Eine Broschüre aus Leipzig thematisiert Hausdurchsuchungen bei Linken – Wenn der Rammbock rumst

Mehr als 90 Hausdurchsuchungen in fünf Jahren: Eine Broschüre sammelt Erfahrungsberichte aus Leipzig und thematisiert den Umgang der linken Szene mit der Problematik.
»Mit lautem ›Polizei‹-Gerufe rennen meist vermummte Typen durch die ganze Wohnung, werfen Anwesende auf den Boden.« So erzählen es »zwei Genoss:innen«, die »schon öfter mit Hausdurchsuchungen konfrontiert waren«, in der Broschüre »Hausdurchsuchungen in Klein-Paris«, die sich mit der Problematik in Leipzig beschäftigt.
Hausdurchsuchungen greifen ins Grundrecht auf Unverletzlichkeit der eigenen Wohnung ein, verletzten die Privatsphäre. Statt der Beweissicherung dienen sie oft der Einschüchterung, sagen Kritiker. Die kürzlich erschienene Broschüre, herausgegeben von der Initiative Rassismus tötet, sammelt Erfahrungsberichte und Debattenbeiträge. 90 dokumentierte Hausdurchsuchungen bei Antifaschisten, Linken und antirassistischen Fußballfans gab des Broschüre zufolge in Leipzig in den vergangenen fünf Jahren. Die wirkliche Zahl sei vermutlich noch höher.
In Interviews und Berichten schildern Betroffene, wie sie die Hausdurchsuchungen erlebten. Alle Beiträge in der Broschüre sind anonym, so dass sich die Details nicht überprüfen lassen. Es sind sehr unterschiedliche Begebenheiten, doch spricht aus allen eine Warnung: In Leipzig braucht es nicht viel, um eine Hausdurchsuchung zu veranlassen. »Ich war thematisch darauf vorbereitet, aber dass es mich letztendlich wegen eines Tweets wirklich trifft, war heftig«, berichtet eine Person.
Es sei hilfreich, sich auf eine solche Möglichkeit einzustellen, heißt es immer wieder: »Die Vorbereitung, vor allem das gedankliche Durchgehen, wie solche Durchsuchungen ablaufen, war sehr hilfreich. Auch rechtlich gab es mir ein sicheres Gefühl zu wissen, was die Bullen dürfen und was ich machen muss oder eben nicht.« Wenn man sich vorbereitet habe, sei »man in dem Moment, in dem der Rammbock rumst, eigentlich immer hellwach, weiß sofort, was los ist«, sagt einer.
Viele Hausdurchsuchungen in Leipzig fanden im Zusammenhang mit Angriffen auf Neonazis statt, ob in Deutschland im Zuge von Ermittlungen gegen die Gruppe um Lina E. oder bezüglich der Angriffe in Budapest um den »Tag der Ehre« 2023 herum.
Oft kommt das SEK
Oft tritt, so die Berichte, zuerst das Mobile Einsatzkommando (MEK) oder sogar das Spezialeinsatzkommando (SEK) auf – bewaffnet und in voller Montur. Mal klingele die Polizei höflich, mal breche sie die Wohnungstür auf. Fast immer komme sie in der Früh. Nicht immer erklärten die Beamten genau, weshalb sie überhaupt da sind. Nach 30 Sekunden Chaos kehre meist Ruhe ein, dann könne man um anwaltliche Hilfe bitten. Manchmal seien die Polizeikräfte vermummt, ebenso die manchmal teilnehmenden Staatsanwälte – an einer Durchsuchung nehmen entweder die Richter oder Staatsanwälte teil, die sie angeordnet haben, oder von ihnen ausgesuchte Zeugen.
Oft dauere ein Einsatz sechs Stunden oder noch länger. Die Räumlichkeiten der Betroffenen, oft auch Gemeinschaftsräume, würden penibel durchsucht. Alles werde fotografiert und die Polizei fertige einen Grundriss der gesamten Wohnung an. Neben Datenträgern würden Schuhe und Bekleidung sichergestellt – und alles, was den Beamten sonst verdächtigt vorkomme.
Mehrmals kam es vor, dass Gerichte Hausdurchsuchungen nachträglich als illegal einstuften. Alle Berichtenden nehmen sie als staatliche Repression wahr, die gegen Linke insgesamt gerichtet sei. Zumal in manchen Fällen Journalisten der Bild-Zeitung vorab informiert gewesen seien.
»Absolut bedroht« gefühlt
Ein klassischer Leitfaden für den Umgang mit Hausdurchsuchungen ist die Broschüre nicht. Sie bietet vielmehr einen Erfahrungsschatz. Für rechtliche Tipps wird man auf Veröffentlichungen der Roten Hilfe verwiesen, deren »Checkliste Hausdurchsuchung« in der Broschüre abgedruckt ist (»Wenn die Cops plötzlich vor der Wohnung stehen – keine Panik!«). Auch Tipps des Leipziger Ermittlungsausschusses – eine Art Rechtsberatung für die linke Szene – sind abgedruckt, etwa dass Datenträger verschlüsselt und auffällig gewordene Kleidung vernichtet werden sollte.
Der Fokus der Broschüre liegt darauf, wie die Betroffenen mit der Hausdurchsuchung umgehen und wie ihr Umfeld und linke Strukturen insgesamt darauf reagieren. »Absolut bedroht« habe sich eine Person gefühlt, bei der die Polizei die Wohnung durchsucht hat. Das alles habe ihr das »Gefühl von Sicherheit in meinen eigenen Räumen« geraubt, was sich bis heute auswirke: »Ich hatte Paranoia. Ich stehe früh um sechs Uhr auf und gucke, was auf der Straße passiert.« Immer noch betrachte sie ihre Umgebung mit Argwohn, wittere überall Kameras und Überwachung.
Einige Beiträge behandeln die Folgen von Hausdurchsuchungen auf die Szene insgesamt. Im Vordergrund stehen allerdings die praktischen Folgen für die Einzelnen. Die sollten alle politisch Aktive einkalkulieren, so der Tenor.
Die Texte verdeutlichen, wie wichtig Solidarität ist. So sollte man sich als Zeuge einer Hausdurchsuchung um Rechtsbeistand für die Betroffenen bemühen: »Wenn Anwält:innen schnell vor Ort sind, hat das eigentlich immer einen großen Effekt auf die eingesetzten Bullen und ihr Verhalten, aber auch für das eigene Wohlbefinden.« Laute Solidaritätskundgebungen vor der Tür und spätere Demos werden als wichtige Unterstützung empfunden.
Die Berichte warnen außerdem davor, dass sich die Szene an die häufigen Durchsuchungen gewöhne und in ihrer Solidarität nachlasse. Und sie regen dazu an, einen allgemeinen Unterstützungsfonds zu etablieren, statt immer wieder Spenden für einen Einzelfall zu sammeln. Damit könnte man schneller und gezielter helfen.
Die Broschüre »Hausdurchsuchungen in Klein-Paris« lässt sich in der Mediathek von »Rassismus tötet! – Leipzig« herunterladen: www.rassismus-toetet-leipzig.org