Obdachlos in Oschatz „Ich bleibe hier, bis sich was ändert“: Warum Jens in Oschatz an einer Bushaltestelle lebt

Seit zwei Wochen schläft Jens (56) aus Oschatz auf einer Holzbank. Er will ein Zeichen setzen. Für all jene, die auf der Straße leben und keine Stimme haben. Die Tafel Oschatz kämpft derweil um Hilfe, Menschlichkeit und ein Stück Würde für die Vergessenen.

Wenn die Sonne untergeht und die Temperaturen sinken, wird die Holzbank an der Bushaltestelle in Oschatz zu Jens’ Bett. Ein Schlafsack, eine Decke, ein kleiner Beutel mit Papieren. Mehr besitzt der 56-Jährige nicht. Seit zwei Wochen lebt er hier, mitten in der Stadt, mitten unter Menschen und doch am Rand der Gesellschaft.

„Ich will gesehen werden“, sagt Jens, der nur mit seinem Vornamen genannt werden möchte. Nicht aus Selbstmitleid. Sondern, um zu zeigen, wie schnell es gehen kann, dass jemand alles verliert: Wohnung, Arbeit, Halt.

Ein Schicksalsschlag nach dem anderen

Jens ist gebürtiger Bautzener. Er arbeitete Jahrzehnte als Eisenbahn-Transportfacharbeiter – erst in Bautzen, später in Mainz-Bischofsheim und Frankfurt am Main. Grund für den ständigen Wechsel: Personalabbau.

Als Jugendlicher trank er gerne Alkohol. Auf Partys, mit Freunden. Als er berufstätig war, wurde es mehr. Immer am Wochenende. Bis er schließlich merkte, dass es sich zu einer Sucht entwickelte. Doch hier zog er selbst die Reißleine. 2014 begann er eine Langzeittherapie. Erfolgreich! „Ich bin seitdem trocken. Darauf bin ich stolz.“

Und noch einen Lichtblick gab es in dieser Zeit: Er lernte seine Partnerin kennen. Für sie zog er 2016 nach Oschatz. Doch er musste sich zwischen Liebe und Beruf entscheiden. Er wählte die Liebe, verlor seinen Job und fand den Weg ins Arbeitsleben nicht wieder zurück. Denn das Schicksal meinte es nicht gut mit ihm. Nach dem Jobverlust folgten Schulden. 2021 starb seine Partnerin. Der Mensch, der ihn trug. Was blieb, waren seine zwei Hunde. „Sie waren mein Leben.“ Vor wenigen Wochen sind auch sie gestorben. Da war der Boden unter den Füßen endgültig weg. Dann kam der Brief vom Gericht. Zwangsräumung.

Hilfe für Obdachlose: Ein unzureichendes Angebot in Oschatz

„Morgens um neun standen sie vor der Tür und sagten: ‚Sie müssen raus.‘“ Jens hatte die Wahl: Haftbefehl oder Straße. Er nahm den Schlafsack. Seitdem lebt er draußen. Erst überlegte er, sich bei einem Discounter niederzulassen, dann entschied er sich für die Bushaltestelle. „Weil ich will, dass man hinsieht.“

Doch Hilfe ist rar in Oschatz. Ein Obdachlosenheim gibt es nicht mehr. Nur eine kleine Wohnung mit zwei Zimmern und drei Betten. Längst belegt. Zu wenig, finden die Mitarbeiterinnen der Tafel Oschatz, Cindy und Birgit Friedrich.

„In Oschatz leben schätzungsweise mindestens zehn obdachlose Menschen“, erklärt Birgit Friedrich. „Die tatsächliche Zahl dürfte jedoch deutlich höher sein. Nur weil man sie nicht sieht, heißt das nicht, dass sie nicht da sind.“

Zusammenhalt in Oschatz: Ein Netzwerk für Bedürftige

Gemeinsam wollen sie jetzt etwas verändern. Jeden Montag um 17 Uhr soll ein Treffen bei der Tafel Oschatz in der Lichtstraße 6 stattfinden: für Helfer, Bedürftige, Betreuer, für alle, die etwas bewirken möchten. Ein Netzwerk, das Brücken schlägt. „Zwischen den Menschen auf der Straße, der Stadt und denen, die helfen wollen“, erklärt Friedrich.

Denn die Not wächst und mit ihr die Angst. Nicht wenige Menschen in Oschatz stehen kurz davor, ihre Wohnung zu verlieren, wissen die Tafel-Mitarbeiter. „Selbst Leute, die eigentlich immer über die Runden kamen“, sagt Friedrich. Bezahlbarer Wohnraum sei kaum zu finden. Und viele trauten sich nicht, staatliche Hilfe in Anspruch zu nehmen.

„Sie schämen sich oder wissen nicht, wo sie anfangen sollen.“ Hier wolle die Tafel ansetzen, erklären, begleiten, Mut machen. „Wir wollen niemanden anklagen. Wir wollen Lösungen.“

Solidarität aus der Bevölkerung: Unterstützung für Jens

Jens beobachtet das Treiben auf der Straße. Immer wieder bleiben Menschen stehen, sprechen ihn an, bringen Essen, Kleidung oder einfach nur ein paar freundliche Worte. „Die Hilfsbereitschaft ist groß“, sagt er. „Aber ich wünsche mir, dass sie nicht nur mir gilt, sondern allen, die draußen leben.“ Viele Einwohner zeigen Mitgefühl und helfen mit Essen, warmen Getränken und Duschmöglichkeiten.

Nachdem die Stadt angekündigt hatte, die Bank an der Bushaltestelle abzubauen, solidarisierten sich kürzlich über 30 Bürgerinnen und Bürger mit ihm. Der 56-Jährige lehnt eine Unterbringung in der Notunterkunft ab, da er dort um seine Sachen fürchtet und lieber allein bleibt.

Dass seine Bank überhaupt noch steht, ist unter anderem der Tafel zu verdanken. Die Tafel-Mitarbeiter machten darauf aufmerksam und die Bank blieb. „Eine Bank zu entfernen, löst kein Problem“, sagt Birgit Friedrich. „Das Problem ist, dass es keinen Platz gibt, wo Menschen wie Jens sicher schlafen können.“

Wenn der Wind durch die Straßen zieht und der Frost kommt, wird das Überleben schwer. Jens weiß, dass er kämpfen muss. Nicht nur für sich, sondern für alle, die in Oschatz keine Stimme haben.

„Ich bleibe hier sitzen, bis sich was ändert“, sagt er und zieht die Decke enger um sich. Die Bank in der Bushaltestelle – sie ist längst mehr als ein Schlafplatz. Sie ist ein stiller Protest, ein Mahnmal, ein Zeichen. Und vielleicht auch ein Anfang.