sei der Hinweis einer sogenannten Vertrauensperson (VP) gewesen – eines Insiders, dessen Identität die Behörden geheim halten. Da man den Tatverdächtigen nicht zu Gesicht bekam und die Tipps der VP bedeutender erschienen, sei die Überwachung aber wieder abgebrochen worden, so der Kriminalist. Als Jesse L. und Max D. am 11. Januar dieses Jahres dort waren, wurde offenbar nicht mehr observiert.
Bei einer ersten Durchsuchungsaktion am 18. Januar in den beiden Spätverkaufsläden von Kadir in Neustadt-Neuschönefeld und Mölkau wurden keine Drogen gefunden. Zehn Tage später waren die Ermittler erfolgreicher. In einem Keller, der dem Verdächtigen gehören soll, entdeckten sie 21 Kilogramm Marihuana und fünf Kilogramm Crystal. Sichergestellt wurden außerdem eine täuschend echt aussehende CO2-Maschinenpistole sowie scharfe Munition, etwa für Schnellfeuergewehre wie G 3 und Kalaschnikow. Ende Januar habe die Kripo daher angeregt, Kadir in Haft zu nehmen. „Das wurde von der Staatsanwaltschaft abgelehnt“, berichtete der Beamte im Zeugenstand. Angeblich bestehe kein dringender Tatverdacht.
Kadir tauchte ab, wurde später in Erfurt von der Bundespolizei aufgegriffen – mit einer größeren Menge Bargeld, Drogen und einer Rolex-Uhr, wie es heißt. Im Zuge des Mordfalls Jesse L. sei gegen Kadir ein weiteres Ermittlungsverfahren wegen Handels mit Betäubungsmitteln eingeleitet worden, so der Polizist. Bislang fand keinerlei Verbindung dieser Verfahren und kein Informationsaustausch statt, merkte die zuständige Strafkammer verwundert an.
„Zig Haftgründe – und es passiert einfach nichts“
Nebenklagevertreter Jan Siebenhüner ging noch weiter: Er warf verantwortlichen Mitarbeitern der Staatsanwaltschaft im Fall Kadir versuchte Strafvereitelung im Amt vor. Die Organisierte Kriminalität verkaufe Drogen ohne Ende, es gebe Verbindungen zum Verfahren um den Mord an Jesse L., so der Anwalt von Jesses Familie. „Doch es wird nichts getan, um das zu prüfen. Es gibt zig Haftgründe – und es passiert einfach nichts.“
Um offene Fragen in dem Mordfall zu klären, soll am Mittwoch die Tat mit großem Aufwand außerhalb des Gerichts rekonstruiert werden. Hauptsächlich geht es darum herauszufinden, ob Max D. einen heimtückischen Mord begangen hat oder es lediglich eine Art Unfall war, wie es der Angeklagte behauptete. Den Vater des getöteten Jesse L. will das Gericht audiovisuell befragen. Die Mutter sei weiterhin nicht vernehmungsfähig, so Siebenhüner. „Ihr Arzt rät regelrecht davon ab.“
11.10.2022
Kopfschuss bei Drogendeal – Leipziger Gericht will Mord an Jesse L. aufwendig rekonstruieren
Wie kam es zu dem tödlichen Schuss auf den 19-jährigen Jesse L. am 11. Januar auf einem Feld bei Schkeuditz in Leipzig? Um einige Rätsel des Falles zu lösen, will das Landgericht Leipzig den Mord jetzt rekonstruieren.
Der Mord an dem 19-jährigen Jesse L. im Januar bei Schkeuditz soll mit großem Aufwand außerhalb des Gerichts rekonstruiert werden. Die zuständige 2. Strafkammer des Landgerichts Leipzig will damit einige ungelöste Fragen im Zusammenhang mit dem Verbrechen aufklären. Denn auch das Gutachten eines Experten für Wundballistik konnte bei der Prozessfortsetzung am Dienstag nicht zweifelsfrei beantworten, ob Max D. (20) einen heimtückischen Mord begangen hat oder es lediglich eine Art Unfall war, wie es der Angeklagte behauptet. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm vor, seinen Bekannten erschossen zu haben, um an dessen Rauschgift zu gelangen.
Mit Knochensurrogat und ballistischer Gelatine bildeten die Wissenschaftler in der Leipziger Rechtsmedizin die Bedingungen nach, um herauszufinden, welchen Weg das tödliche Geschoss im menschlichen Körper nahm. Nach mehreren nachgestellten Schussversuchen war für die Fachleute klar: Die Schussentfernung am Abend des 11. Januar, als Jesse L. getötet wurde, betrug etwa 30 Zentimeter. Zugleich konnten die Experten ausschließen, dass der Schütze dem Opfer zuvor eine Plastiktüte über den Kopf zog, wie das zunächst angenommen wurde. Nachdem, was der Ballistiker herausfand, standen sich Opfer und Täter gegenüber, hatten Blickkontakt. Der Schuss kam demnach von vorn, an der Waffe wurden Blutanhaftungen festgestellt.
Mord gegen Jesse L.: Tatwaffe des Angeklagten Max D. in schlechtem Zustand
Die Tatwaffe war übrigens schon längere Zeit nicht benutzt worden und daher in keinem besonders guten Zustand. So hatte bereits ein Waffensachverständiger festgestellt, dass eine Sicherung nicht eingebaut und die zweite defekt war. Es sollen sogar Schäden vorhanden gewesen sein, durch die auch für den Schützen massive Verletzungsgefahr bestand. Bei den ballistischen Untersuchungen kam zudem heraus: Die Schussleistung der Pistole war aufgrund von Korrosion geringer. Womöglich kam es im Fall Jesse L. deshalb auch nicht zu einem Durchschuss, sondern zu einem Steckschuss.
Doch wie plausibel sind die Tatversionen des Angeklagten? Die Verteidigung hatte zunächst erklärt, dass Jesse L. auf dem Weg zu einem Drogendeal nahe der Altscherbitzer Straße die Waffe an Max D. übergeben habe. Überrascht vom Gewicht der Pistole, habe der Angeklagte diese nicht richtig zu fassen bekommen. Beim Auffangen habe sich ein Schuss gelöst und Jesse L. ins Gesicht getroffen. Später überraschte Max D. mit der Aussage, dass die Pistole bei Zielübungen plötzlich losgegangen sei. Demnach will er sie schnell aus seiner Jackentasche gezogen und hochgerissen haben. Als er gemerkt habe, dass ihm die Waffe aus der Hand gleite, habe er fester zugegriffen.
Schmauchspuren an Handschuhen von Jesse L.?
Der Wundballistiker mochte das nicht gänzlich ausschließen, verwies auf den Fall des Hollywood-Schauspielers Alec Baldwin, der bei Dreharbeiten versehentlich eine Kamerafrau erschoss. Wenn die Waffe beim Hochreißen in Kopfhöhe des Opfers gewesen sei, könne das durchaus zum festgestellten Schusskanal passen. Verlässliche Aussagen ließen sich dem Fachmann zufolge aber nur bei einer Nachstellung des Tatgeschehens treffen. Bei einer exakten Anordnung der Gegebenheiten am Tatort könne man etwa biomechanische Abläufe simulieren und auch gewisse Dinge womöglich ausschließen. Dafür sei jedoch viel Platz nötig, beispielsweise in einer Turnhalle. Das Gericht will diese Möglichkeit auf jeden Fall nutzen. Staatsanwaltschaft, Verteidigung und Nebenklage haben nun Gelegenheit, in den nächsten zehn Tagen ihre Fragen für diese Tatrekonstruktion einzureichen.
Zudem sollen die Handschuhe, die Jesse L. am Abend seines gewaltsamen Todes trug, noch einmal untersucht werden. Wenn er tatsächlich die Waffe in der Hand hatte und an Max D. übergab, wie die Verteidigung behauptet, müsste nach Aussage des Rechtsmediziners auf den Handschuhen Schmauchspuren zu finden sein. Die Anklagebehörde geht hingegen davon aus, dass Max D. die Pistole mitgebracht hat. Sie wirft ihm deshalb auch vorsätzlichen unerlaubten Besitz in Tateinheit mit vorsätzlichem unerlaubtem Führen einer halbautomatischen Kurzwaffe vor.
27.09.2022
Prozess am Landgericht – Mordfall Jesse L.: Angeklagter googelte nach „Schießkeller Leipzig“
Im Prozess um den Mord an dem Leipziger Jesse L. (19) sind am Dienstag neue Fragen aufgekommen: Warum recherchierte der Angeklagte online nach einem Schießkeller? Und welche Rolle spielt eine Szenegröße aus dem Umfeld der „White Lions“?
Stand Mordangeklagter Max D. (20) tatsächlich Waffen ablehnend gegenüber? Vor einer Woche sagte er im Prozess um den gewaltsamen Tod von Jesse L. (19) im Landgericht Leipzig, er habe bis zu jenem verhängnisvollen Tag im Januar nie mit Waffen zu tun gehabt, sei in dieser Frage „konservativ“.
Am Dienstag kam im Gericht jedoch heraus: Ende Dezember 2021, wenige Tage vor dem Mord an Jesse L., soll der Angeklagte nach „Schießkeller Leipzig“ gegoogelt haben. Auf eine entsprechende Suchanfrage seien Ermittler bei der Analyse seines Mobiltelefons gestoßen sein, hieß es.
Jesse L. per Kopfschuss getötet: Staatsanwaltschaft wirft Angeklagtem auch Raub mit Todesfolge vor
Aber was hat es mit diesem Interesse an einem Schießstand auf sich? Steht die Internetsuche womöglich in einem Zusammenhang mit dem Tötungsverbrechen, welches die Staatsanwaltschaft Max D. zur Last legt?
Der Anklagebehörde zufolge soll Max D. am 11. Januar gegen 19 Uhr auf einem Feld bei Schkeuditz seinen Bekannten Jesse L. per Kopfschuss getötet haben – heimtückisch und aus Habgier, um an dessen Rauschgift zu gelangen. Neben Mord wird ihm besonders schwerer Raub mit Todesfolge und bewaffnetes unerlaubtes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge sowie vorsätzlicher unerlaubter Besitz in Tateinheit mit vorsätzlichem unerlaubten Führen einer halbautomatischen Kurzwaffe vorgeworfen.
Aussage am nächsten Prozesstag
Max D. behauptet hingegen, dass Jesse L. die spätere Tatwaffe mitgebracht und am Tatort aus dem Kofferraum geholt habe. Unmittelbar vor einem geplanten Drogendeal soll er ihm gezeigt haben, wie man die Pistole schnell aus der Jacke zieht, um auf mögliche Zwischenfälle bei der Abwicklung des Geschäfts reagieren zu können. Als er selbst diesen Ernstfall geübt habe, so berichtete Max D., habe er fester zugegriffen, weil er gefürchtet habe, dass ihm die Waffe sonst aus der Hand gleitet. Dabei hätte sich ein Schuss gelöst und Jesse L. ins Gesicht getroffen.
Was steckt also hinter seinem Interesse an einem Schießstand? Max D. wollte auf entsprechende Fragen der Strafkammer zunächst nicht antworten. Seine Verteidiger kündigten für den nächsten Prozesstag eine Aussage ihres Mandanten an.
Zeugenaussage im Mordfall Jesse L.: „Max D. kannte Leute aus der Szene“
Bemerkenswert mutet in diesem Zusammenhang auch die Aussage eines Zeugen (21) an, der sich mit Max D. am Tag vor dem Mord in Halle getroffen hat. Bei ihm soll der Angeklagte nach eigener Aussage Schulden aus Drogengeschäften gehabt haben. Das Treffen in einem Auto auf dem Parkplatz eines Fitnessstudios wurde dem Zeugen zufolge jedoch gestört. Plötzlich sei eine ihm unbekannte ausländische Person hinten eingestiegen. „Ich bin daraufhin in das Fitnessstudio geflüchtet, weil ich nicht wusste, was passiert“, so der Zeuge am Dienstag vor Gericht. „Max D. kannte Leute aus der Szene und ich wusste in dem Moment nicht, ob sie ihn umnieten wollen.“
Zu einem ernsthaften Zwischenfall kam es in Halle nicht. Offen bleibt zunächst die Frage: Stand Max D. tatsächlich unter derart großem Druck, wie es die Aussage seines Bekannten nahelegt? Immerhin fiel im Prozess in diesem Zusammenhang auch der Name einer Szenegröße, die vor Jahren dem Umfeld der Streetgang „White Lions“ aus der Eisenbahnstraße zugerechnet wurde.
22.09.2022
Prozess am Landgericht – Neue Tatversion im Mordfall Jesse L.: So soll es zum tödlichen Schuss gekommen sein
Wie kam es zum tödlichen Kopfschuss auf den 19-jährigen Leipziger Jesse L.? Der Mordangeklagte Max D. präsentierte dem Gericht am Dienstag eine neue Tatversion, die sich sogar von der Erklärung seiner Verteidiger unterschied.
Einen leichten Widerstand habe er gespürt, so Max D. (20), als er den Abzug der halbautomatischen Waffe drückte. Der Schuss traf seinen Bekannten und mutmaßlichen Drogen-Geschäftspartner Jesse L. (19) ins Gesicht und tötete ihn auf der Stelle. Doch wie kam es dazu? War es Absicht und eiskalt geplant? Oder doch eher ein tragisches Unglück? Am Dienstag schilderte der Angeklagte seine Version des Tatgeschehens. Und die unterschied sich sogar von jener Erklärung, welche die Verteidigung in seinem Namen abgegeben hatte.
Für die Staatsanwaltschaft ist das, was sich am 11. Januar gegen 19 Uhr auf einem Feld bei Schkeuditz ereignete, ein heimtückischer Mord aus Habgier, weil der hochverschuldete Angeklagte die Tasche von Jesse L. mit kiloweise Marihuana-und Cannabis-Blüten habe an sich bringen wollen. Max D. sagte nun vor Gericht auf Nachfrage der zuständigen Strafkammer: Der Schuss habe sich aus Versehen bei einer Art Zielübung unmittelbar vor einem geplanten Drogendeal gelöst.
Mutmaßlicher Mörder von Jesse L.:„Ich sollte dabeistehen und die Waffe ziehen“
Nachdem sie mit dem Auto einen menschenleeren Feldweg im Bereich Theodor-Heuss-Straße/Altscherbitzer Straße erreicht hatten, sei Jesse L. zum Kofferraum gegangen. „Als ich ausstieg, war ich erschrocken, dass Jesse eine Waffe in der Hand hielt“, sagte Max D., „wahrscheinlich eine Vorsichtsmaßnahme, weil die Typen, mit denen wir verabredet waren, krass drauf sind.“ Jesse L. habe vorgeschlagen, dass er die Rauschgiftlieferung an die Ankäufer übergibt. Vereinbart sei gewesen, fünf Kilogramm Marihuana für 7500 Euro zu verkaufen. „Ich sollte dabeistehen und die Waffe ziehen, wenn die Typen Faxen machen“, so der Angeklagte, und beispielsweise statt des Geldes ein Messer ziehen.
Noch nie zuvor habe er mit Waffen zu tun gehabt, beteuerte Max D., „da bin ich konservativ.“ Jesse L. habe ihm an dem Feldweg gezeigt, wie man die Pistole schnell aus der Tasche zieht. Dann habe er die Waffe von ihm bekommen und in eine Tasche seiner Winterjacke gesteckt. Etwa einen Meter standen die beiden jungen Männer auseinander, als Max D. die Pistole schnell aus seiner Jacke geholt und nach oben gerissen haben will, um selbst für den Ernstfall zu üben. „Weil ich gemerkt habe, dass mir die Waffe aus der Hand gleitet, habe ich fester zugegriffen“, so der Mordangeklagte. Der Schuss auf Jesse L. sei „in Höhe seines Gesichts“ losgegangen.
Waffensachverständiger: Pistole hatte keine Sicherung
Diese Tatversion weicht dann doch etwas von jener Erklärung ab, welche die Verteidigung zunächst für den Angeklagten abgegeben hatte. Demnach habe Max D. bereits bei der Übergabe der Waffe diese nicht richtig zu fassen bekommen, weil er womöglich überrascht vom Gewicht der Pistole war. Beim Auffangen habe sich ein Schuss gelöst. Gegenüber der Kripo hatte der 20-Jährige sogar den Verdacht auf konkurrierende Drogendealer lenken wollen, berichtete ein Ermittler vor Gericht. „Ein Deutscher und zwei Ausländer“ hätten Max D. vom Tatort weggeschickt, kurz darauf habe er einen Schuss gehört und dann den Leichnam von Jesse L. gefunden. „Ich habe diese Geschichte erfunden, weil ich keinen Bock hatte, in den Knast zu gehen“, räumte der Angeklagte ein.
Das Gericht will nun das Geschehen am Tatort so nachstellen, wie es Max D. jetzt schilderte. Rechtsanwalt Jan Siebenhüner, der die Eltern und den Bruder von Jesse L. in der Nebenklage vor Gericht vertritt, hatte angeregt, dass der Angeklagte ihm im Verhandlungssaal den genauen Ablauf demonstriert, der zu dem tödlichen Schuss geführt haben soll. Doch der Vorsitzende Richter Michael Dahms hielt es für angemessener, dass dies ein Waffensachverständiger erledigt. Der Experte hatte bereits festgestellt, dass in der Tatwaffe eine Sicherung nicht eingebaut und die zweite defekt war. Und sie war zum Tatzeitpunkt geladen, so dass man nur den Abzug drücken musste.
Der Prozess wird am Mittwoch fortgesetzt. Insgesamt sind noch sechs Verhandungstage bis Ende November geplant.
11.02.2022
Angehörige wollen harte Strafe – Ermordeter Jesse L. aus Leipzig: So gehen seine Eltern mit der Tragödie um
Mitte Januar wurde ihr 19-jähriger Sohn tot aufgefunden, getötet mutmaßlich von einem Bekannten. Inzwischen wird im Fall Jesse L. in Leipzig wegen Mordes ermittelt. Was sagen seine Eltern, wie geht es ihnen? Gegenüber der LVZ äußerten sie sich.
Ihr 19-jähriger Sohn lag tot auf einem Feld bei Schkeuditz, mutmaßlich erschossen von einem Bekannten: Wie gehen die Eltern des ermordeten Jesse L. mit dieser furchtbaren Tragödie um? Was wissen sie darüber, in was für eine üble Geschichte ihr Junge hineingeriet? Gegenüber der LVZ berichten die Friseurin (51) und der Montagearbeiter (54), wie es ihnen geht und was für ein Mensch ihr Jesse war.
Beide befinden sich in psychologischer Behandlung. Schon als Beamte der Kripo ihnen die Todesnachricht überbrachten, sei ein Seelsorger dabei gewesen, berichtet ihr Anwalt Jan Siebenhüner. Auch Jesses älterer Bruder (25) wird psychologisch betreut. Er war sehr stark an der Suche nach dem Vermissten beteiligt, hatte Fahndungsaufrufe in sozialen Netzwerken verbreitet.
Der Leichnam des jungen Leipzigers war am 18. Januar nahe dem Schkeuditzer Ortsteil Papitz entdeckt worden – unweit der Bahnstrecke zwischen Leipzig und Halle, südlich der Bundesstraße 6 und des DHL-Hubs am Flughafen Leipzig/Halle. Um das Areal kriminaltechnisch zu untersuchen, ließ die Polizei dort eine Drohne aufsteigen und setzte zur Suche von Patronenhülsen auch Metalldetektoren ein. Eine Woche zuvor hatte es das letzte Lebenszeichen von dem 19-Jährigen gegeben. Vom Hauptbahnhof in Halle/Saale aus wollte er am 11. Januar nach Leipzig-Probstheida fahren, wo er wohnte.
In einem Plattenbau in der Lene-Voigt-Straße hatte er seit März vorigen Jahres seine erste eigene Wohnung. Dennoch gab es weiterhin einen intensiven und regelmäßigen Kontakt zu seinen Eltern, nach wie vor war er oft bei ihnen zu Hause. Haben sie etwas gewusst von Schwierigkeiten in seinem Leben? Konnten sie womöglich in den Wochen vor seinem gewaltsamen Tod eine Wesensänderung an ihm beobachten? Jesses Eltern berichten, zu keinem Zeitpunkt etwas Negatives bemerkt oder von Problemen etwas mitbekommen zu haben.
„Ein typischer Jugendlicher“
Schon bald nach dem Fund des getöteten Leipzigers hatten Annahmen die Runde gemacht, er könnte womöglich einen Konflikt im Drogenmilieu mit seinem Leben bezahlt haben. Doch bis heute liegen Jesses Eltern keine derartigen Erkenntnisse vor, berichtet Opferanwalt Siebenhüner. Auch aus dem Umfeld des Jugendlichen habe es keine warnenden Signale gegeben. „Er war ein typischer Jugendlicher, der seine Grenzen ausgelotet hat“, so der Jurist.
Talentierter Hobby-Fußballer, Fan von Lok Leipzig, Realschulabschluss – Jesse galt vielen als ganz normaler Teenager. Offenbar war er sehr beliebt, hatte viele Freunde. Seine Familie und seine Freunde beschreiben ihn als freundlich, zuverlässig und hilfsbereit. Sie erinnern sich auch an sein großes Gerechtigkeitsempfinden. In jüngeren Jahren sei er noch sehr wild gewesen, mit dem Alter wäre er jedoch zunehmend ruhiger, selbstständiger und verantwortungsbewusster geworden. Er hatte eine Freundin, die mit ihrer Mutter nun auch geholfen hat, Sachen für Jesses Beerdigung herauszusuchen. „Auch sie sind geschockt und verzweifelt“, so der Anwalt der Familie.
Verdächtiger an Suche beteiligt?
Und Max D. (20)? Jener junge Mann, der seit mehr als drei Wochen in Untersuchungshaft sitzt und gegen den die Ermittler wegen des dringenden Tatverdachts ermitteln? Er soll ein Bekannter von Jesse sein. Doch die Eltern haben ihn erst kennengelernt, als ihr Sohn schon als vermisst gemeldet war. Er habe sich aktiv an der Suche nach Jesse beteiligt, sagen sie. Ist er vielleicht eine Spur zu jenem Leben Jesses, welches seinen Eltern verborgen blieb?
Ruhe wollen sie jetzt finden. Eine Trauerfeier und eine Beerdigung im engsten Kreis steht an. „Es ist ihnen wichtig, dass der Tod ihres Sohnes umfassend aufgeklärt wird und die tatsächlich Schuldigen eine harte Strafe bekommen“, berichtet Rechtsanwalt Siebenhüner. „Die Familie und seine Freunde sind sehr enttäuscht und empört darüber, was in der Öffentlichkeit teilweise über Jesse verbreitet wird. Aus ihrer Sicht handelt es sich dabei um Unwahrheiten, die auch die Ermittlungen behindern könnten. Die Polizei soll die Gelegenheit bekommen, den Fall in Ruhe und mit der nötigen Sorgfalt aufzuklären. Bisher leisten die Ermittler eine sehr gute Arbeit.“
Mord statt Totschlag
Was aber bleibt, wenn der ermordete Sohn bestattet ist und das Leben seiner Angehörigen irgendwie weitergehen muss? In Erinnerung, so sagen Jesses Eltern, behalten sie vor allem sein tolles Lächeln.
Die Leipziger Polizei hofft weiterhin auf Zeugenhinweise. Zu möglichen Hintergründen und weiteren Details der Bluttat äußern sich die Behörden weiterhin nicht, damit in Frage kommende Zeugen möglichst unvoreingenommen bleiben. Staatsanwalt Andreas Ricken teilte auf LVZ-Anfrage zwar mit, dass nunmehr wegen des Tatvorwurfs des Mordes ermittelt wird und nicht mehr wegen Totschlags. Zu den Gründen des geänderten Tatvorwurfs machte er jedoch keine Angaben.