Besuch im Camp in Leipzig: eine Tür, ein Dach und ein Kühlschrank
„Eine Tür, ein Dach und ein Kühlschrank – mehr wollen wir nicht.“
Mehmet, einer der jungen Bewohner des Camps für Geflüchtete am Deutschen Platz in Leipzig, der größten Stadt Sachsens, erzählt seine Geschichte, nachdem er sich vergewissert hat, dass das, was er sagt, nicht mit seinem richtigen Namen und einem Foto von ihm veröffentlicht wird – diese Angst ist Teil seiner Sprachlosigkeit.
Es handelt sich nicht um eine Erstaufnahmeeinrichtung, in der Menschen die ersten Monate verbringen und dann weitergeschickt werden, sondern um eine „Notunterkunft“, in der sie lange bleiben müssen – in vielen Fällen bis ihr Asylverfahren abgeschlossen ist. Die Geflüchteten sind gezwungen, mehr als ein Jahr hier zu leben (noch länger, wenn sie keine Wohnung finden), und wenn sie endlich rauskommen, betrachten sie sich als eine große Prüfung bestanden.
Betreiber heißt “Saxonia Catering”
Das Camp, das von der privaten Firma Saxonia Catering betrieben wird und Hunderte von Geflüchteten beherbergt, besteht aus großen Zelten mit Holzböden und provisorischen Zimmern, die durch dünne Holzwände voneinander getrennt sind. Die Zimmer, die mit Etagenbetten für mindestens vier Personen ausgestattet sind, haben keine Türen, sondern Plastikvorhänge. Ein Geflüchteter malte eine Tür auf den Vorhang, aber die Leitung verstand das wohl als Protest und ersetzte den Vorhang sofort durch einen neuen.
Die Holzwände der Zimmer reichen nicht bis zum Dach, so dass man nicht nur die Geräusche, sondern auch die Gerüche der Nachbar:innen wahrnimmt. Viele Campbewohner:innen berichten vom gleichen Problem: Es fällt ihnen schwer, ihre Zimmer zu verlassen und nachts zu schlafen, weil sie Angst um ihre Sachen und Angehörigen haben. Ein junger Mann sagte, dass er sich im Schlaf an seine Tasche klammert, in der er seine Wertsachen aufbewahrt; ein Mann, der mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern ein Zimmer teilt, sagte, dass er nachts nicht schlafen kann und sich verpflichtet fühlt, Wache zu halten.
Man hört das Schnarchen aus den anderen Zimmern – in einem Zelt sagen uns die Leute, dass jemand so schnarcht, dass niemand im Zelt schlafen kann. Sie haben ihn ausfindig gemacht und auch ein paar Nächte geweckt, aber es geht wieder los und der Mann sagt, er kann es leider nicht kontrollieren. Was sollen sie denn machen?
“Begeistern, faszinieren und überraschen”
Saxonia Catering ist nicht als Betreiber von Asylbewerberheimen gestartet, sondern hat sich auf die Organisation und das Catering von Events spezialisiert. „Unser Ziel ist es, Sie und Ihre Gäste nicht nur zufrieden zu stellen: Unser Service soll begeistern, faszinieren und überraschen“, heißt es auf der Website. Die Situation im Camp bestätigt dieses Ziel mit kleinen Abstrichen: Niemand ist zufrieden, und wenn man es zulässt, kann aus Überraschung und Wut auch Begeisterung werden. Bis vor wenigen Monaten verteilte das Unternehmen auch Essen im Camp, aber natürlich keines, mit dem es seine wohlhabenden Kunden beeindrucken wollte.
Angst vor der Kälte
Im Camp sind nur eine Handvoll Sozialbetreuer:innen eingestellt – für zeitweise 300 Menschen. Die Sozialbetreuer:innen, die ich treffe, sind Menschen mit Herz und Gerechtigkeitssinn: Ein Fluch und Segen, denn dadurch sind sie nicht in der Lage, diese Arbeit über einen längeren Zeitraum fortzusetzen und ihr lächelndes Gesicht müssen die Bewohner:innen dann auch noch vermissen. Sie erzählen von einem schrecklichen Winter, in dem es manchmal sehr schwierig war, zur Arbeit zu kommen, wo sie mit frierenden Menschen zu tun hatten. Einmal haben die Bewohner:innen auch die Polizei angerufen und es waren viele Krankenwagen da, weil die Menschen Angst vor der Kälte hatten.
Dann ging auch noch die ohnehin schlechte Heizung (ein Rohr oben!) nicht mehr und die Bewohner:innen wurden für drei Tage an andere Orte verlegt: Plötzlich gab es Platz, der trotz Umverteilungsanträgen und zahlreichen Beschwerden nicht gefunden werden konnte. Bei Wind hatten nicht nur die Kinder, sondern auch die Erwachsenen Angst, dass etwas auf sie herunterfallen könnte. Ein elfjähriges syrisches Mädchen, das fünf Jahre lang in der Türkei zur Schule gegangen war und Türkisch gelernt hatte, erzählte zuerst mit Tränen in den Augen vom Erdbeben, das sie in Hatay, einer fast völlig zerstörten Stadt, miterlebt hatte – dann von der Angst, wenn es in der Unterkunft windig wurde. Sie könne hier nicht schlafen, weil sie Angst habe, dass alles einstürzt.
Reizüberflutung, Dunkelheit, Insekten
Eine ehemalige Ehrenamtliche des Camps berichtet noch von Fällen von Reizüberflutung und fährt fort: „Ohne angemessene Rückzugsorte sind ihre einzigen Zufluchtsorte ihre Betten in den überfüllten Zimmern, die sie mit anderen teilen müssen. Tag und Nacht werden sie mit Lärm konfrontiert, sei es durch laute Handyspiele, Musik oder andere Bewohner. Es gibt keine gemeinsamen Räume, um sich zu entspannen und die Küchen sind nachts verschlossen, was bedeutet, dass viele Bewohner keinen Zugang zu Essen haben.“
Sie erzählt von einem Mann, der sein Pfand zurückgab, um seinem Sohn ein heißes Schokoladengetränk zu kaufen, und der seinen Sohn davon überzeugen musste, auf Chips zu verzichten, da sie sich diese nicht leisten können, und fügt ein Problem hinzu, das trotz seiner Bedeutung eher selten erwähnt wird: „Frauen und Männer müssen lange Wege in der Kälte zurücklegen, um zu den Toiletten zu gelangen, oder sogar im Freien duschen, ohne abschließbare Türen, die Privatsphäre garantieren. In dieser schwierigen Situation sind sogar Kinder manchmal gezwungen, in Mülltonnen zu urinieren – aus Angst vor Kälte, Dunkelheit und Insekten. Dadurch entsteht eine Atmosphäre, die an ein Gefängnis erinnert.”
“Ich habe keinen Wunsch – wir müssen weg”
Ein 25-jähriger Mann, der erst mit 14 Jahren in die Türkei kam und es nach 11 Jahren tiefster Ausbeutung nach Deutschland schaffte, berichtet zunächst von seiner Zeit in der Türkei: „Sie sehen dich als Geld, nicht als Mensch. Wenn du Geld bringst, kannst du leben – wenn nicht, ist es besser, du stirbst.“ Wenig später geht es um die Fortsetzung seiner Geschichte in Deutschland: Seit etwa einem Jahr lebt er hier, darf weder arbeiten noch einen Integrationskurs besuchen. Er ist seit seiner Kindheit Tischler und sagt, er vermisse es, mit Holz zu arbeiten. Er beklagt sich auch über fehlende Türen und erzählt, dass er einmal weggeworfenes Holz gesehen habe und schnell zur Leitung gegangen sei:
„Lasst mich daraus Türen bauen. Ich will auch kein Geld dafür – das wäre für mich eine Beschäftigung gegen die Langeweile und würde allen die Türen bringen, die sie brauchen!“ Der Objektleiter nickte ablehnend und sagte: „Irgendwann werden wir sie bauen.“ Wieder vergingen Monate – es gab immer noch keine Türen. Er erzählt auch von dem schrecklichen Winter, ist aber auch vorsichtig mit Fotos und seinem Namen: Er will nicht negativ auffallen, was vielleicht sein Asylverfahren gefährden könnte. „Im Winter haben wir sehr unter der Kälte gelitten, konnten nicht schlafen“, sagt er und fügt hinzu: „Ich habe keinen Wunsch, dass hier irgendetwas besser wird – wir müssen hier weg.“
Erschöpft und ernüchtert von Deutschland
Als wir noch am Vormittag durch die Zelte spazieren und uns möglichst unauffällig über den einen oder anderen Mangel ärgern, treffen wir einen 20-Jährigen, der uns mit einem breiten Grinsen begrüßt, weil er die Freundin neben mir erkannt hat. Er ist gerade aus dem Bett gestiegen, hat sich noch nicht einmal das Gesicht gewaschen, ist aber gut gelaunt. Er ist ein offener, sehr offener Mensch, das ist der erste Eindruck und wir wollen unbedingt mit ihm reden. Etwas verlegen meint er, dass er sich erst einmal sammeln müsse. „Aber an sich sehr gerne, kommt doch bei mir vorbei und ich koche Chai“, fügt er schnell hinzu. Wir schlendern eine Weile hin und her und finden ihn dann wieder in seinem Zimmer: Er hat Chai und etwas zum Knabbern vorbereitet. Sein Zimmer ist trotz der Enge und der herumliegenden Kleidung sehr sauber und aufgeräumt. An den Wänden hängen die deutschen Wörter und Sätze, die er gerade lernt. Seine ganze Geschichte, vom Dorf im Norden Afghanistans über den Iran und die Türkei bis zum Fluchtweg und Deutschland, erzählt er fast eine Stunde lang lächelnd und manchmal in schallendes Gelächter ausbrechend – nur an zwei Stellen kommen ihm (immer noch lächelnd) die Tränen. Als sie auf engstem Raum mit kaum Luft in einem Schiff das Mittelmeer überquerten, hatte er Angst um sein Leben und das Leben der vielen Familien: „Das war das Schlimmste, was ich je erlebt habe.“
Als er endlich nach Deutschland schaffte, war er so glücklich und motiviert, dass er trotz dieser tödlichen Reise sofort die Motivation hatte, Deutsch zu lernen, so dass er sich bereits nach einem Jahr problemlos auf Deutsch unterhalten kann. „In letzter Zeit“, sagt er und vermeidet dabei Blickkontakt, „habe ich aber Angst und weiß nicht, wohin damit. Man hört ständig von Abschiebungen und ich frage mich jede Nacht, ob mir das auch passieren könnte.” Über Deutschland will er sich eigentlich nicht beschweren, da sein Asylverfahren noch läuft und auch er nicht negativ auffallen will, aber zwischendurch erzählt er schnell von herzlichen Begegnungen in der Türkei trotz aller Probleme und der Wirtschaftskrise und fügt hinzu: „Uns wurde immer gesagt, dass Deutschland schön ist und dass man hier leben sollte. Ja, es gibt viele schöne Dinge hier, aber ich verstehe nicht, warum die Menschen so kalt sind. Es ist so schwer, sich zu verbinden.“ Er wirkt erschöpft und ernüchtert von seinen Versuchen.
Das Schönste in Deutschland: Die Klinik
Das Unternehmen „Saxonia Catering“ hat einen lockeren Umgang mit Beschwerden – ob von Bewohner:innen oder Mitarbeiter:innen. Man nimmt sie auf und unternimmt nichts. Ab und zu sagen sie: „Danke, wir kümmern uns darum“ – dann passiert nichts. Sie arbeiten nach dem gleichen Profitprinzip wie ihresgleichen: Je weniger sie den Bewohner:innen geben, desto mehr Gewinn können sie erzielen. Wie in vielen Unterkünften von European Homecare GmbH gibt es auch hier instabile Metallbetten und darauf sehr dünne Matratzen – die Bewohner:innen spüren das Bettgestell beim Schlafen. Eine Gemeinschaftsküche haben sie gebaut – in einem lieblosen Zelt und ohne ausreichend Platz in den Kühlschränken.
In den Zelten gibt es keinerlei Isolation: Im Winter frieren die Bewohner:innen und im Sommer müssen sie sich in wenigen Schattenplätzen aufhalten, damit ihnen in den Zelten nicht noch das Gehirn kocht. Die Kinder, die hier und da herumlaufen, haben keinen Platz und werden nicht altersgerecht betreut – sie werden in der Regel auch nicht oder erst nach sehr langer Zeit eingeschult. Unter den Kindern sind auch solche, die dringend Zuwendung brauchen, wie das elfjährige Mädchen, das in seinem kurzen Leben schon drei Länder, ein schweres Erdbeben und unzählige Asylunterkünfte hinter sich hat und im Camp vor Langeweile fast platzt. Auch Jugendliche: Eine 19-Jährige aus Venezuela erzählt, dass sie nach dem Camp psychische Probleme bekam und zwei Wochen in der Klinik verbringen musste und fügt hinzu: „In der Klinik waren meine schönsten Tage in Deutschland.”
Die Hoffnung von Marilyn
Gibt es Hoffnung? Ja, es gibt sie, aber sie liegt nicht bei den Unternehmen und den Behörden. Wie ein 24-jähriger Iraker betont: „Einen Antrag auf Umverteilung zu stellen, ist Betteln. Man muss sich so klein wie möglich machen, wenn man etwas von den Ämtern will.“ Doch darüber hinaus sind die Menschen hier weiterhin von ihrer Hoffnung getrieben: Von der Hoffnung auf ein besseres, sicheres Leben, die sie trotz der tödlichen Reise hierher gebracht hat. Marilyn Tineo aus Venezuela verkörpert diese Hoffnung, sei es durch ihr Auftreten voller lächelnder Freundlichkeit oder durch ihre malerischen Reflexionen, die sie mit uns teilte. Sie führt ein Tagebuch mit Zeichnungen, seit sie Venezuela verlassen hat – neben einigen Zeichnungen stehen die Daten der wichtigsten Termine in Deutschland, wie die Anhörung beim BAMF oder die Untersuchung beim Arzt.
Sie macht sich viele Sorgen um ihre Kinder und sagt, dass sich ihre Gefühle trotz der vielen Monate nicht beruhigt haben – wie auch, unter diesen Umständen? Wenn es ihr gelingt, sich von den Zukunftsängsten und der Angst vor einer möglichen Abschiebung abzulenken, denkt sie an ihren Hund, den sie zurücklassen musste, und zeigt uns ein Foto von ihm, wie er auf dem Koffer sitzt, als wolle er ihre Abreise verhindern. Sie erlaubt uns, ihr Tagebuch und ganze Zeichnungen zu fotografieren, denn sie will gehört werden, aber unser Angebot, sie auch Menschen anzubieten, die sie vielleicht kaufen und sie so in dieser schwierigen Situation unterstützen wollen, lehnt sie ab: „Ich kann mich nicht von ihnen verabschieden – ich muss erst meine Gefühle beruhigen, bevor ich so etwas tue.”
Eine Hölle für die Grausamen!
Die Gefühle zu beruhigen – das ist das Schwierigste. Hilft es, zu vergessen und einfach zu akzeptieren, was ist? Soll man sich jeden Tag wiederholen, was man schon alles geschafft hat – zum Beispiel, dass man trotz jahrelanger Flucht in Deutschland angekommen ist? Aber wie, wenn man keine Tür hat und im Winter frieren muss? Wo soll man all das verarbeiten, was diese Welt einem antut? Wenn man sich herausbewegt und Freund:innen sucht, ist man mit der Kälte der Deutschen konfrontiert, die noch mit einem selbstgefälligen Rassismus geschmückt ist. Bleibt einem da nur die Wut, oder zieht man sich einfach zurück und arbeitet, arbeitet, arbeitet? Was will dieses Leben und seine vermeintlichen Herren von den Geflüchteten?
Viele Fragen schweben über unseren Köpfen, während wir uns langsam nach draußen bewegen. Was machen die Verantwortlichen des Betreibers oder der Behörden gerade, frage ich mich. Sind sie vielleicht gerade beim Abendessen mit einem “spannenden und vor allem leckeren Live-Cooking-Erlebnis”, wie es auf der erwähnten Website so schön heißt? Wir wissen es nicht – aber es sind Momente, in denen man sich die Existenz eines Gottes wünscht – und eine Hölle für die Grausamen.
PS: Dies ist nicht der letzte Text zu den Unterkünften von “Saxonia Catering” sowie deren Bewohner:innen. Die Geschichten, die uns anvertraut wurden, und die weiteren Eindrücke vom Camp werden wir nach und nach teilen.
Quelle: Sächsischer Flüchtlingsrat