Familiengeschichten: «Mir fällt es nicht so schwer»

Omer Bartov gehört zur ersten Generation, die im Staat Israel geboren ist. Zwanzig Jahre lang forschte der Historiker zum Holocaust in der osteuropäischen Heimatstadt seiner Mutter, nun beschäftigt ihn die Geschichte Israels und Palästinas.

WOZ: Omer Bartov, Sie sind in Israel geboren und aufgewachsen, heute leben Sie in den USA. Wie war Ihr letzter Besuch in Tel Aviv?

Omer Bartov: Mir ist im Dezember aufgefallen, dass – im Vergleich zu meinem Besuch im Juni – mehr Menschen darüber Bescheid wussten, was in Gaza passiert. Aber es schien, und das beunruhigt mich, keinen grossen Einfluss auf ihre Empathie zu haben. Die Leute sitzen plaudernd in Cafés, während nur fünfzig Meilen südlich die totale Zerstörung herrscht. Diese Menschen sind vielleicht selbst erst am Tag zuvor aus dem Reservistendienst zurückgekehrt oder eine Woche zuvor in einen Luftschutzkeller gerannt. Es gibt auch Widerstand gegen den Krieg, aber vor allem Gleichgültigkeit, Resignation, Depression und Erschöpfung. Und dann habe ich wirklich erschreckende, verstörende Geschichten über die Brutalität in Gaza gehört. Die Menschen sprachen über das, was ihre Kinder ihnen erzählt hatten.

WOZ: Junge Erwachsene, die als Soldat:innen der Israel Defense Forces (IDF) in Gaza waren?

Omer Bartov: Genau. Und das waren alles Leute aus der Mitte und der Linken. Alles in allem ist es ein sehr deprimierender Zustand.

WOZ: Bei Ihrem Besuch im Juni sprachen Sie mit rechten Student:innen, die gegen Ihren Vortrag an der Ben-Gurion-Universität in Be’er Scheva protestierten.

Omer Bartov: Ich hatte einen Vortrag über die Antikriegsproteste in den USA halten wollen. Das Publikum bestand lediglich aus ein paar älteren Professor:innen, und ich dachte mir: Das wird nicht sehr interessant, wir sind uns alle einig. Aber dann protestierten diese Student:innen ausserhalb des Saals – sie waren jung und sehr wütend. Die meisten von ihnen waren gerade vom Reservistendienst zurückgekehrt. «Wir sind keine Mörder», riefen sie. «Warum wird so einer hier eingeladen?» Wir luden sie dann zu uns ein, und ich unterhielt mich mit ihnen.

Wie war das Gespräch?

Omer Bartov: Ich hatte den Eindruck, dass viele von ihnen an einer posttraumatischen Belastungsstörung leiden. Dass sie Dinge gesehen und getan hatten, die für die psychische Gesundheit eines jungen Menschen, oder ganz allgemein eines Menschen, nicht gut sind – und dass sie nicht behandelt wurden. Sie waren extrem in ihren Ansichten. Sie leugneten einerseits die schrecklichen Dinge, die geschehen waren, und sagten andererseits, dass es keine andere Wahl gegeben habe, als sie zu tun. Sie sagten also: Es passiert nicht, und wenn es doch passiert, dann muss es passieren.

WOZ: Im August publizierten Sie einen Essay über dieses Treffen im «Guardian». Darin konstatierten Sie, in Gaza finde ein Genozid statt. Im November 2023 hatten Sie sich noch viel vorsichtiger positioniert.

Omer Bartov: Sehen Sie, ich habe kurz nach dem 7. Oktober für die «New York Times» geschrieben. Es gab viele Äusserungen von israelischen Politikern – unter anderem mit Exekutivbefugnissen –, die auf genozidale Absichten hinwiesen: Sie riefen zur totalen Zerstörung von Gaza auf, sagten, es gebe keine Unbeteiligten, entmenschlichten die Palästinenser:innen, bezeichneten sie als Tiere, die kein Wasser, kein Essen und keinen Strom bekommen sollten.

Omer Bartov: Aber die Frage war: Würden diese Aussagen zu einer bestimmten Politik führen – oder handelte es sich um hitzige Erklärungen nach dem Massaker vom 7. Oktober? Es gab deutliche Hinweise auf Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Aber es war noch zu früh, und ich war vorsichtig. Denn das Problem bei der Verwendung des Begriffs «Genozid» ist, dass es zwei Betrachtungsweisen gibt.

WOZ: Wie meinen Sie das?

Omer Bartov: Es gibt einerseits Leute, die jedes Mal, wenn sie eine Gräueltat sehen, sagen, dass es sich um einen Völkermord handeln müsse – seit es das Wort gibt. Aber nicht jede Gräueltat ist ein Genozid. Es gibt Kriegsverbrechen und Völkermord, und es ist wichtig, das zu unterscheiden. Bereits am ersten Tag des IDF-Angriffs begannen Leute, von einem Genozid in Gaza zu sprechen. Das hielt ich nicht für verantwortungsvoll.

Omer Bartov: Andererseits gibt es jene, die sagen: Wenn es nicht wie der Holocaust aussieht, kann es kein Völkermord sein. Das ist Unsinn: Im 20. und im 21. Jahrhundert gab es viele Genozide, die nicht wie der Holocaust aussahen, aber offensichtlich Völkermorde waren. Etwa in Ruanda, Bosnien oder Armenien.

WOZ: Was hat sich letztes Jahr verändert?

Omer Bartov: Im Mai marschierten die IDF in Rafah ein, in das letzte Gebiet, in das sie bis dahin nicht eingedrungen waren – und wohin, auf Anweisung der IDF, eine Million Vertriebene geflüchtet waren. Diese Million Menschen wurden erneut vertrieben und harren noch immer in Zeltlagern an den Stränden aus, ohne jegliche humanitäre Infrastruktur.

Omer Bartov: Wenn man zurückblickt, kann man im Vorgehen der israelischen Armee seit Oktober ein Muster erkennen: Es zeigt die systematische Zerstörung des Gazastreifens. Eine Zerstörung, die Schulen und Universitäten, Museen und Moscheen ins Visier nahm, um es unmöglich zu machen, dort zu leben und eine kulturelle Identität als Gruppe zu bewahren.

Seit dem 19. Januar herrscht in Gaza Waffenruhe.

Omer Bartov: Der Waffenstillstand macht nicht rückgängig, was passiert ist. Ich hoffe, die internationalen Medien werden nun anfangen, aus Gaza zu berichten. Damit die Menschen in Europa sehen, was ihre Staatschef:innen geduldet haben.

WOZ: Was für eine Aufarbeitung braucht es?

Omer Bartov: Wir dürfen nicht leugnen, was passiert ist, sondern müssen uns darüber entsetzen. Man muss anerkennen, was geschehen ist. Das ist in den meisten westeuropäischen Ländern, in den USA und in Israel bisher nicht der Fall. Und man muss die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen, sie vor Gericht stellen und verurteilen.

WOZ: Sie waren einst selbst IDF-Soldat: 1972 gingen Sie zur Armee, 1973 waren Sie Infanterist im Jom-Kippur-Krieg.

Omer Bartov: Das ist lange her, und ich war noch sehr jung. Ich fing an, über vieles nachzudenken. Ende 1973 war ich Mitbegründer der Friedensbewegung Peace Now. Als 1987 die erste Intifada ausbrach, schickte ich Jitzhak Rabin, damals Verteidigungsminister, einen Brief. Ich schrieb, dass das, was die israelische Armee tat, unentschuldbar sei. Sie verhielt sich wie eine Kolonialmacht: Sie schoss auf palästinensische Kinder, die sie mit Steinen bewarfen.

Omer Bartov: Ich hatte schliesslich das Glück, dass ich ein Stipendium für die Harvard University erhielt. Was mich, nicht nur aus politischen Gründen, sehr freute.

WOZ: Heute sind Sie Geschichtsprofessor und forschen seit über zwanzig Jahren zum Holocaust. Als Sie Ihr Studium begannen, existierte an den Universitäten noch nicht einmal das dazugehörige Fachgebiet.

Omer Bartov: Die meisten Leute, gerade in Ihrem Alter, denken, der Holocaust sei immer als wichtiger Teil des Zweiten Weltkriegs und des 20. Jahrhunderts gesehen worden. Doch das ist gar nicht der Fall.

Omer Bartov: In den Geschichtsbüchern aus den fünfziger, sechziger und siebziger Jahren findet man nur sehr wenig Forschung dazu. Der Historiker Raul Hilberg, der 1961 ein Standardwerk über den Holocaust schrieb, war von seinem eigenen Doktorvater gewarnt worden: «Wenn Sie über den Holocaust schreiben, ist das das Ende Ihrer akademischen Karriere.»

Sie schrieben Ihre Dissertation zu deutschen Soldaten im Zweiten Weltkrieg. Wie kamen Sie darauf?

Omer Bartov: Ich las als junger Mensch viel über Militärgeschichte und die deutsche Wehrmacht. In den Büchern dazu tauchten, wie gesagt, Judenvernichtung, Holocaust und Auschwitz nicht auf. Später, durch meine Erfahrung in der israelischen Armee, interessierte ich mich dafür, was Soldaten zum Kämpfen bringt.

WOZ: Was bringt Soldaten zum Kämpfen?

Omer Bartov: Viele damalige Theorien kamen zum Schluss, dass die deutschen Soldaten hauptsächlich aus Loyalität gegenüber ihren Kameraden gekämpft hatten. Da ich selbst Soldat und Kommandeur gewesen war, dachte ich: Sicher, das ist wahr. Aber das ist nicht die ganze Geschichte. Es war für mich nicht überraschend herauszufinden, dass sie eine viel grössere Motivation hatten: Sie glaubten tatsächlich, das Richtige zu tun. Sie hatten ein bestimmtes Feindbild und eine entmenschlichende Ideologie verinnerlicht.

WOZ: Sie erforschen Geschichte über die Berichte von Zeitzeug:innen. Warum ist Ihnen das wichtig?

Omer Bartov: Es ist eine andere Art, Geschichte zu schreiben. Für meine Dissertation habe ich 541 Biografien von deutschen Nachwuchsoffizieren gesammelt. Ich versuchte zu verstehen, wer sie waren, woher sie kamen, was für Ausbildungen sie hatten, welchen sozialen Hintergrund. Wenn man verstehen will, warum Menschen tun, was sie tun, muss man sich in sie und ihre Lage hineinversetzen. Keine Sympathie, aber Empathie haben. Einfühlungsvermögen. Das ist Geschichte von unten.

WOZ: Sie waren 24 Jahre alt, als Sie für Ihre Doktorarbeit Mitte der Siebziger das erste Mal nach Deutschland gingen. Wie war das für Sie?

Omer Bartov: Schwierig. Am ersten Wochenende fuhr ich nach München und besuchte das Konzentrationslager in Dachau. Das war etwas, das ich einfach tun musste.

Omer Bartov: Aber ich war nicht nach Deutschland gekommen, um Deutschland zu mögen, sondern um Deutsch zu lernen, damit ich forschen konnte. Ich hatte eine ambivalente Beziehung zu diesem Ort – das damalige Deutschland war ein anderes als heute: Auf der Strasse waren überall Menschen zu sehen, die Gliedmassen im Krieg verloren hatten. Wie mein Deutschlehrer, der als Soldat an der Ostfront gewesen war und ein Holzbein hatte.

Omer Bartov: Ich lernte viele sehr nette Leute kennen, die mich zu Kaffee und Kuchen einluden – und früher in der Hitlerjugend oder in der Wehrmacht gewesen waren. Und es gab eine Menge Abwehrhaltungen und verinnerlichten Antisemitismus. Es dauerte bis in die späten Neunziger, bis die deutsche Gesellschaft der Tatsache ins Auge sehen konnte, dass ihre Väter, Brüder, Grossväter und Onkel tatsächlich in ein kriminelles Unternehmen verwickelt gewesen waren. Im Jahr 2000 verpflichtete sich die Europäische Union, des Holocaust zu gedenken – Jahrzehnte nach dem eigentlichen Ereignis!

WOZ: Sie erforschten mehr als zwanzig Jahre lang die Geschichte einer Stadt in der polnisch-ukrainischen Grenzregion. Wie kamen Sie dazu?

Omer Bartov: Bis dahin herrschte eine bestimmte Sichtweise vor – der Holocaust als effizientes, industrielles Töten. Aber tatsächlich wurden die Hälfte der Opfer nicht in Lagern getötet. Darüber wollte ich forschen. In den neunziger Jahren gab es zwei grosse Völkermorde, Ruanda 1994 und Bosnien 1992 bis 1995. In beiden Fällen kannten sich die Menschen untereinander, Nachbar:innen töteten ihre Nachbar:innen. Also fragte ich mich: Wie sah das im Holocaust aus?

WOZ: Sie wählten Buczacz, die Heimatstadt Ihrer Mutter, in der heutigen Westukraine.

Omer Bartov: Es war seltsam: Zu dem Zeitpunkt war ich schon 41 Jahre alt – und ich hatte mir nie überlegt, meine Mutter zu befragen. Doch sie hatte die ganze Geschichte für mich parat. Sie hat anderthalb Stunden gesprochen, und ich nahm es auf Band auf. Ihre Geschichte bedeutet mir viel. Sie hat die Dinge personalisiert. Ich begann, anders darüber nachzudenken – über die Zufälligkeit, wer man ist.

WOZ: Ihre Mutter hatte gute Erinnerungen an ihre Kindheit, in der Schule sprach sie Polnisch, auf der Strasse Ukrainisch. 1935 verliess sie als Elfjährige das Land …

Omer Bartov: … wäre sie bis 1939 oder 1941 geblieben, wäre ich wahrscheinlich nicht geboren worden. Sie wäre ermordet worden.

WOZ: Ihr Buch «Anatomie eines Genozids» erzählt die Geschichte von Buczacz: Es handelt von Verrat, Denunziation und Widerstand. Manchmal haben Täter:innen Gnade walten lassen, manchmal waren Retter:innen nicht so selbstlos, wie man denken könnte.

Omer Bartov: Das Buch sollte die Stimme des Ortes sein. Es gibt gute Menschen, es gibt wirklich schlechte Menschen, und die meisten liegen irgendwo dazwischen. Wir denken gerne von uns, dass wir Menschen in Not helfen würden. Dass wir niemals Mörder sein würden. Aber in der Regel gibt es viele Menschen, die in der Mitte stehen. Bei Ereignissen in einer Stadt wie Buczacz gibt es keine Unbeteiligten. Jede:r ist involviert. Aber die Beteiligung ist ambivalent.

WOZ: Inwiefern?

Omer Bartov: Sie können Menschen beschützen, weil sie Ihnen leidtun. Oder weil sie Ihnen Geld geben. Sie können Menschen beherbergen, weil Sie wollen, dass sie für Sie arbeiten. Oder Sie verstecken Frauen, weil Sie Sex mit ihnen wollen. Und dann kann es sein, dass Sie sie denunzieren: weil sie kein Geld mehr haben oder weil Sie Angst haben, dass Ihre Nachbar:innen Sie denunzieren. All das ist passiert. Das heisst nicht, dass es nicht Menschen gibt, die aus altruistischen Gründen helfen. Aber es gibt viele andere Dinge, die hinzukommen.

Omer Bartov: Sie können Kollaborateur:in sein: Vielleicht gehen Sie jeden Tag los, um Menschen zu töten, aber verstecken zu Hause jemanden in Ihrem Keller. Selbst wenn Sie ein Gestapo-Offizier sind und literweise Blut an den Händen haben, lassen Sie vielleicht mal eine Frau mit ihren Kindern entkommen. Einfach, um in dem Moment zu zeigen, wie galant Sie sind.

Das klingt alles grauenhaft. Was können wir denn daraus lernen?

Omer Bartov: Menschen lassen sich nicht so leicht in Opfer, Täter oder Zuschauerin kategorisieren. Wenn Juden und Jüdinnen aus Buczacz sagten, die Ukrainer:innen seien schlimmer als die Deutschen gewesen, dann waren die Ukrainer:innen objektiv gesehen nicht schlimmer als die Deutschen. Aber subjektiv waren sie die Nachbar:innen. Jemand, dessen Kinder mit ihren Kindern zur Schule gegangen waren.

Omer Bartov: Von unten auf die Geschichte zu schauen, bedeutet, das Ereignis zu vermenschlichen: nicht um etwas zu entschuldigen, sondern weil wir ansonsten auf einem moralischen Podest sitzen und über Menschen urteilen, ohne je daran zu denken, dass solche Dinge auch in unserer Nachbarschaft passieren können. Es sind normale Menschen, die die schlimmsten Verbrechen, die man sich vorstellen kann, sowohl erleben als auch begehen. Wir können genauso mitschuldig sein wie die Menschen, die wir erforschen. Das kann uns lehren, in unserem moralischen Urteil demütig zu sein.

WOZ: Diesen Frühling erscheint Ihr Buch «Genozid, Holocaust und Israel-Palästina» auf Deutsch. Sie beschäftigen sich darin mit Ihrer Generation, der ersten Generation, die im Staat Israel geboren ist.

Omer Bartov: Ich wurde 1954, also wenige Jahre nach der Staatsgründung 1948, geboren. Nun möchte ich auch die Geschichte dieser ersten Generation lokal erforschen: Im Oktober 2022 habe ich über drei Monate hinweg Jüdinnen, Juden und Palästinenser:innen in Israel interviewt, deren Eltern oft sehr traumatische Erfahrungen gemacht haben – entweder im Holocaust oder in der Nakba, der massenhaften Vertreibung der Palästinenser:innen während der Gründung Israels. Mich interessiert dabei: Wie haben sie eine Verbindung zu dem Ort entwickelt, an dem sie aufgewachsen sind? Das ist eine Frage, die ich mir selbst stelle und die viel mit Verleugnung zu tun hat. Sowohl für Juden und Jüdinnen als auch für Palästinenser:innen.

WOZ: Inwiefern?

Omer Bartov: Die Verleugnung der eigenen Herkunft und der Diaspora, der Blick nach vorne, nicht zurück, war ein wichtiger Teil des Zionismus. In meiner Kindheit war der Holocaust omnipräsent, aber nicht greifbar. Für viele Juden und Jüdinnen war es selbst zu Hause schwierig, über den Holocaust zu sprechen. Und zugleich: die Verleugnung der Nakba. Die Verleugnung dessen, was den Palästinenser:innen widerfahren ist.

Omer Bartov: Das ist der Grundgedanke des Buches. Ich muss jedoch sagen, dass ich mich seit dem Massaker vom 7. Oktober und dem Krieg in Gaza nicht wirklich darauf konzentrieren konnte. Das alles hat mich stark mitgenommen. Deshalb schreibe ich nun an einem anderen Buch: an der 150-jährigen Geschichte des Zionismus in Israel – wie sich die Befreiungsbewegung hin zu einer Staatsideologie entwickelte, bei der es zunehmend um Unterdrückung und aggressiven Ethnonationalismus geht.

WOZ: Durch die aktuellen Kriege habe ich angefangen, darüber nachzudenken, wie Militarismus mein eigenes Leben geprägt hat: Mein Vater war als junger Mann in der ägyptischen Armee im Krieg gegen Israel.

Omer Bartov: Darf ich fragen, wann Sie geboren sind?

WOZ: 1991. Mein Vater hat Jahrgang 1947.

Omer Bartov: Dann war er 1967 Soldat?

WOZ: Ja, ich glaube, er war im Sechstagekrieg. Ich kann ihn vieles nicht mehr fragen. Er ist vor acht Jahren verstorben.

Omer Bartov: Kurz nachdem mein Vater gestorben ist, schauten wir uns alte Fotos an. Darauf waren all diese Leute zu sehen, wir hatten keine Ahnung, wer das ist – und die einzige Person, die es uns hätte sagen können, war nun tot.

Omer Bartov: In meiner Generation in Israel haben viele erst mit Mitte vierzig begonnen, sich die Frage zu stellen: Wo kommen wir her? Wie gesagt: Als ich meine Mutter interviewte, war ich 41. Wir wussten, dass unsere Grosseltern aus Europa kamen. Wir waren von den Spuren palästinensischer Dörfer umgeben. Aber wir wussten nicht, wie wir darüber sprechen sollten. Ich denke, es gibt viele Menschen, die bereuen, diese Gespräche nicht geführt zu haben.

WOZ: Mein Grossvater mütterlicherseits war im Zweiten Weltkrieg im Schweizer «Réduit», die Grossväter einiger Freund:innen von mir waren deutsche Soldaten an der Ostfront: Welche Verantwortung haben wir, unsere Familiengeschichten zu erforschen?

Omer Bartov: Ich glaube nicht, dass wir generell eine Verantwortung dafür tragen. Aber ich bin Historiker und halte es für wichtig, die Vergangenheit zu kennen. Sonst kennen wir auch die Gegenwart nicht wirklich.

WOZ: Es fällt mir schwer, diese Frage zu stellen: Sie sind 1954 geboren und waren als junger Mann bei den IDF. Mein Vater und Sie könnten theoretisch im selben Krieg auf verschiedenen Seiten gekämpft haben. Wie gehen wir damit um?

Omer Bartov: Ich finde es nicht so schwierig. Ich wäre sehr daran interessiert, mit einem ägyptischen Soldaten zu sprechen, der 1973 gekämpft hat. Das ist nun schon sehr lange her, und es ist nicht dasselbe, wie wenn wir über den Zweiten Weltkrieg sprechen.

WOZ: In Ihrem Buch schreiben Sie, dass die Geschichte nicht immer die Geschichte der Mächtigen ist. Wie meinen Sie das?

Omer Bartov: Es sind nicht immer die Sieger:innen, die die Geschichte schreiben. Die Geschichte kann auch aus Sicht der Verlierer:innen geschrieben werden. Und die Gewinner:innen können auf lange Sicht auch die Verlierer:innen sein. Ich glaube, die Menschen merken oft nicht, wie das Schreiben, die Fiktion, die Poesie oder die Kunst über diejenigen siegt, die über die rohe Gewalt verfügen.

WOZ: Sie forschen zu so viel Gewalt. Wie halten Sie das aus?

Omer Bartov: Ich habe keine besondere Bewältigungsstrategie. Als ich in den achtziger Jahren an meiner Doktorarbeit schrieb, dachte ich darüber nach, dass ich einige Hundert erfrorene Wehrmachtssoldaten in meinem Schrank liegen hatte, die ich herausholte, um über sie zu schreiben.

Omer Bartov: Aber es interessiert mich nicht, einfach den Horror zu beschreiben: Menschen, die andere Menschen töten, foltern, vergewaltigen, entmenschlichen. Ich bin daran interessiert, das Menschliche herauszuarbeiten, um ein Verständnis von Menschen in Krisenzeiten zu erlangen.

Omer Bartov: Ich überlegte lange, wie ich in meinem Buch über Buczacz den «Alltag des Völkermordes», so heisst das Kapitel, beschreiben kann. Letztlich entschied ich mich, jene Geschichten zu erzählen, die zeigen, dass Menschen eine Wahl hatten, Entscheidungen treffen konnten. Das soll nicht heissen, dass Völkermord eine gute Seite hat. Das hat er nicht. Und Menschlichkeit siegt nicht immer, das stimmt nicht. Aber ich glaube, dass man selbst in den schrecklichsten Zeiten noch ein Fünkchen Menschlichkeit finden kann. Das ist es, was mich bei meiner Arbeit antreibt.

Der Genozidforscher

Omer Bartov (70) ist Professor an der Brown University in Rhode Island und gilt als einer der führenden Holocaust- und Genozidforscher:innen. Im Kibbuz En Hachoresch geboren, lebt Bartov heute in den USA. Sein zentrales Werk, «Anatomie eines Genozids. Vom Leben und Sterben einer Stadt namens Buczacz», wurde 2021 ins Deutsche übertragen. Im April erscheint sein neues Buch, eine Essaysammlung, auf Deutsch.

Omer Bartov: «Genozid, Holocaust und Israel-Palästina. Geschichte im Selbstzeugnis». Aus dem Englischen von Anselm Bühling. Jüdischer Verlag bei Suhrkamp. Berlin 2025. 300 Seiten.