Warum ein Mann die Gruppe um Lina E. ins Gefängnis bringen könnte
Johannes D. sagt als Kronzeuge im Prozess gegen Lina E. aus. Vor Gericht gibt er tiefe Einblicke in die gewaltbereite linke Szene in Leipzig-Connewitz. Dort herrschen Wut und Angst vor den Folgen des Verrats.
Seit rund anderthalb Jahren sitzt die Hauptangeklagte Lina E. in Untersuchungshaft. Die Bundesanwaltschaft wirft der mutmaßlichen Linksextremistin Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung, Landfriedensbruch sowie mehrfache Körperverletzung vor.
An dem Ritual hat sich nichts geändert. Wenn Lina E. in den Gerichtssaal gebracht wird, winkt sie Freunden und Unterstützern im Saal fröhlich zu, bevor sie sich zwischen ihre beiden Verteidiger setzt. Vier Tage lang hat der Kronzeuge geredet. Und das Gericht ist immer noch nicht fertig mit ihm. Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung und zahlreiche Körperverletzungen wirft die Bundesanwaltschaft Lina E. und ihren drei Mitangeklagten vor. Sie geben sich von außen betrachtet unbeeindruckt. Eine Zuhörerin im Saal nimmt die Szenerie entschieden emotionaler auf. „Du hast uns alle verraten, Johannes, Du wirst einsam sterben“, ruft sie ihm durch die große Trennscheibe zu, bevor sie, begleitet von einer Justizbeamtin, hinausläuft.
Das war vorigen Freitag kurz vor dem Ende des Prozesstages. Es war nicht der erste Gefühlsausbruch im Saal, seit dem Johannes D. sich bei den Sicherheitsbehörden als Kronzeuge angeboten hat und gründlich auspackt. Tränenausbrüche gibt es immer mal wieder seit Beginn seiner Vernehmung durch das Gericht. „Ich hasse ihn so krass, ich hasse ihn“, flüstert eine Frau in ihr Taschentuch. Hass scheint ohnehin ein Lieblingswort der linksextremistischen Szene zu sein, insbesondere, wenn es um Johannes D. geht. „Voller Hass haben wir den ersten Aussagetermin verfolgt“, beginnt ein Kommentar auf der Plattform Indymedia zum Verfahren – selbstverständlich anonym. Dass er verrecken möge, wünschen ihm frühere Genossen per Graffiti auf einer Wand in der Nähe des Gerichtsgebäudes.
Andere schicken ihm öffentlich diesen anonymen Gruß hinterher: „Hoffentlich ist dir das klar, hoffentlich wirst du mit Einsamkeit für deinen Verrat bestraft, hoffentlich fühlst du dich damit richtig beschissen. Wir vergessen dich nicht.“ Den „Verräter“ möge eine Kugel treffen, war eine weitere Drohung, die vor zwei Wochen kursierte.
Sechs Personenschützer bewachen Johannes D. bei jedem Gerichtstermin
Wer sich aus dieser Szene verabschiedet und mit Sicherheitsbehörden kooperiert, darf nicht ängstlich sein. Möglich, dass es sich bei den Drohungen um typische verbale Kraftmeierei handelt. Das Landeskriminalamt nimmt die Drohungen ernst. Es hat Johannes D. in das Zeugenschutzprogramm aufgenommen. Sechs Personenschützer sind an jedem Tag, an dem das Gericht ihn in öffentlicher Sitzung vernimmt, an seiner Seite. Zwei beobachten ununterbrochen das Publikum, einer hat die Angeklagten im Blick, die übrigen sitzen in unmittelbarer Nähe.
Johannes D. wirkt, wenn er spricht, nicht sonderlich beunruhigt durch das Drumherum. Die regelmäßige Aufforderung aus dem Publikum, lauter zu sprechen, nimmt er ebenso gelassen hin wie den Zuruf eines Verteidigers, ihm sei der Verrat wohl peinlich. Nein, antwortet er gelassen, er rede nun mal leise und entspannt.
Der 30-Jährige ist Erzieher von Beruf. Er ist fast zwei Meter groß, betreibt Kampf- und Kraftsport. Der Spaß daran scheint, so klingt es manchmal, für ihn als Straßenkämpfer wichtiger gewesen als Theorie-Debatten über Kapitalismus, Faschismus und Repression. „Vielleicht bin ich zu unpolitisch“, sagt er an einer Stelle. Häufiger als nötig streut er das Fremdwort „Kontextualisieren“ ein. Seine Erklärungen, warum er sich einst den Linksextremisten angeschlossen hatte, bleiben dagegen vage.
Johannes D. war viele Jahre mittendrin
Der Vorsitzende Richter Hans Schlüter-Staats hakt nach. Warum sich die Gruppe ausgerechnet einen Eisenacher Rechtsextremisten als Opfer ausgesucht habe, wenn es ihr darum gehe, die Gesellschaft zu verändern, fragt er. Sei dieser nicht zu unbedeutend? Der Zeuge erklärt, Menschen wie der Thüringer Kneipenwirt sollten direkt geschädigt werden, sie sollten ihre Ideologie nicht ausleben können. Militante Politik heiße, den Staat anzugreifen, wenn es als notwendig erachtet wird.
Viele Jahre war Johannes D. mittendrin. Aufgewachsen in Nürnberg, kam er von der „Dorf-Antifa“ nach Berlin und Leipzig-Connewitz. Er sei ein enger und langjähriger Freund von Lina und deren Freund Johann G. gewesen. „Wir hatten ein gutes Verhältnis, nicht nur politisch“, sagt der Zeuge. Lina kenne er etwa seit 2013. Wenn seine Schilderungen zutreffen, dürfte Johann G. die Führungsperson der Gruppierung gewesen sein, die Rechtsextremisten in Sachsen und Thüringen ausspioniert und verprügelt hat. Johann G. sitzt nicht mit auf der Anklagebank in Dresden. Während Lina E. im November 2020 verhaftet wurde, konnte ihr Freund rechtzeitig abtauchen, er lebt seitdem auf der Flucht vor der Polizei.
Vier Prozesstage haben das Gericht und die weiteren Prozessbeteiligten dem Aussteiger bereits zugehört. Weitere Termine sind ab Ende August, nach der Prozesspause in den Ferien, für ihn reserviert. Schonungslos nennt er Namen, identifiziert Personen, erklärt, wer am Training für die Schlägereien teilgenommen hat und wie das Gruppentraining ablief. Gut möglich, dass er auch etwas sagen wird zum Überfall auf die Prokuristin einer Leipziger Immobilienfirma in deren Wohnung. Diese Attacke hatte für Empörung in der Öffentlichkeit gesorgt. Die Ermittlungen gegen Lina E. wegen dieser Tat sind mangels Beweisen zwischenzeitlich eingestellt worden.
Angreifer wollten Überraschungsmoment nutzen
Ziel sei es gewesen, bei den Übergriffen auf Rechtsextremisten das Überraschungsmoment zu nutzen und mit möglichst vielen Angreifern das Opfer schwer zu verletzen. Und Lina, so stellt es der Zeuge da, war häufig dabei. Ihre Aufgaben sei die der „Übersichtsperson“ gewesen. Während die Gruppe das Opfer bearbeitete, sollte sie die Angreifer absichern und vor Gefahren warnen. Ihr Arbeitsmittel war Pfefferspray, im Jargon des Zeugen der „Löscher“ oder die „Löschkanne“. Es sind wichtige Hinweise für die Frage, ob Lina E. bei den Anschlägen das Kommando geführt hat, wie der Generalbundesanwalt meint.
Wichtiger Ansprechpartner für ihn sei Johann G. gewesen, aber auch Lina habe ihn hin und wieder gebeten, vor den Überfällen die Rolle des Scouts zu übernehmen. Als Scout beobachtete der Zeuge in der Bahn, wo Teilnehmer von rechtsextremistischen Demonstrationen einstiegen, damit die Angreifer wussten, wo sie sich während der Rückfahrt postieren mussten.
Johannes D. war nur an einer der angeklagten Taten selbst beteiligt. Es geht um den zweiten Überfall in Eisenach auf den Rechtsextremisten und Kneipier Leon R. Die Aktion war im Sinne der Gruppe wenig erfolgreich und führte schließlich zu den ersten Festnahmen. Bei weiteren Überfällen war der Zeuge nicht an den Tatorten, wer mitgemacht hat, weiß er nicht aus eigener Anschauung. Allerdings gibt es für diese Taten andere Beweismittel, darunter die Aussagen der Opfer.
Verschwiegenheit ist oberstes Gebot
Es gelingt der Polizei so gut wie nie, in diesem Milieu einen Insider zum Reden zu bringen. Verschwiegenheit ist oberstes Gebot. Dieser Umstand macht den Kronzeugen so wertvoll für diesen Prozess und die Ermittlungsbehörden. Für den Staatsschutz beim LKA in Sachsen ist seine umfassende Aussage ein großer Erfolg. In der Szene herrscht blanke Wut auf den „Verräter“, viele, die noch nicht in die Illegalität abgedriftet sind, haben Angst, nun ebenfalls ins Visier der Ermittler zu geraten. Der Schaden ist gewaltig, räumen linke Gruppen in ihren Statements ein.
Johannes D. gewährt umfassende Einblicke in Strukturen und Vorgehen der Gruppierung. Dazu gehören Namen und Daten, aber auch Details zu den Tatwerkzeugen, die Tarnung, Szene-typische Codes sowie die interne Kommunikation. Für die Frage, ob die Gruppe um Lina E. eine kriminelle Vereinigung war, können seine Angaben von erheblicher Bedeutung sein. Sollten die Angeklagten und ihre Verteidiger die leise Hoffnung gehegt haben, dass von den schweren Vorwürfen der Bundesanwaltschaft mangels Beweisen am Ende nicht viel übrig bleiben würde, war dies – soviel steht jetzt schon fest – verfrüht.
Kronzeuge Johannes D. steht dem Treiben von früher mit Distanz gegenüber, so sagt er es jedenfalls. Die Sichtweise, dass militante Politik legitim sein könne, finde er inzwischen befremdlich. Rückblickend sei es „völliger Quatsch“, anzunehmen, dass sich auf diese Weise nachhaltige gesellschaftliche Veränderungen einstellen könnten. Die Straftaten hätten alle auch eine hohe Selbstwirksamkeit gehabt, will sagen, es sei darum gegangen, dem Staat zu zeigen, was man kann. „Erlebnisorientiertheit“ habe immer eine Rolle gespielt, sagt er.
Seine Motive hat Johannes D. auf eigenen Wunsch gleich am ersten Tag seiner langen Vernehmung offengelegt. Auslöser war für ihn eine Bestrafungsaktion, die wiederum einen interessanten Einblick bietet in die abgeschirmte Welt der linksextremistischen Szene. Im Herbst 2021 hatte seine Ex-Freundin ihn öffentlich der Vergewaltigung bezichtigt, berichtet er. Eine Anzeige bei der Polizei gab es zunächst nicht. Sein Name, Fotos, eine steckbriefartige Personenbeschreibung und eine Darstellung der Ereignisse aus Opfersicht sollten sicherstellen, dass er sich in der Szene nirgends mehr blicken lassen kann – eine folgenschwere Entscheidung.
Bisher kaum Fragen zu angeklagten Taten
Johannes D. bestreitet die Anschuldigungen seiner Ex-Freundin. Die Staatsanwaltschaft stellt die Ermittlungen im Frühjahr 2022 gegen ihn ein. Trotzdem hat das Outing Folgen. Er habe jede Unterstützung in der linken Szene verloren und sei durch „Aufenthaltsverbote“ etwa für Berlin, Leipzig und Nürnberg isoliert worden, sagt Johannes D. Er zog nach Warschau und arbeitete als Erzieher. Doch ein normales Leben sei nicht möglich gewesen. Auf einer Demonstration sei er infolge des Outings von Neonazis erkannt und verfolgt worden. Der neue Arbeitgeber, ein Kindergarten, habe ihn wegen der Vergewaltigungsvorwürfe entlassen. Er habe selbstbestimmt leben wollen und sich deshalb entschieden, reinen Tisch zu machen. Wenn er sich für die Ächtung rächen wollte, dürfte sein Plan aufgegangen sein. Oder erhofft er sich Hilfe vom Staat für ein neues Leben in der Anonymität?
Die Verteidiger haben dem Kronzeugen bisher kaum Fragen zu den angeklagten Taten gestellt. Sie haben angedeutet, sich in den nächsten Prozesstagen ab Ende August ausführlich mit ihm beschäftigen zu wollen, wenn das Gericht seinen Fragenkatalog abgearbeitet hat. Es könnte dabei vor allem um das kriminelle Vorleben des Zeugen gehen, der sich selbst strafbar gemacht hat und bereits wegen Landfriedensbruchs in Frankfurt/Main verurteilt worden war. Auch in Frankreich wartet möglicherweise noch ein Prozess auf ihn.
Noch interessanter dürften aus Sicht der Anwälte Details der Kooperation des 30-Jährigen mit Verfassungsschutz und Polizei sein. Wurden Zusagen für eine Strafmilderung in seinen eigenen Verfahren gemacht? Wer hat den Kontakt zu den Sicherheitsbehörden hergestellt? Die Aussagen des Kronzeugen könnten aus Verteidigersicht ohne dieses Wissen nicht wirklich korrekt bewertet werden. Und weil Unterlagen des Verfassungsschutzes in der Regel nicht für die Öffentlichkeit bestimmt sind, könnte es im Herbst wieder laut werden in Sitzungssaal 1. Ob es der Verteidigung gelingt, Zweifel an der Glaubwürdigkeit zu säen, wird sich spätestens ab Ende August zeigen, wenn Johannes D., umringt von seinen Personenschützern und einem Rechtsanwalt, wieder im Zeugenstand sitzt.