Drehkreuz der Corona-Proteste: Die Strategie der „Freien Sachsen“
Anmelder gibt es meist nicht für die zu „Spaziergängen“ umgedeuteten Demonstrationen gegen die Coronapolitik. Dennoch sind da koordinierende Strippenzieher im Hintergrund. Rechtsextremisten, die schon vormals Ressentiments für sich zu nutzen verstanden.
Eine Woche später zeigte sich, dass das Lob der „Spaziergänger“ für die Polizei vergänglich war. Minuten, nachdem die Frau im Lodenmantel den Polizeiwagen angiftete, wurde der Tross der Demonstranten von vorbeipreschenden Einsatzwagen flankiert. Hunderte Beamte liefen aus verschiedenen Richtungen zusammen, kesselten den Großteil ein. Manche Demonstranten stimmten Sprechchöre an: „Schämt euch!“ Das Gebrüll eines Mannes zeigte, wie knapp es vom Lob zur Beschimpfung ist: „Co-Sta-Po“ brüllte er – kurz für „Corona-Staats-Polizei“, was den Vergleich mit der „Gestapo“, der Geheimen Staatspolizei der Nazis, nahelegt. Ein sich heftig wehrender Mann wurde von mehreren Polizisten zu Boden gerungen. Durchs Gedränge liefen Personen mit Handykameras auf langen Stangen und fingen die Bilder ein. Die Polizei macht inzwischen auch angebliche Presseleute aus, die dem Verhalten nach eher zum Demonstrantentross gehören – und offenbar darauf aus sind, Bilder von Polizeigewalt zu dokumentieren.
Immer wieder schallten am Abend des 6. Dezember polizeiliche Lautsprecherdurchsagen übers dynamische Geschehen. Eine erklärte die Rechtslage: Fürs Auflösen der Demonstration gebe es eine richterliche Anordnung. Eine weitere beschrieb, was nun passiere: Dass nun Identitäten festgestellt und Ordnungswidrigkeitsanzeigen gefertigt werden. Auch Hilfsangebote gab es: „Falls sich Familien mit Kindern oder medizinisch betreuungsbedürftige Personen unter Ihnen befinden sollten, sprechen Sie die Beamten bitte zuerst an“, schallte es. Viele Kinder gab es nicht im Tross, doch in den vorderen Reihen schob jemand einen Mann im Rollstuhl vorweg.
Eine junge Frau erklärte einem weißhaarigen Herrn mit Pudelmütze, der offenbar zufällig ins Getümmel geriet, sich aber interessiert zeigte, wo er sich über künftige „Spaziergänge“ informieren könne: „Bei den Freien Sachsen – über Telegram, da finden Sie alles.“
Auch wenn es für die „Spaziergänge“ keine Anmelder gibt, so wirkt der Telegram-Kanal der Anfang März gegründeten Kleinpartei „Freie Sachsen“ als Drehkreuz – wie auch mehrere inzwischen entstandene lokale Ableger-Kanäle. An verschiedenen Orten in Sachsen finden Demos in wechselnd starker Besetzung statt. Freiberg hat sich als Kristallisationspunkt entwickelt, in Zwickau ebbte es bereits wieder ab, Ostsachsen, Zwönitz, Greiz im grenznahen Thüringen – es ist ein Katz-und-Maus-Spiel mit der Polizei, die nicht überall in Hundertschaftsstärke präsent sein kann.
Auf der Webseite der „Freien Sachsen“ wird die Polizeiarbeit kommentiert. Der Nazi-nahe Begriff „Co-Sta-Po“ taucht auch dort auf. Auch Video-Erörterungen gibt es: „Freie Sachsen im Gespräch: Protestbesuch bei SPD-Köpping“ lautet der Titel eines Gesprächsvideos mit Martin Kohlmann, Stefan Hartung und Robert Andres zu dem offenbar der Einschüchterung dienenden Fackelaufmarsch vorm Privathaus von Sachsens Gesundheitsministerin.
Rechtsanwalt Kohlmann, für die rechtsextreme Wählervereinigung Pro Chemnitz im Chemnitzer Stadtrat, wurde im März zum Vorsitzenden der „Freien Sachsen“ gewählt. Der erzgebirgische NPD-Kreischef Hartung, der bereits 2013, also noch vor Pegida, in Schneeberg als „Lichtelläufe“ verniedlichte Fackelaufmärsche gegen die örtliche Erstaufnahme für Asylbewerber anschob, wurde Stellvertreter. Ebenso der Plauener Bus-Unternehmer Thomas Kaden, der Protestler gegen die Coronapolitik zu teils ausschreitungsartig ausgearteten Großdemos fuhr. Unter dem Slogan „Honk for Hope“ (Hupen für Hoffnung) hatte die Busreisebranche zu Pandemiebeginn einen Hilferuf gestartet. Bald stand die Aktion aber im Dienst aggressiven Widerstands. Der Pro-Chemnitz-Mann Robert Andres wurde Schatzmeister der neuen Partei, die als Sammelbecken unzufriedener Gruppen angelegt ist. Doppelmitgliedschaften in Parteien lassen die Freien Sachsen explizit zu.
Auch die Rhetorik ähnelt den rechtsextremistischen Ursprüngen. Es sei „nicht die Zeit für Leisetreterei“, sondern „für deutliche Worte und deutliche Taten“, hatte Kohlmann 2018 die Stimmung am Marx-Monument aufgepeitscht. „Wir nehmen diese Bundesregierung nicht mehr hin“, nutzte der Rechtsextremist die Bühne, nachdem zwei Nächte zuvor ein Chemnitzer auf dem Stadtfest von Asylbewerbern erstochen worden war. Bilder der Ausschreitungen, die Kohlmanns Demagogie damals rahmten, gingen um die Welt. Sogar der „Selbstjustiz“ redete der Anwalt das Wort, die er als „Selbstverteidigung“ rechtfertigte. Grund: Es sei „vollkommen klar“ geworden, „dass unsere Sicherheit diese Leute (die Regierenden – d. Red.) nicht interessiert“. In letzterem unterscheidet sich die Stoßrichtung, die Kohlmann damals vorgab, von den Forderungen, die jetzt die neue Partei aufstellt. Im Unterschied zu 2018 übertreibt es die Regierung aus Sicht von Coronaleugnern und -Skeptikern schließlich heute mit der Sicherheit. Trotz der wegen überlasteter Intensivstationen aus Sachsen auszufliegenden Patienten scheint für die Demonstranten alles halb so schlimm. Keinesfalls so schlimm, dass eine Impfpflicht gerechtfertigt wäre. Die Diskussion um die Impfpflicht, berufsgruppenbezogen oder allgemein, stärkte die Reihen der „Spaziergänger“ nochmals.
Allerdings macht der promovierte Protestforscher Alexander Leistner noch einen Grund für die Verstärkung der Proteste aus. „Das Gewährenlassen der Polizei hatte zuletzt einen Einladungs- und Ermunterungscharakter. Man konnte beobachten, wie die Teilnehmerzahlen steigen und die Proteste auf benachbarte Regionen in Thüringen und Brandenburg ausstrahlen“, urteilte der Forscher vom Institut für Kulturwissenschaften der Uni Leipzig. „Es hat das Selbstbewusstsein und die Selbstdeutung als Widerstandsgemeinschaft gestärkt sowie die Hemmschwelle zur Regelübertretung und, ich würde sagen, auch zur Gewaltanwendung gesenkt“, befand er im Interview mit einer Uni-Zeitung. „Man erfährt sich selbst als verschworene Gemeinschaft von Gleichgesinnten und stärkt damit die Selbstdeutung, eine Widerstandsbewegung zu sein“, erklärte er. Als Beobachter könne man etwa die Tatsache, dass die Protestierenden auch vorm Corona-geplagtenKrankenhaus aufmarschierten, als „zynisch anmutende Realitätsverweigerung“ interpretieren, es sei aber auch „eine Machtdemonstration, sich nicht an geltendes Recht zu halten“.
Leistners Erklärung hinterfragt die Leitlinie, die Sachsens Innenminister Roland Wöller (CDU) noch im November gegenüber der „Freien Presse“ formuliert hatte. Die Polizei unterbinde Demonstrationen nur bei Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit und werde auch in Zukunft je nach Lage „angemessen und verhältnismäßig“ reagieren. Laut Leistner ergibt sich gerade aus dem Gewährenlassen das Gefährden öffentlicher Sicherheit und Ordnung – nicht unmittelbar, aber in der Signalwirkung. „Die Darstellung, als gäbe es nur Laufenlassen oder brutale Gewalt, ist sehr unprofessionell“, kritisiert der Protestforscher im Gespräch mit „Freie Presse“. Er befasst sich auch mit der Dynamik in Fanblocks von Fußballstadien. Auch dort verbergen sich gewaltbereite Aktivisten in der größeren Menge, versuchen diese aufzuwiegeln – eine ähnliche Strategie wie derzeit auf der Straße. „Die Polizei muss kommunikativ vorgehen“, weiß Leistner. Fürs Eingreifen gebe es einen großen Instrumentenkasten. Dass man künftig notfalls mit unmittelbarem Zwang vorgehen will, um Auflagen durchzusetzen, wird inzwischen seitens der Polizeiführung betont. Aber was ist mit den von Einsätzen geposteten Bildern, die man ja nicht liefern will?
Nach Informationen aus Polizeikreisen, geht man davon aus, dass Videoclips, entsprechend geschnitten, genutzt werden, um „Deutungshoheit“ zu erlangen. Manche Personen im Demotross provozierten regelrecht, was sie „Polizeifestspiele“ nennen, heißt es polizeiintern. Dass Kinder, Alte und Gebrechliche zum Teil in vordere Reihen gestellt werden, sieht man als Taktik. In Berlin nutzte die Polizei im November 2020 Wasserwerfer im Sprühmodus, da Querdenker Kinder als Schutzschilde missbrauchten. Unerwünschte Bilder eines gegen Kinder gerichteten scharfen Wasserstrahls gab es so nicht. Doch vergällte der ungemütlich feuchte Sprühnebel auf Dauer die Lust am Regelbruch.
In der Nah-Konfrontation einzelner Demonstranten mit Beamten wirkt manches wie einstudiert. Ein von einer Demo am 13. März 2021 in Dresden stammendes Video zeigt einen behelmten Beamten im Overall, der ein heftig diskutierendes älteres Paar an den jeweils äußeren Armen fasst und von sich wegschiebt. Das Paar fällt um und bleibt regungslos auf dem Rasen liegen. Was auf den ersten Blick nach übermäßigem Krafteinsatz aussieht, wirkt nach mehrfachem Betrachten des Videos anders. Wenn man mehr darauf achtet, wie verdattert der Polizist vor den beiden Gestürzten steht. Ihren Sturz, eher ihr Umfallen, hat er nicht erwartet. Das regungslose Verharren der „Gestürzten“ am Boden ist das wichtigste Indiz dafür, dass sich das Paar offenbar bewusst fallen ließ, um dieses Bild zu provozieren.
Ob das Demonstrantenverhalten dieser Szene zu Schulungsinhalten der „Freien Sachsen“ gehört, ist nicht klar. Klar ist, dass die „Freien Sachsen“ genau diese Dresdener Demo als Beispiel für übermäßige Polizeigewalt darstellen. Die Demonstranten seien auf „massives Polizeiaufgebot“ getroffen „vor allem auswärtiger Polizisten, die in brutalster Form gegen die friedlichen Proteste vorgingen“, heißt es auf der Webseite der „Freien Sachsen“. „Mehrere Personen wurden im Tagesverlauf durch die Polizei schwer verletzt – besonders betroffen waren ältere Mitbürger.“ In der Folge erteilt der Beitrag auf der „Freie Sachsen“-Plattform Nachhilfe in Sachen: Wie ziehe ich Polizeiarbeit in die Länge! Wie wehre ich mich gegen rechtliche Vorwürfe! Der Autor des Beitrags ist jetzt anonymisiert. In der im März abrufbaren Fassung war er noch mit dem Pseudonym „Egal“ bezeichnet. Und nicht nur das – in der URL-Zeile des Beitrags fand sich auch der Autoren-Klarname: Michael Brück. Im Internet-Archiv ist er nach wie vor abrufbar.
Der Rechtsextremist Brück kam 2020 von Dortmund nach Sachsen, im Rahmen der „Initiative Zusammenrücken“, die Neonazis aus westlichen Bundesländern in den Osten übersiedeln hilft. Michael Brück war in Nordrhein-Westfalen Landes-Vize der Kleinpartei „Die Rechte“ und im Dortmunder Stadtrat vertreten. In einem Interview für die Zusammenrück-Initiative nannte der Rechtsextremist als Grund fürs Übersiedeln neben angeblich „hohem Überfremdungsanteil“ in Dortmund eine politische Resignation. Die „gesamte westdeutsche Jugend“ sei „innerlich“ kaum noch zu erreichen. „Das Gute hier in Chemnitz ist, dass die Menschen eigentlich offen für rechte Positionen sind. Da ist es viel besser, in der Fläche anzugreifen“, schätzte der Rechtsextremist für Sachsen ein. „Ich glaube, dass man hier viel mehr mit der Normalbevölkerung machen kann.“
Exakt was er im Interview für die Zusammenrück-Initiative ankündigte, setzt Brück nun um. Der Unmut über Coronamaßnahmen in Teilen der Bevölkerung liefert ihm wie auch den erfahrenen lokalen Akteuren Kohlmann und Hartung die Bühne. Im Gespräch mit der „Freien Presse“ nennt Protestforscher Leistner für den polizeilichen Umgang mit den von rechts vereinnahmten, teils dirigierten Protesten einige Grundlagen: „Kommunikativ vorzugehen“, sei wichtig. Genauso „keineswegs Ängstlichkeit auszustrahlen, denn das hat Ermunterungscharakter“.
In Chemnitz schien sich das entschlossene Durchgreifen der Vorwoche diese Woche auszuzahlen. Beim Start des erneut nach wenigen 100 Metern gestoppten Aufzugs zählte die Polizei nur noch 100 Menschen. Es gelang, rund 60 davon einzukesseln, um Identitäten festzustellen.