Weil ein Zettel fehlt: Ein ukrainischer Arzt erzählt, warum er nicht arbeiten darf
Er ist Facharzt, in der Blüte seines Lebens, Ukrainer. Er hätte am 1. Juni als Gefäßchirurg im Klinikum Chemnitz anfangen sollen. Aber Dmytro Chyhrynov scheitert, wie Hunderte andere ukrainische Ärzte, an der deutschen Bürokratie.
Zwei Jahre und drei Monate nach seiner Flucht hat Dmytro Chyhrynov seine Hoffnung verloren.
Am 5. Mai 2022 stieg Chyhrynov in Donezk in den Fernbus. Am 2. August 2024 starrt er aus seinem Chemnitzer Wohnzimmerfenster und weiß nicht weiter. Es regnet, die Tropfen zeichnen Linien aufs Glas, er hat Augenringe. Und er dachte immer, ihn würde man mit Kusshand nehmen. Er ist ja Arzt. Ärzte werden gebraucht.
Fast jede Stunde schaut er im Handy, ob jemand eine Mail geschrieben hat. Jeden Morgen läuft er die Treppe hinunter zum Briefkasten. Niemand schickt ihm das letzte Dokument, das ihm fehlt. Es hat einen sehr langen, sehr deutschen Namen.
„Unbedenklichkeitsbescheinigung“ ist die korrekte Bezeichnung. Eine Art persönlicher Tüv, der bestätigt, dass Chyhrynov als Arzt kein Disziplinarverfahren am Hals hat. Je mehr Tage ohne dieses Dokument vergehen, umso mehr entwickelt sich Dmytro Chyhrynov zum deutsch-ukrainischen Problem.
Das Problem besteht darin, dass viele Flüchtlinge immer noch nicht arbeiten. Nach ihren Sprachkursen warten sie, dass ihre Berufsabschlüsse anerkannt werden. Das ist in Deutschland zäher als anderswo in Europa. Höchstens jeder fünfte Ukrainer, der in Sachsen lebt und arbeiten könnte, arbeitet im Moment. Wahrscheinlich sind es weniger. Es gibt keine seriöse Statistik. Die meisten leben nach zweieinhalb Jahren Krieg jedenfalls immer noch vom Bürgergeld. Krankenschwestern, Lehrerinnen, Ingenieure.
So kurz vor den Landtagswahlen kann man beobachten, dass der Volkszorn auch deswegen wütet. Wenn auf den Wahlplakaten steht, „Asylflut stoppen“, sind dann auch sie gemeint? Wenn an der Straßenlaterne steht, „Wir sind das Volk“, richtet sich das auch gegen arbeitslose Bürgergeldempfänger aus der Ukraine?
Bypässe sind seine Lieblingsoperation, aber um die legen zu dürfen, fehlt ein Zettel.
Dmytro Chyhrynov ist also auch noch Arzt. Er ist 44, im besten Arztalter. Ein schlauer, gesunder Arzt, der einem Zettel hinterherrennen muss und so lange nicht arbeiten darf, bis er diesen Zettel hat. Darüber lässt sich morgens beim Frühstück wunderbar schimpfen.
Chyhrynov ist nicht einmal ein Einzelfall. Seit Beginn des Krieges im Februar 2022 beantragten fast 1700 ukrainische Ärztinnen und Ärzte in Deutschland, dass ihre Abschlüsse anerkannt werden, ihre Approbationen. Bisher wurden erst 187 bewilligt, schreibt die „Welt am Sonntag“, die die zuständigen Behörden aller Bundesländer nach diesen Zahlen abfragte. Nach zweieinhalb Jahren Krieg arbeitet nur etwas mehr als jeder zehnte ukrainische Arzt, der nach Deutschland geflüchtet war. Man bräuchte sie dringend. Krankenhäuser schließen wegen Personalmangels ganze Stationen. Immer häufiger ersetzt der Rettungswagen den Hausarzt, weil manche nicht mehr wissen, wohin sonst mit ihren Gebrechen.
Dmytro Chyhrynov könnte längst gutes Geld verdienen. Er müsste niemandem auf der Tasche liegen. Er kann ja was. Er ist Gefäßchirurg. Er weiß, wie man verkalkte Schlagadern rettet, Stents implantiert und Bypässe legt. Bypässe, sagt er, sind wirklich seine Lieblingsoperation. Er sah schon viele Frauen und Männer vor Glück weinen, weil der Bypass Arme und Beine vorm Amputieren rettete. In Sachsen finden die Kliniken kaum noch gute Gefäßchirurgen, weil immer weniger auf dem Gebiet ihren Facharzt machen. Je mehr Provinz, desto weniger Bewerber. Die Fachabteilung des Chemnitzer Klinikums versorgt schon Teile des Erzgebirges mit.
Chyhrynov kommt wie ein Geschenk des Himmels. Er kann stundenlang über Venen und Arterien erzählen, als habe er sein Leben auf die Reparatur von menschlichen Blutbahnen ausgerichtet, die im Laufe eines Lebens verstopfen, dünner werden und einen am Ende umbringen können. Auf einer Konferenz im dritten Studienjahr habe er einen Vortrag über Arterien gehört, der etwas in ihm auslöste. „Ich war so aufgeregt damals“, sagt Chyhrynov. Er kann Gefühle schlecht ausdrücken auf Deutsch, aber ihn überkommt dieses glückliche Grinsen, sobald jemand fragt, weshalb ausgerechnet Gefäßchirurg.
Chyhrynov hospitierte im Chemnitzer Klinikum. Sven Seifert, Chefarzt der Gefäßchirurgie, erinnert sich, wie Chyhrynov vor ihm stand und alles über die Klinik wissen wollte. Wie er mitreden konnte über die Krankheiten der Menschen, die gerade da waren. Wie tief er im Stoff stand. Wie gut er Deutsch sprach. Der Mann ist fit, dachte Seifert. 14 Jahre Berufserfahrung, flexibel, aufgeschlossen. Ein paar Wochen später bot Seifert Chyhrynov eine Stelle an. Sobald er alle Papiere besäße, könne er beginnen. Er gab Chyrynov ein Schreiben, auf dem steht der 1. Juni als möglicher Arbeitsbeginn. Das Blatt sollte helfen, seinen Prozess in den Behörden zu beschleunigen. Seifert nahm Kontakt zur Landesdirektion auf, aber die Forderungen erscheinen ihm inzwischen kaum erfüllbar.
Nun ist schon August. Chyhrynov arbeitet seit 27 Monaten nicht. Er hätte es lange nicht gekonnt, allein wegen der Sprache. Aber jetzt?
Chyhrynov sitzt zu Hause. Er trägt ein hellblaues Hemd, das er sorgsam gebügelt hat, und eine beigefarbene Hose. Man sieht ihn und ahnt, dass er Besuch nicht in Jogginghosen empfängt. Das Bügelbrett steht ausgeklappt hinterm Esstisch im Wohnzimmer, jederzeit bereit zum Bügeln. Es ist mehr Studentenbude als Wohnzimmer. Aufgeräumt, spärlich eingerichtet. Er könnte gerade angekommen sein. Oder kurz davor, wieder zu verschwinden.
Chyhrynov wohnt hier weniger, er bereitet sich aufs Leben vor, das er einmal führen möchte. Es gibt einen winzigen Fernseher, einen Hometrainer und einen zweiten Tisch, den er als Schreibtisch benutzt. Chyhrynov hat einen Sessel an diesen Schreibtisch geschoben, weil er bis in den späten Abend hinein am Laptop sitzt und im Internet nach einer Lösung sucht. Das Internet, Universum aller Weisheit. Ihm kann es nicht helfen.
Weshalb er von Donezk nach Chemnitz kam
Als der Krieg begann, hätte Chyhrynov nicht flüchten dürfen. Männer zwischen 18 und 60 durften das Land nicht verlassen, weil man sie an der Front als Soldaten brauchen könnte. Aber Chyhrynov wohnte im Donbas. Der Donbas in der Ostukraine galt schon lange als schwieriges Gebiet, das seit 2014 von Russland besetzt wurde. Er arbeitete im Kalinina-Krankenhaus von Donezk. Im August 2014 rückte der Krieg ihm zum ersten Mal bedrohlich nahe. Sein Krankenhaus wurde von Bomben beschädigt. Es war ein Samstag, er hatte frei, um 6.45 Uhr hörte er einen Knall. Von da an hielt er noch acht Jahre durch. Kurz nach Kriegsbeginn übernahm Russland Donezk und damit die Gewalt über die Behörden.
Im Mai 2022 packte er in Donezk seinen Koffer. Hosen, Hemden, T-Shirts, Laptop, Zeugnisse. Es war ein Donnerstag, als er in den Bus stieg und über Russland flüchtete, weil er anders nicht herausgekommen wäre als gesunder, unverheirateter, kinderloser Mann. Der einzige Mensch, den er noch hatte, war seine Mutter, die sich den Russen näher gefühlt habe als den Ukrainern und an den schnellen Frieden glaubte. Sie flüchtete ein halbes Jahr später nach Polen.
Es war eine weite Reise bis in diese kleine, schmucklose Wohnung. Chemnitz liegt 2100 Kilometer von Donezk entfernt. Soweit wie Madrid von Chemnitz entfernt liegt. Am Anfang vermisste er Donezk. Den Park, den botanischen Garten, das armenische Restaurant, in dem er oft mit Freunden gesessen hatte. Chemnitz war ein Zufall. Chyrhynow landete erst im überfüllten München, reiste weiter bis Dresden und von da nach Chemnitz. Er hatte im Internet nach Städten mit großen Gefäßzentren gesucht und Chemnitz gefunden. Nach ein paar Monaten zog er aus einer Pension in diese Erdgeschosswohnung am Stadtrand.
Er wacht morgens immer noch halb sieben auf. „Gewohnheit“, sagt Chyhrynov. Die normalen Dienste im Krankenhaus begannen um acht. Bloß an seinen Vokabeln merkt man, dass die deutsche Sprache neu für ihn ist. Zum Beispiel an solchen Sätzen: „Ich befinde mich in einer schwierigen Situation und in einem Teufelskreislauf.“ Sie klingen sehr weit weg.
Dmytro Chyhrynov zieht einen Stapel Blätter aus einem Schubfach. Das Schubfach gehört zu seinem Fernsehschrank und ist so ziemlich das einzige Schubfach hier, der Stapel ist seine Existenzgrundlage. Er besteht vor allem aus Zeugniskopien, die er übersetzen ließ. Hinter allen Schulfächern steht das hart erkämpfte „Sehr gut“ eines strebsamen Menschen, der schon als Kind ein Ziel hatte. Chyhrynov wollte Arzt werden. Sein verstorbener Vater besaß eine Praxis für Familienmedizin.
Das Blatt, das er zeigen will, ist mit einem neongrünen Stift durchgearbeitet worden. Chyhrynov bekam es aus der Landesdirektion Chemnitz. Auf dem Blatt steht, was er alles braucht, um als Arzt arbeiten zu dürfen. Zwölf Punkte sind markiert. Führungszeugnis, Zeugnisse, personalisiertes Studienbuch, Nachweis über deutsche Sprachkenntnisse. Seine Sachbearbeiterin ging jeden einzelnen Punkt durch, und dann zog er los und versuchte, alle Dokumente zu besorgen. Besuchte Sprachkurse, absolvierte eine Prüfung namens „Leben in Deutschland“, suchte sich Notare, die seine ukrainischen Dokumente als echt bestätigen. Er war kurz vor dem Ziel.
Chyhrynovs Heimatbehörden sind unter russischer Gewalt. Deshalb kommt er nicht an das Dokument heran, das er braucht.
Das Problem, sagt Chyhrynov, sind die Russen im Donbas. Die Unbedenklichkeitsbescheinigung müsste ihm das ukrainische Gesundheitsministerium in Kiew ausstellen, also schrieb er nach Kiew. Das Ministerium habe geantwortet, dass man keine Bescheinigung schicken könne. Es liege am Krieg, an der schlechten Verbindung zu den Behörden des okkupierten Gebiets im Donezbecken. Alle Dokumente, die man in besetzten, zusammengebrochenen Behörden beantragen müsste, seien praktisch wertlos. Auch seine.
An schlechten Tagen fühlt sich Dmytro Chyhrynov, als hätte man ihn kurz vor der Ziellinie disqualifiziert. Auf dem Tisch vor ihm liegen ausgedruckte E-Mails und Briefe, die sein Schicksal beweisen. Er sitzt davor und trinkt Wasser aus einer hellblauen Tasse, auf der „Hello Summer“ steht. In seiner leeren Wohnung wirkt er wie die Hauptfigur eines schlechten Films.
„Ich habe keine Ahnung, welche Maßnahmen ich ergreifen kann“, sagt Chyhrynov.
Natürlich ist sein Film nicht zu Ende. Er schrieb seiner Sachbearbeiterin, die ihm mit seinen Formularen hilft. Er fragte, was er jetzt machen soll. Es hieß, er brauche etwas Offizielles aus Kiew. Er soll sich eine schriftliche Ablehnung ausstellen lassen. Also schrieb er wieder nach Kiew, wieder ans Ministerium. Er zählt die Wochen nicht mehr, die vergehen. Nach einer Weile kam eine Mail aus dem ukrainischen Gesundheitsministerium. Wenn er den Absender sieht, wird er nervös. Dieses Mal hieß es, dass er sich an eine andere Behörde in Kiew wenden könne. Also schrieb er an die andere Behörde, schickte Zeugnisse hin, sein ganzes Leben.
Chyhrynov zeigt die E-Mails, die er von Sachbearbeitern aus sächsischen Behörden bekommen hat. Manchmal gratulieren sie ihm, wenn er wieder etwas liefern konnte, was auf ihrer Liste steht. Ein bestandener Sprachkurs, ein beglaubigtes Dokument. In E-Mails klingt meistens alles einfacher, als es ist.
Müsste die deutsche Bürokratie in Krisen lockerer sein? Sie wird oft zu Unrecht beschimpft, weil es ohne sie weniger Gerechtigkeit gäbe und noch mehr Hass. Bürokratie ist nicht immer ein böses Monster. Aber manchmal kommt das Monster mit sich selbst nicht klar.
Die einzigen, die immer schreiben, sind die deutschen Behörden.
Chyhrynov sitzt jetzt also, niedergeschlagen von der Bürokratie, in seiner Wohnung. Wäre sein Film etwas mit Mittelalter-Fantasy, wäre er der einsame Ritter, der den Drachen nicht besiegen konnte. Chyhrynov liest viel. Meistens liest er deutschsprachige Fachtexte über Gefäßchirurgie, die er im Netz findet. Die Medizin schreitet voran, er will ja dranbleiben. Ab und zu kauft er sich Science-Fiction-Romane.
Dmytro Chyhrynov hat an die ukrainische Botschaft geschrieben, die in Berlin sitzt. Wieder ein bisschen Hoffnung. Seine Sachbearbeiterin schrieb ihm, wie die Botschaft ihm helfen könnte: Falls er an die Unbedenklichkeitsbescheinigung nicht herankommt, würde ein Schreiben aus der Botschaft genügen. Auf dem offiziellen Schreiben müsste stehen, dass man ihm keine Dokumente ausstellt. Anschließend müsste er vor einem Notar schwören, dass er nie ein Verbrechen beging als Arzt. Soweit kam es aber noch nicht. Chyhrynov wartet auf Antwort von der Botschaft. Die einzigen, die immer schreiben, sind die deutschen Behörden.
Chyhrynov möchte in Chemnitz bleiben und endlich ein gewöhnliches Leben leben. Chemnitz, sagt er, sei eine gute Stadt für ihn. Viel Grün, Wald ringsherum, Aussicht auf Arbeit. Er geht oft spazieren, um sich abzulenken und ab und zu ins Fitnessstudio. Er nimmt seinen Elektroroller, der im Flur steht, schiebt ihn zur Tür hinaus und gleitet geschmeidig durch sein Viertel, um mit anderen schwitzenden Männern und Frauen Gewichte in die Luft zu stemmen. Aus der Ferne könnte man glauben, Dmytro Chyhrynov wäre angekommen.