Der letzte NS-Prozess in Deutschland – Prozess in Leipzig: Leistete 99‑Jährige Beihilfe zu KZ‑Massenmord?

Die Rentnerin Irmgard Furchner wurde 2022 wegen Beihilfe zum Mord in mehr als 10.000 Fällen im Konzentrationslager Stutthof zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Ab Mittwoch verhandelt der Bundesgerichtshof in Leipzig über den Revisionsantrag der früheren Sekretärin des Lagerkommandanten. Es dürfte einer der letzten NS‑Fälle der Justiz sein.

Kann eine zivile Schreibkraft in einem Konzentrationslager Beihilfe zum NS-Massenmord in mehr als 10.000 Fällen geleistet haben? Über diese Frage verhandelt der Bundesgerichtshof (BGH) in Leipzig ab Mittwoch, 31. Juli. Der 5. Strafsenat muss entscheiden, ob ein Urteil gegen die inzwischen 99-jährige ehemalige KZ-Sekretärin Irmgard F. Bestand hat.

Zum Beginn des ersten Verhandlungstags vor dem Landgericht Itzehoe im Jahr 2021 erschien die Angeklagte nicht. Die damals 96-jährige Irmgard Furchner hatte am Morgen des 30. September vom Seniorenheim in Quickborn bei Hamburg aus einen Fluchtversuch gestartet. Das brachte ihr einen Haftbefehl, fünf Tage Untersuchungshaft und wochenlanges Tragen eines Überwachungsarmbands ein.

Unverständnis bei der Angeklagten

Zuvor hatte die Rentnerin dem Vorsitzenden Richter einen Brief geschrieben. Sie würde nicht verstehen, warum sie jetzt zur Verantwortung gezogen werden solle, hieß es darin. Die Anklage 76 Jahre nach Ende ihrer Tätigkeit als Schreibkraft im Konzentrationslager (KZ) Stutthof bei Danzig am 1. April 1945 hatte es in sich. Der Vorwurf gegen Furchner lautete: in 11.412 Fällen Beihilfe zum heimtückischen und grausamen Mord, in 18 weiteren Fällen Beihilfe zum versuchten Mord.

Das Verfahren gegen Furchner endete am 20. Dezember 2022 nach 40 Verhandlungstagen, der Anhörung von acht der 31 Nebenkläger als Zeugen und der Auswertung eines umfangreichen Gutachtens. Das Urteil: eine zur Bewährung ausgesetzte Jugendstrafe von zwei Jahren wegen Beihilfe zum Mord in 10.505 Fällen und versuchtem Mord in fünf Fällen. Die Anwendung des Jugendstrafrechts gründete sich auf Furchners Alter zur Tatzeit, da war sie 18 beziehungsweise 19.

„Wir haben Freispruch beantragt“

Das Landgericht war zur Überzeugung gelangt, dass die Angeklagte durch die Erledigung von Schreibarbeit in der Kommandantur die Haupttäter willentlich dabei unterstützt habe, Gefangene durch Vergasungen, durch die Schaffung lebensfeindlicher Bedingungen im Lager, durch Transporte in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau und durch Verschickung auf sogenannte Todesmärsche grausam zu töten oder dies zu versuchen. Ihre Arbeit, so die Richter, sei für die Organisation des Lagers und die Durchführung der grausamen, systematischen Tötungshandlungen notwendig gewesen.
Ein Blick auf das ehemalige Konzentrationslager Stutthof.

Im KZ Stutthof, das von September 1939 bis zum 9. Mai 1945 bestand, starben insgesamt schätzungsweise 65.000 Menschen aus 28 Nationen. Zunächst war es ein Lager für polnische Zivilgefangene, die sich der Einverleibung ihrer Heimat durch das Deutsche Reich widersetzten. Die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg stufte das Lager jedoch wegen organisierter Massentötungen von Juden für die Zeit von Juli 1944 bis zur Befreiung Anfang Mai 1945 als Vernichtungslager ein.

Es war der Zeitraum, in dem die Verurteilte an einem Schreibtisch der Lagerkommandantur ihrer Arbeit nachging.

Furchners Anwalt, der Kieler Strafverteidiger Wolf Molkentin, hat für seine Mandantin die Revision des Urteils beantragt, die nun in Leipzig verhandelt wird. „In Itzehoe haben wir einen Freispruch beantragt, und dieses Ziel verfolgen wir mit der Revision auch weiter“, sagte der Jurist dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND).

Die Revisionsentscheidung des Bundesgerichtshofs könnte die letzte in einem NS‑Verfahren in Deutschland sein und ist historisch bedeutsam. Die Haupttäter sind alle tot und Bedienstete wie Irmgard Furchner gehen auf die 100 zu. Ein früherer Wachmann im KZ Sachsenhausen, der im Juni 2022 wegen Beihilfe zum Mord an mehr als 3500 Häftlingen zu fünf Jahren Haft verurteilt worden und in Revision gegangen war, starb im vergangenen Jahr im Alter von 102 Jahren.

Gegenwärtig führt nach Auskunft der Zentralen Stelle die Staatsanwaltschaft Neuruppin ein Ermittlungsverfahren gegen eine ehemalige Angehörige des KZ Ravensbrück. Die Klage der Staatsanwaltschaft Gießen gegen einen ehemaligen Angehörigen des KZ Sachsenhausen im Jahr 2023 und die Klage der Staatsanwaltschaft Berlin gegen einen ehemaligen Wachmann des Kriegsgefangenenlagers Stalag 365 Wladimir-Wolynsk 2022 wurden von den Landgerichten wegen Verhandlungsunfähigkeit des Angeschuldigten nicht zur Hauptverhandlung zugelassen.

In allen Fällen geht es um die Beihilfe zum vielfachen Mord, erklärt der Behördenleiter der Zentralen Stelle, Oberstaatsanwalt Thomas Will. „Die Personen sind zwischen 99 und 101 Jahre alt. Darüber hinaus überprüfen wir weiterhin ehemalige Angehörige verschiedener Konzentrationslager, in denen sich Phasen systematischer Ermordungen ereignet haben. Die Recherchen zu diesen bislang nicht ermittelbaren Personen, dies teilweise ohne Geburtsdaten, sind aufwändig und schwierig“, so Will.

Keine Ermittlungen gegen Handlanger

Das Unverständnis Irmgard Furchners über ihre Strafverfolgung und Verurteilung ist selbst für Nebenklagevertreter Cornelius Nestler, emeritierter Rechtsprofessor der Universität Köln, verständlich. „Sie fragt sich, ‚warum erst jetzt und warum ich‘“. Grund: die bundesdeutsche Justiz hat sich jahrzehntelang praktisch geweigert, die strafrechtliche Verantwortung der Menschen am Ende der NS‑Befehlskette – der Handlanger in den Lagerbürokratien – zu untersuchen.

Doch die Rechtsprechung hat in Sachen Mittäterschaft mit dem Verfahren gegen den Wachmann John Demjanjuk 2011 wegen Beihilfe zum Mord an 28.000 Menschen im Vernichtungslager Sobibór eine neue Richtung eingeschlagen. Vom Urteil des Münchner Landgerichts II ging ein klares Signal aus: Wer sich an der „Vernichtungsmaschinerie“ beteiligte, der trägt generell Mitschuld – und kann deshalb zur Verantwortung gezogen werden.

Danach kamen einige Verfahren in Gang. Das Landgericht Lüneburg verurteilte im Juli 2015 Auschwitz-Buchhalter Oskar Gröning wegen Beihilfe zum Mord in 300.000 Fällen zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren – ohne dass ihm über seine Dienstverrichtung hinaus eine direkte Beteiligung an Tötungshandlungen nachgewiesen werden konnte. Der Bundesgerichtshof hat die damit rechtskräftig gewordene Verurteilung 2016 bestätigt. Gröning starb, ehe er die Haft antreten musste.

Im Juni 2016 wurde ein Wachmann des Konzentrationslagers Auschwitz, Reinhold Hanning, durch das Landgericht Detmold wegen Beihilfe zum Mord in mindestens 170.000 Fällen zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt. Der Verurteilte ist während des laufenden Revisionsverfahrens verstorben.

Im Juli 2020 verurteilte das Landgericht Hamburg mit Bruno Dey einen Wachmann des Konzentrationslagers Stutthof rechtskräftig wegen Beihilfe zum Mord in 5232 Fällen und wegen Beihilfe zu einem versuchten Mord zu zwei Jahren Jugendstrafe auf Bewährung. Der Mann ging nicht in Revision.

Furchners Chef, Lagerkommandant und SS‑Sturmbannführer Paul-Werner Hoppe, wurde in den 1960er-Jahren als Gehilfe verurteilt und kam schnell wieder frei. Furchner war in Verfahren 1954, 1964 und 1982 stets als Zeugin, nie als Beschuldigte vernommen worden. Hoppe hatte Furchner mutmaßlich Exekutionsbefehle, Deportationslisten für die Züge nach Auschwitz und Anweisungen zu Massentötungen durch Giftgas diktiert. Erinnern konnte sie sich jedoch lediglich daran, dass sie einmal private Gartenutensilien für Hoppe, zu dem sie auch nach dem Krieg Kontakt hielt, geordert hätte.

Verteidiger vermisst Beweise

Furchners Anwalt Wolf Molkentin wendet ein, die Beweisaufnahme habe seine Mandantin nicht mit Arbeitsinhalten in Verbindung bringen können, bei denen der Zusammenhang mit den heimtückischen und grausamen Mordtaten unmittelbar erkennbar war. „Bekanntlich haben die Nazis für ihre Verbrechen bestimmte Codes benutzt, zum Beispiel ‚Sonderbehandlung‘. Es muss also die Frage geklärt werden, inwieweit ihr die generelle Mitwirkung am Betrieb des Lagers Stutthof zur Last gelegt werden kann.“

Dabei stellten sich komplexe Rechtsfragen, denen das Landgericht leider ausgewichen sei, so der Anwalt. So könnten nämlich bei sogenannten neutralen Handlungen – etwa den von Furchner ausgeführten Schreibarbeiten – die Anforderungen der Rechtsprechung an den Gehilfenvorsatz durchaus strenger sein. Es würde dann nicht der vom Landgericht festgestellte „bedingte Vorsatz“ ausreichen. Auch die Annahme einer „psychischen Beihilfe“ sei nicht tragfähig begründet.

„Eine steile These“, meint Nebenklägervertreter Nestler dazu. „Die Vorstellung, dass sie hinterm Schreibtisch gesessen und nichts mit dem Grauen um sie herum zu tun gehabt habe, die ist lebensfern“, so der Jurist. In seiner dem RND vorliegenden Stellungnahme an den 5. Senat des BGH schreibt Nestler: „Wer dem Kommandanten einer Mordfabrik, d. h. hier eines Gefangenenlagers, dessen Zweck allein noch in der unmittelbaren oder mit Zeitablauf zu erreichenden Ermordung der Gefangenen besteht, Hilfe leistet, handelt nie ‚neutral‘, sein Handeln hat immer einen auch in Bezug auf den Massenmord deliktischen Sinnbezug.“

Die Bundesrichter haben jedoch noch ein vom Generalbundesanwalt aufgeworfenes Thema zu erörtern. Er meint, die Revision der Angeklagten werfe grundsätzliche Fragen zur Strafbarkeit wegen Beihilfe zum Mord durch die Dienstverrichtung in einem KZ auf, das kein „reines Vernichtungslager“ gewesen sei. Der oberste Strafverfolger der Bundesrepublik bezieht sich damit auf den Einwand von Furchners Anwalt Molkentin, die damalige Stenotypistin habe den eigentlichen Zweck des Lagers nicht ohne Weiteres erkennen können, da es nicht von Anfang an auf die physische Vernichtung von Menschen wie etwa die KZ Sobibór, Majdanek, Treblinka, Kulmhof, Belzec oder Auschwitz-Birkenau ausgerichtet gewesen war.

Tatsächlich hatte sich die Rechtsprechung bis zum Verfahren gegen den Auschwitz-Wachmann Hanning 2016 nicht mit durch das „Gefangenhalten unter lebensfeindlichen Bedingungen“ herbeigeführten und/oder versuchten Massenmord befasst, bestätigt Cornelius Nestler, der Stutthof-Überlebende vertritt. Überlegungen, ob es im Fall Furchner um ein KZ ging, das von vornherein als Vernichtungslager konzipiert worden war oder sich dazu entwickelte, seien jedoch obsolet, findet er.

„Jede Gefangene und jeder Gefangener, die nicht … in andere Lager verlegt wurden, alle sollten im Lager Stutthof zu Tode kommen …“, schreibt er in seiner Erwiderung an den 5. Senat des BGH. Entweder durch unmittelbare Tötungsaktionen wie Vergasungen und Erschießungen oder durch das Ausbleiben jeglicher Versorgung in den Sterbebaracken und die lebensfeindlichen Bedingungen. „Unter diesen von der Kammer festgestellten Umständen, war jeglicher Schriftverkehr, der auf den Betrieb und die Organisation des Lagers bezogen war, ein Tatbeitrag zum Massenmord, und dieser Schriftverkehr war, was die oben genannte Überlegung des Generalbundesanwaltes verkennt, immer auch für die Tötung von Häftlingen von Bedeutung.“

Nun haben die Bundesrichter das Wort. In der Revision sind Freispruch, Verwerfung der Revision und Zurückweisung ans Landgericht möglich. Furchners Anwalt, dem es im Itzehoer Verfahren wichtig war, seine „antifaschistische Grundhaltung“ im Gerichtssaal zu erklären, wünscht sich, dass alle Beteiligten die nötige Klärung vorm BGH nachvollziehen können. „Dann hatte das ganze Verfahren auch Sinn – egal, wie es letztlich ausgeht. Dann ist es ein Urteil mit großer Akzeptanz und wegweisendem Charakter.“

Irmgard Furchner hatte sich in Itzehoe am letzten Verhandlungstag zu Wort gemeldet. „Es tut mir leid, was alles geschehen ist“, sagte sie, „und ich bereue, dass ich zu der Zeit in Stutthof war. Mehr kann ich nicht sagen.“

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TAZ 31. 7. 2024 Christian Rath

Revision zu Holocaust-Prozess: Die „Chefsekretärin“ des KZs

Der Bundesgerichtshof verhandelte am Mittwoch über die Revision der 99-jährigen Irmgard Furchner. Sie arbeitete im KZ Stutthof als Stenotypistin.

War die KZ-Sekretärin mitverantwortlich für den Massenmord im Konzentrationslager Stutthof? Über diese Frage verhandelte der Bundesgerichtshof (BGH) an diesem Mittwoch. Die inzwischen 99-jährige Irmgard Furchner hatte Revision gegen ihre Verurteilung durch das Landgericht Itzehoe eingelegt.

Furchner war als junge Frau Sekretärin im Konzentrationslager (KZ) Stutthof bei Danzig. Dort nahm sie Diktate des Lagerkommandanten Paul Werner Hoppe auf, tippte Tagesbefehle für die Wachmannschaften und wickelte den umfangreichen Schriftverkehr für die Transporte von Häftlingen ab. Furchner arbeitete von Juni 1943 bis April 1945 in Stutthof.

Das KZ Stutthof war zunächst ein Arbeitslager, in dem die Arbeitskraft der großteils jüdischen Häftlinge ausgebeutet wurde. Ab Sommer 1944 war das KZ aber so überfüllt, dass es faktisch zum Vernichtungslager wurde. KZ-Kommandant Hoppe hatte die Erlaubnis zur systematischen Ermordung von Häftlingen erhalten. Zudem wurden Tausende von Häftlingen von Stutthof aus ins Todeslager Auschwitz-Birkenau verlegt.

Das Landgericht Itzehoe verurteilte Irmgard Furchner im Dezember 2022 zu einer zweijährigen Freiheitsstrafe auf Bewährung wegen Beihilfe zum Mord in 10.505 Fällen.

Angelastet wurde ihr dabei die Tötung von Häftlingen in der Stutthofer Gaskammer, bei Vernichtungstransporten und Todesmärschen sowie durch die generell lebensfeindlichen Bedingungen im KZ. Die Insassen erhielten zu wenig Nahrung, zu wenig Wasser und kaum medizinische Versorgung. Einer Fleckfieber-Epidemie im KZ blieben sie schutzlos ausgesetzt. Furchners Verurteilung vor dem Landgericht erfolgte durch eine Jugendkammer, weil die Angeklagte zum Tatzeitpunkt erst 18 beziehungsweise 19 Jahre alt war.

Für den Anwalt „ganz normal“

Furchner legte Revision gegen das Urteil ein. Sie kam aber nicht persönlich zur Verhandlung nach Leipzig, wo der fünfte Strafsenat des BGH sitzt. Furchners Anwalt, Wolf Molkentin, plädierte auf Freispruch. Er stellte darauf ab, dass die junge Frau damals die Auffassung hatte, „etwas Neutrales zu verrichten“. Aus ihrer Sicht war die Schreibtätigkeit in Stutthof eine „ganz normale Sekretariatstätigkeit“, „nichts anderes als bei einer Bank“.

Udo Weiß, der Vertreter der Bundesanwaltschaft, verteidigte dagegen das Strafurteil. Allerdings müsse der BGH seine Rechtsprechung „behutsam weiterentwickeln“. Auch die Tätigkeit in einer KZ-Schreibstube könne Beihilfe zum Massenmord sein.

Weiß ging zumindest von psychischer Beihilfe aus. Furchner habe durch ihre Tätigkeit und Dienstbereitschaft den Lagerkommandanten in seiner Mordtätigkeit bestärkt. Eine physische (handfeste) Beihilfe zum Mord sei Furchner dagegen nicht nachzuweisen. Es sei nämlich unklar geblieben, welche Befehle und Schreiben sie konkret getippt hatte.

Furchner habe keine völlig nachrangige Tätigkeit ausgeübt, so Ankläger Weiß, immerhin habe sie direkt in der „Schaltstelle“ des KZs gearbeitet. Außerdem sei sie die einzige Stenotypistin im Lager gewesen. Die meisten Schreibarbeiten im KZ gingen über ihren Tisch. Nebenkläger-Anwalt Christoph Rückel nannte Furchner wegen ihrer Tätigkeit für den Lagerkommandanten sogar „Chefsekretärin“.

Der BGH wird sein Urteil am 20. August verkünden. Die mündliche Verhandlung wurde für historische Zwecke aufgezeichnet, da es sich laut dem Bundesgerichtshof um ein Verfahren von „herausragender zeitgeschichtlicher Bedeutung“ handele.

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LTO Roman Fiedler 01.08.2024

Das Sekre­ta­riat zur Vor­hölle

Kann die Schreibtischtätigkeit einer Sekretärin in einem Konzentrationslager Beihilfe zum tausendfachen Mord sein? Am 20. August entscheidet darüber der 5. Strafsenat des BGH. Roman Fiedler war bei der Verhandlung in Leipzig dabei.

Beihilfe zum heimtückischen und grausamen Mord in 10.505 Fällen sowie zum versuchten Mord in weiteren fünf Fällen: Hierfür wurde Irmgard F. im Dezember 2022 vom Landgericht (LG) Itzehohe zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren zur Bewährung verurteilt. Die mittlerweile 99-Jährige arbeitete ab 1943 als Zivilangestellte in der Kommandantur des Konzentrationslagers Stutthof bei Danzig. Dort war sie die erste Stenotypistin des Kommandanten – also so etwas wie die Chefsekretärin des Lagers.

Der Generalbundesanwalt (GBA) hatte beantragt, über die eingelegte Revision der Angeklagten in einer Hauptverhandlung zu entscheiden, da grundsätzliche Fragen zur Strafbarkeit wegen Beihilfe zum Mord in Konzentrationslagern aufgeworfen seien. Nach Ansicht des Verteidigers Rechtsanwalt Wolf Molkentin jedenfalls lasse sich der Fall nicht „bruchlos in die jüngere Rechtsprechung zu NS-Beihilfetaten einordnen“.

Im Prozess gegen John Demjanjuk im Jahr 2011 wurde zum ersten Mal die Frage der Strafbarkeit eines Wachmanns in einem Lager wegen Beihilfe zum Mord bejaht, ohne dass der Beweis eines konkreten Tatbeitrags erbracht werden konnte. Der Angeklagte wurde in seiner Funktion als Wachmann schlicht als „Teil der Mordmaschinerie“ gesehen. Diese neue Linie führte der Bundesgerichtshof (BGH) 2016 im Urteil gegen Oskar Gröning – den „Buchhalter von Auschwitz“ – fort. Gröning hatte nach der Selektion eintreffender Juden das ihnen entwendete Geld und Gepäck verwaltet.

Anders als in diesen beiden Fällen verrichtete Irmgard F. ihren Dienst in einem Konzentrationslager, das anders als Auschwitz oder Sobibor kein „reines“ Vernichtungslager war. Auch übte sie als Zivilangestellte lediglich Schreibtischtätigkeiten aus.

Letzter KZ-Prozess vor einem deutschen Gericht?

Aus Platzgründen tagte der 5. Strafsenat des BGH am Mittwoch im Großen Sitzungssaal des Reichsgerichtsgebäudes, in dem heute das Bundesverwaltungsgericht untergebracht ist. Der Gerichtssaal war einst Schauplatz für historische Verhandlungen wie den Reichstagsbrandprozess im Jahre 1933. Auch Adolf Hitler schwor hier als Zeuge seinen berühmten Legalitätseid.

Die Wahl des Raumes scheint angemessen angesichts der Schwere dessen, was an diesem Tag verhandelt werden soll. Es ist der vielleicht letzte KZ-Prozess vor einem deutschen Gericht. Der holzgetäfelte und goldgeschmückte Saal ist bis auf den letzten Platz gefüllt an diesem heißen Julitag. Die Stimmung ist ernst. Angesichts der historischen Bedeutung wird die Verhandlung für das Bundesarchiv aufgezeichnet.

Die Angeklagte selbst war nicht anwesend. Stattdessen fanden sich neben dem Gericht, den beiden Verteidigern aus Kiel und einem Vertreter des Generalbundesanwalts vor allem zahlreiche Nebenklagevertreter in Leipzig ein – zwölf an der Zahl.

Der Schrecken der Konzentrationslager

Zunächst fasste der Berichterstatter des Senats Jan Gericke das Urteil der Vorinstanz zusammen. F. war als einzige Stenotypistin des Lagerkommandeurs des KZ-Stutthof vor allem mit der Bearbeitung des anfallenden Schriftverkehrs betraut gewesen – hierzu gehörten etwa auch Bestellungen von Zyklon B. So gut wie alle Korrespondenz sei durch ihre Hände gegangen.

Diese „für die Ermöglichung der Tatausführung wesentliche Tätigkeit“ habe dazu geführt, dass F. genaue Kenntnis über die Verhältnisse im Lager hatte. Auch konnte sie von ihrem Büro aus wesentliche Teile des Lagers, wie den Appellplatz, überblicken und habe den immer präsenten Geruch von verbrannten Leichen zweifellos wahrnehmen müssen.

Gericke beschrieb das Leiden der Gefangenen durch Hunger, Durst, Kälte, Krankheit, Erschöpfung und später Vernichtung. Die Angeklagte habe all dies in „gefühlloser Gesinnung“ hingenommen und ihren Dienst getan.

„Neutrale Handlungen“ einer Sekretärin?

Verteidiger Wolf Molkentin – der schnell und mit eher leiser Stimme spricht – kritisierte, die Beweislage sei „dürftig“. Das LG habe keine konkreten Handlungen seiner Mandantin benennen können, die in direktem Zusammenhang mit den Mordaktionen standen. Vielmehr handele es sich um „neutrale“ und berufstypische Handlungen einer Sekretärin.

Er bezweifelte außerdem, dass der hinreichende Beweis erbracht sei, F. habe weitreichende Kenntnisse über den Zweck des Lagers gehabt. Es habe ferner nicht nachgewiesen werden können, welche Schriftstücke seine Mandantin im Einzelnen verfasst habe. Nach Molkentin tauge der Prozess kaum zu einer letzten Aufarbeitung des NS-Unrechts, sondern sei schlicht „übriggeblieben“.

Bundesanwalt Udo Weiß wiederrum betonte die „möglicherweise letzte Gelegenheit“, in einem Prozess Fragen der Beihilfe zum Mord in Konzentrationslagern zu klären. Bisher seien vor allem Fälle von Wachleuten, Aufsehern oder Ärzten entschieden worden.

Hilfeleisten durch Dienstbereitschaft

Der Vertreter des GBA, dass die Angeklagte die einzige Sekretärin des Lagers gewesen sei und dem Kommandanten „allzeit treu zu Diensten“ gestanden habe. Durch diese stete Dienstbereitschaft habe sie dem Kommandanten als Haupttäter psychische Beihilfe geleistet. F. habe eine „einzigartige Stellung“ in der Schaltstelle des Lagers eingenommen, ihre Tätigkeit sei von hohem Stellenwert für die Aufrechterhaltung des Betriebs gewesen.

Auch seien die erhöhten Anforderungen für die Strafbarkeit bei berufstypischem Verhalten hier erfüllt, da F. angesichts der Umstände im Lager vom Tötungswillen des Kommandanten gewusst haben soll.

Der „geschichtswissenschaftlichen Unterscheidung“ von Vernichtungs- und Konzentrationslagern komme im Strafrecht keine Bedeutung zu, so der Bundesanwalt. Das LG habe rechtsfehlerfrei entschieden: Die Einordnung des Betriebs der Vernichtungslager als einheitliches Mordgeschehen sei auf das KZ Stutthof übertragbar.

Auch Nebenklage-Vertreter Christoph Rückel relativierte die Unterscheidung der Lagertypen als „akademische Jurisprudenz“. Die Schreibtätigkeit von F. sei wesentlich für die Umsetzung der Pläne der Haupttäter gewesen. Sie sei „keine Mitarbeiterin in der Suppenküche“ gewesen.

Listen für den Abtransport nach Auschwitz erstellt

Da zu den bearbeiteten Schriftstücken auch Listen für den Abtransport von Insassen nach Auschwitz gehört haben sollen, habe die Angeklagte kaum glauben können „in einem Ferienlager tätig gewesen zu sein“. F. sei eine Vertrauensperson für den Lagerkommandanten gewesen und habe „an der Spitze der Befehlskette“ eine unterstützende Tätigkeit ausgeübt.

Während andere Nebenklagevertreter sich mit dem Hinweis, es sei „schon alles gesagt, nur noch nicht von jedem“, im Wesentlichen darauf beschränkten, ihren Vorrednerinnen zuzustimmen, legte Rechtsanwalt Onur Özata gegen Ende des Verhandlungstages noch einmal den Finger in die Wunde. Angesichts einer sechs Jahrzehnte verschleppten Aufarbeitung von NS-Verbrechen durch die deutsche Justiz sei der Prozess gegen Irmgard F. die letzte historische Chance, das Unrecht zu adressieren.

Von 100.000 NS-Tätern, so Özata, seien nicht einmal 200 wegen der Morde an Millionen von Juden und anderen Opfern des Nationalsozialismus verurteilt worden. Diese Bagatellisierung, sei „deutsche Staatsraison“ gewesen.

Wie der BGH die Handlungen von Irmgard F. strafrechtlich bewerten wird, ist offen. Die für den 20. August, 10 Uhr, angekündigte Urteilsverkündung wird mit Spannung erwartet.

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Michael Nordhardt und Frank Bräutigam, ARD-Rechtsredaktion 31.07.2024

Revisionsverhandlung um KZ-Sekretärin: Warum die späte Aufarbeitung wichtig ist

Der Bundesgerichtshof überprüft das Urteil gegen eine ehemalige Sekretärin im NS-Konzentrationslager Stutthof. Sie war 2022 schuldig gesprochen worden. Warum die Aufarbeitung erst jetzt erfolgt – und dennoch wichtig ist.

Was ist die Vorgeschichte in diesem Verfahren?

Wegen Beihilfe zum Mord in 10.505 Fällen und Beihilfe zum versuchten Mord in weiteren fünf Fällen hatte das Landgericht Itzehoe die inzwischen 99-jährige Angeklagte im Dezember 2022 verurteilt. Die Taten wurden im NS-Konzentrationslager Stutthof östlich von Danzig begangen. Zwischen Juni 1943 und April 1945 sei die Frau dort Stenotypistin in der Lagerkommandatur gewesen.

Nach Überzeugung des Gerichts habe sie „willentlich unterstützt, dass Gefangene durch Vergasungen, durch lebensfeindliche Bedingungen im Lager, durch Transporte in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau und durch Verschickung auf sogenannte Todesmärsche grausam getötet wurden“.

Wichtig ist: Ihr war nicht vorgeworfen worden, dass sie selbst gemordet habe – nicht, dass sie etwa selbst auf Menschen geschossen oder die Gaskammern im Lager bedient habe. Aber: Sie soll zu den Schreckenstaten im KZ Hilfe geleistet haben.

In der Pressemitteilung des Landgerichts hieß es dazu: „Die Förderung dieser Taten durch die Angeklagte erfolgte durch die Erledigung von Schreibarbeit in der Kommandantur. Diese Tätigkeit war für die Organisation des Lagers und die Durchführung der grausamen, systematischen Tötungshandlungen notwendig.“ Zum damaligen Zeitpunkt war die Angeklagte 18 bzw. 19 Jahre alt. So ist es zu erklären, dass das Gericht eine Jugendstrafe verhängte. Diese wurde zur Bewährung ausgesetzt.

Warum geht es jetzt nochmal um den Fall?

Die Angeklagte hat gegen das Urteil Revision eingelegt. Dafür ist der Bundesgerichtshof (BGH) zuständig – im konkreten Fall der V. Strafsenat, der anders als die meisten anderen Strafsenate in Leipzig und nicht in Karlsruhe sitzt. Im Rahmen der Revision überprüft der BGH das schriftliche Urteil des Landgerichts Itzehoe jetzt auf Rechtsfehler.

Das bedeutet: Der Sachverhalt – also das, was aus Sicht des Gerichts passiert ist – steht fest, daran wird nicht mehr „gerüttelt“. Es werden keine (neuen) Zeugen gehört, keine weiteren Beweise erhoben. Das wird oft damit plastisch gemacht, dass die Revisionsinstanz keine „Tatsacheninstanz“ mehr ist.

Immer wieder hört man, im Revisionsverfahren gehe es nur um „Formfehler“. Das stimmt aber nicht. Wenn der BGH ein Urteil auf Rechtsfehler überprüft, geht es unter anderem um die Frage, ob das Gericht Fehler bei der Rechtsanwendung gemacht hat. Also, ob es aus dem festgestellten Sachverhalt die falschen rechtlichen Schlüsse gezogen hat. Eine entsprechende „Sachrüge“ hat die Angeklagte erhoben.

Was ist mit einer Verjährung?

Für viele Straftaten, die die Menschen in den Lagern erlitten haben, kann heute niemand mehr strafrechtlich zur Rechenschaft gezogen werden. Hunderttausende Freiheitsberaubungen etwa, zahllose Misshandlungen aller Art, Raubtaten – all das ist schon seit Jahrzehnten verjährt. Aber: Mord verjährt nicht. Und auch Beihilfe zum Mord verjährt nicht. Deshalb sind Verurteilungen auch heute, mehr als 75 Jahre später, noch möglich.

Warum ist eine Verurteilung 75 Jahre später wichtig?

„Mord verjährt nicht“ – damit wird deutlich: Einen Schlussstrich sieht unser Rechtssystem für solche Fälle nicht vor. Diese Grundentscheidung sei gerade vor dem Hintergrund der NS-Verbrechen getroffen worden, erklärt Thomas Will im Podcast „Die Justizreporter*innen“ der ARD-Rechtsredaktion.

Der Jurist leitet die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen. Die Ludwigsburger Behörde sorgt mit ihren Ermittlungen dafür, dass die Akteure von damals auch heute noch vor Gericht gestellt werden.

Im Strafrecht geht es auch darum, Rechtsfrieden wiederherzustellen. Dafür können solche Prozesse wichtige Beiträge leisten. Das bestätigen auch Hinterbliebene der Ermordeten immer wieder, wenn sie heute an Verfahren gegen die Helfer von damals teilnehmen.

Warum gab es direkt nach dem Krieg kaum solche Verfahren?

In den Jahren nach 1945 herrschte in der Bundesrepublik eine Art „Schlussstrich-Mentalität“: eine Tendenz, eher vergessen als aufarbeiten zu wollen. Ein wichtiger Schritt hin zu mehr Aufarbeitung waren die Auschwitz-Prozesse am Landgericht Frankfurt ab 1963 – initiiert vom hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer. Ein generelles Umdenken war damit aber nicht verbunden.

Später in den 1960er-Jahren entschied der Bundesgerichtshof in Bezug auf Auschwitz: Um das Lagerpersonal von damals wegen Beihilfe zu bestrafen, müsse man den Männern und Frauen konkret nachweisen, welche Morde sie gefördert hätten. Im Kontext der Massenmorde in den Konzentrationslagern eine quasi unlösbare Aufgabe. Deshalb wurden in den folgenden Jahrzehnten viele Verfahren gegen die „kleineren Rädchen“ in der Nazi-Tötungsmaschinerie von den Staatsanwaltschaften eingestellt.

Warum sind heute diese Verfahren und Urteile möglich?

Eine Art Wende brachte erst das Urteil gegen John Demjanjuk aus dem Jahr 2011. Das Landgericht München entschied: Allein die Anwesenheit des Lageraufsehers Demjanjuk im Vernichtungslager Sobibor und seine Kenntnis von den Morden reichen aus, um ihn wegen Beihilfe zum Mord zu verurteilen.

Demjanjuk starb allerdings, bevor sich der BGH als oberstes Strafgericht mit der neuen Linie befassen konnte. 2016 bestätigten die Karlsruher Richterinnen und Richter dieses Urteil aber im Fall von Oskar Gröning, dem sogenannten Buchhalter von Auschwitz.

Wie hat der BGH den wichtigen Gröning-Beschluss begründet?

Die zentrale Aussage lautet: Auch die „kleineren Rädchen“ haben eine zentrale Rolle beim Völkermord an den Juden gespielt. Für die Nazis sei ein „organisierter Tötungsapparat“ mit eingespielten Abläufen Voraussetzung gewesen, um in kürzester Zeit Tausende Morde zu begehen.

Wörtlich heißt es im BGH-Beschluss: „Nur weil ihnen eine derart strukturierte und organisierte ‚industrielle Tötungsmaschine‘ mit willigen und gehorsamen Untergebenen zur Verfügung stand, waren die nationalsozialistischen Machthaber in der Lage, die ‚Ungarn-Aktion‘ anzuordnen.“ Im Rahmen der „Ungarn-Aktion“ wurden ungarische Juden massenhaft vor allem nach Auschwitz deportiert. Die rechtliche Bewertung aus dem Gröning-Beschluss spielt auch im jetzigen Verfahren eine wichtige Rolle.

Gibt es weitere Ermittlungen?

Seit der Entscheidung gibt es immer wieder Prozesse und Urteile gegen ehemalige KZ-Mitarbeiter und KZ-Mitarbeiterinnen: 2016 etwa gegen den Auschwitz-Wachmann Reinhold Hanning oder 2020 gegen Bruno Dey, einen ehemaligen Wachmann im KZ Stutthof.

Vor dem Landgericht Neuruppin wurde im Juni 2022 ein ehemaliger KZ-Wachmann zu einer fünfjährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Der Mann war gestorben, bevor er die Haft angetreten hatte. Die Ermittlungen der „Zentralen Stelle“ in Ludwigsburg haben laut Behördenleiter Thomas Will dazu geführt, dass die Staatsanwaltschaft Neuruppin aktuell ein Ermittlungsverfahren gegen eine ehemalige Mitarbeiterin des Konzentrationslagers Ravensbrück führt.

Beim Landgericht Hanau wurde im vergangenen Jahr darüber hinaus Anklage gegen einen ehemaligen Angehörigen des Konzentrationslagers Sachsenhausen erhoben, beim Landgericht Berlin gegen einen ehemaligen Wachmann des Kriegsgefangenenlagers Stalag 365, Wladimir-Wolynsk.

In beiden Fällen ist laut Will noch nicht endgültig entschieden, ob die Anklage zugelassen wird – oder ob die beiden hochbetagten Beschuldigten verhandlungsunfähig sind. Beide Male wurde die Eröffnung des Verfahrens von den Gerichten zunächst abgelehnt, nach Angaben der zuständigen Staatsanwaltschaften wurde hiergegen in beiden Fällen Beschwerde eingelegt. Unterdessen laufen die Ermittlungen der „Zentralen Stelle“ weiter. Allerdings werden sie wegen des hohen Alters der möglichen Täterinnen und Täter immer mehr zu einem Wettlauf gegen die Zeit.

Wie lief die Aufarbeitung in der DDR?

Nach dem Krieg wurde die Entnazifizierung in der Sowjetischen Besatzungszone und später in der DDR zunächst besonders rigoros betrieben – was Polizei, Justiz und innere Verwaltung anging. Der Antifaschismus galt als eine der Hauptsäulen der DDR-Staatsideologie. Er wurde nach innen und außen propagiert – auch, um sich als den besseren der beiden deutschen Staaten zu präsentieren.

Heute ist allerdings bekannt: DDR-Bürgern soll pauschal Absolution erteilt worden sein, wenn sie sich im Gegenzug dem Sozialismus zuwendeten. Ebenso wurden in der DDR lebende NS-Täter wohl nicht konsequent vor Gericht gebracht.

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31.07.2024 NDR

Stutthof-Prozess: BGH verhandelt Revision ehemaliger KZ-Sekretärin

Der Bundesgerichtshof in Leipzig hat den Fall der ehemaligen Sekretärin des KZ Stutthof, Irmgard F., verhandelt. Sie legte Revision gegen das Urteil des Landgerichts Itzehoe ein. Eine Entscheidung wird im August erwartet.

Ist die Quickbornerin Irmgard F. schuldig oder muss die mittlerweile 99 Jahre alte ehemalige Sekretärin des Konzentrationslagers Stutthof doch freigesprochen werden? Ihr Anwalt hatte Revision eingelegt, diverse Rechtsfragen seien noch zu klären. Es gehe ihm nicht darum, „auf Biegen und Brechen“ einen Freispruch zu erwirken, so der Anwalt der verurteilten Quickbornerin Irmgard F., Wolf Molkentin, auf Nachfrage von NDR Schleswig-Holstein.

Die Revision sei aus seiner Sicht aber notwendig, weil das Landgericht Itzehoe (Kreis Steinburg) wichtige Rechtsfragen in seinem Urteil nicht beantwortet habe. Die 99-jährige ehemalige Sekretärin des Konzentrationslagers Stutthof hatte gegen ihre Verurteilung durch das Landgericht Itzehoe Revision eingelegt. Sie wurde wegen Beihilfe zum Mord in über 10.000 Fällen und versuchten Mordes in fünf Fällen zu einer zur Bewährung ausgesetzten Jugendstrafe von zwei Jahren verurteilt.

Urteil: Arbeit der Sekretärin für „Durchführung der systematischen Tötung notwendig“

Das Landgericht Itzehoe ist überzeugt, dass Irmgard F. mit ihrer Schreibtätigkeit für den Kommandanten des Lagers dazu beigetragen hat, dass Gefangene durch Vergasung und Transporte in das Vernichtungslager Auschwitz getötet wurden. Ihre Arbeit sei für die Organisation des Lagers und die Durchführung der systematischen Tötung notwendig gewesen. „Die Urteilsbegründung hat mich nicht überzeugt“, so Molkentin.

Alle erwarten ein Grundsatzurteil

Nun erwarten alle Verfahrensbeteiligten vom Bundesgerichtshof ein Grundsatzurteil. Die fünf Richterinnen und Richter des 5. Strafsenates wollen klären, ob eine Zivilangestellte wie die ehemalige Stenotypistin Irmgard F. überhaupt strafbar wegen Beihilfe zum Mord sein kann, wenn das Konzentrationslager, in dem sie gearbeitet hat, kein reines Vernichtungslager gewesen sei – so wie das KZ Stutthof. Darüber habe der Bundesgerichtshof in dieser Konstellation bislang noch nicht entschieden. Die Entscheidung darüber will das Gericht nach eigenen Angaben am 20. August fällen.

Im Zweifel für die Angeklagte

Darüber hinaus sollen weitere Unklarheiten beseitigt werden. Zum Beispiel die Frage, ob im Itzehoer Prozess zweifelsfrei bewiesen wurde, dass Irmgard F. die Mordtaten ihres Vorgesetzten willentlich unterstützt hat. Reichen die Beweise, die im Itzehoer Verfahren vorgelegt wurden, für den Schuldspruch aus? Nebenklagevertreter Stefan Lode findet es richtig, diese Unklarheiten jetzt zu klären. „Sie hat ja nur Schriftsätze angefertigt, nie eine Waffe in der Hand gehabt“, so Lode. Und Verteidiger Molkentin betont: „Wenn Zweifel bleiben, muss es einen Freispruch geben.“

Geht das Verfahren ans Landgericht zurück?

Nebenklagevertreter Lode bringt noch eine weitere Option ins Spiel: „Möglicherweise geben die Richter das Verfahren aber auch an das Landgericht zurück und sagen: ‚Das habt ihr noch nicht geklärt, verhandelt das noch mal.'“ Im Sinne seiner Mandantinnen und Mandanten, den Überlebenden des KZ Stutthof, hofft er aber, dass es bei dem Schuldspruch bleibt. Für ihn und die anderen Anwälte, die die Überlebenden vertreten, sei klar: „Gerade jüdische Gefangene sollten die KZ-Zeit und Arbeit dort nicht überleben. Anzunehmen, es sei geplant gewesen, die Leute nur zur Zwangsarbeit einzusperren, ist spätestens mit den Beschlüssen der Wannseekonferenz widerlegt.“ Er ist überzeugt: „Sie hat durch ihre Arbeit eine aktive Rolle bei den Taten gespielt. Sie hat als Teil der SS-Clique rund um den Kommandanten willentlich das tausendfache Morden unterstützt.“ Deswegen sei es richtig gewesen, sie wegen Beihilfe zu verurteilen.